Rosamund Lupton | Lautlose Nacht

Rosamund Lupton | Lautlose Nacht

Die Kälte war ein Schock. Sie hatte gedacht, Kälte sei weiß wie Schnee oder vielleicht blau wie der Punkt auf einem Kaltwasserhahn. Aber diese Kälte entsprang einem Ort der Nacht und war schwarz, ohne jegliche Farbe oder Licht.
Ein gellendes Kreischen ertönte, dann begriff sie, dass es der Wind war, der Neuschnee über den festgefahrenen Schnee am Boden trieb, weiße Geister, die über Straße und Ödnis tanzten. (Auszug Seite 198)

Spannender Roadtrip

Die englische Astrophysikerin Yasmin Alfredson fliegt mir ihrer zehnjährigen Tochter Ruby nach Alaska, um ihren Mann zu besuchen. Matt Alfredson arbeitet dort als Naturfilmer und soll sich zuletzt in einem kleinen Inupiat-Dorf am Polarkreis aufgehalten haben. Als die beiden in Fairbanks am Flughafen ankommen, erfahren sie durch die Polizei, dass bei einer katastrophalen Explosion alle Dorfbewohner ums Leben gekommen sind. Obwohl alles darauf hindeutet, dass auch Matt unter den Opfern ist, will Yasmin das nicht wahrhaben.

Da alle Flüge gestrichen wurden, macht sie sich gegen alle Widerstände auf den lebensgefährlichen Weg über den Highway nach Anaktue, um nach ihrem verschollenen Mann zu suchen. Ihre Tochter nimmt sie mit, denn sie kann die Kleine nicht da lassen, da Ruby gehörlos ist. Die beiden finden in einem gutmütigen Trucker eine Mitfahrgelegenheit. Bei einer kurzen Pause auf einem Rasthof erfährt Yasmin von anderen Truckern, dass sich unter Anaktue Tausende Tonnen Schieferöl befinden sollen. Die Dorfbewohner lehnen aber die Fracking-Pläne, ein umstrittenes Verfahren der Erdgas- und Erdölförderung ab. Als ihr Fahrer ausfällt, kapert Yasmin einfach den Sattelzug und macht sich mit ihrer Tochter auf den Höllenritt durch die Eiswüste. Das ist der Ausgangspunkt dieses spannenden Roadtrips.

Extremsituationen

In dieser Extremsituation, bedingt durch die eisige Kälte und endlose Dunkelheit steuert Yasmin den 50-Tonnen-Truck auf fünf Achsen über vereiste Flüsse, durch Schneestürme und Lawinen und der daneben verlaufenen Transalaska-Pipeline. Zwischendurch muss sie immer wieder aussteigen und die Eisklumpen von den Reifen abschlagen sowie die Scheinwerfer säubern.

Beim Kriechen stieß sie an den Hammer, der ihr aus der Tasche gefallen war. Sie hob ihn auf und wühlte sich unter den Laster. Hier war es windgeschützt. Ihre Augen waren zugefroren – die Wimpern klebten zusammen und ließen sich nicht mehr trennen. Sie rieb sich das Gesicht am Ärmel, wieder und wieder, aber es halft nichts. Das einzig Warme, was sie besaß, war ihr Atem. (Seite 221)

Verschlimmert wird die Situation noch durch einen bedrohlichen Verfolger. Ein unbekannter Tankwagen hält sich immer im gleichen Abstand hinter ihnen auf. Steven Spielberg lässt grüßen! Ich musste sofort an seinen Kult-Thriller Duell aus den 70er Jahren denken, in dem ein Reisender ohne erkennbaren Grund von einem anonymen Tankwagen verfolgt und drangsaliert wird. In Alaska zieht auch noch ein orkanartiger Schneesturm auf, der die Temperaturen unter minus vierzig Grad fallen lässt. Das ist derart gefährlich, dass die erfahrenen Trucker, die auf der Eispiste unterwegs sind, eine Pause einlegen. Nur Yasmin verlässt die Straße nicht und fährt weiter und begibt sich und ihre Tochter in große Gefahr. Außerdem erhält Ruby auf ihrem Notebook kryptische Mails mit toten Tieren.

Rubys Welt

Während die beiden der Eishölle des tosenden Polarsturms trotzen, werden einige Rückblicke auf die kriselnde Beziehung von Yasmin und Matt geworfen. Richtig interessant wird es durch die Erzählperspektive der gehörlosen Ruby, die immer abwechselnd eingeschoben werden. Passagen aus Kindersicht finde ich oft nicht authentisch. Aber hier ist der Einblick in die Welt der aufgeweckten Zehnjährigen wirklich gelungen und Rubys Handicap bringt neue und interessante Elemente in den Handlungsverlauf.

Zu ihrem Vater hat sie eine engere Beziehung als zu der strengeren Mutter. Yasmin ermahnt sie ständig, ihre mühsam erlernte Stimme zu benutzen. Matt dagegen akzeptiert, dass ihr das unangenehm ist, und hat ihr das Twittern beigebracht und will mit ihr einen Blog starten. Das Notebook hat sie immer dabei, denn es hilft ihr bei der Kommunikation mit anderen. Ruby twittert in regelmäßigen Abständen, wie sich Sprache anfühlt, wenn man sie gebärden muss. Sie sinniert darüber, wie Worte, die man nicht hört und nicht laut ausspricht, schmecken oder riechen könnten. Dadurch gelingt es der Autorin, Gehörlosigkeit nicht als Behinderung, sondern als eine andere Form der Wahrnehmung zu begreifen.

Fazit

Große Realitätsnähe kann man der Autorin wahrlich nicht vorwerfen. Dafür ist der Plot auch an einigen Stellen zu konstruiert. Der Thriller ist auch nichts für den hartgesottenen Liebhaber des hardboiled Krimis, dazu ist die Spannung zu kuschelig und die Dramaturgie an einigen Stellen zu berechnend. Trotzdem ist Rosamund Lupton mit Lautlose Nacht ein ansprechender Mainstream-Thriller gelungen, der seine Spannung aus dem aussichtslosen Kampf gegen das unwirtliche Klima zieht.

Die Autorin punktet mit spektakulären Schauplätzen und findet in ausgereifter Sprache immer neue und fast schon poetische Bilder, die nicht nur die Bedrohung und Gefahr durch die Naturgewalten, sondern auch deren Schönheit beschreiben. Die gnadenlose Kälte, Weite und Stille Alaskas kann man geradezu nachfühlen. Ihr gelingt es hervorragend, die riesigen Dimensionen Alaskas lebendig werden zu lassen. Ohne Anzeichen von Zivilisation, das Fehlen von jeglichen Gerüchen und Farben wirkt die arktische Tundra mitunter furchterregend.

Die Autorin hat sich über viele unterschiedliche Themen gut informiert. Die Gebärdensprache, die Inupiag-Kultur, die Natur und Tiere Alaskas oder die Machenschaften der Ölkonzerne am Polarkreis werden geschickt in den Krimiplot eingewebt, ohne ihn zu überfrachten.

Rosamund Lupton wurde 1964 in England geboren und lebt aktuell mit ihrer Familie in London. Nach einem Studium in Cambridge arbeitete sie als Literaturkritikerin und schrieb zahlreiche Drehbücher. Ihr Debütroman Liebste Tess war ein New York Times-Bestseller. Der vorliegende Thriller heißt im Original The Quality of Silence.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

 

Lautlose Nacht | Erschienen am 11. November 2016 im dtv Verlag
ISBN 978-3-423-26121-0
384 Seiten | 14,90 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

0 Replies to “Rosamund Lupton | Lautlose Nacht”

  1. Vor einiger Zeit hatte ich das Hörbuch dazu gehört und war sehr angetan. Hin und wieder gab es zwar einige Längen und unrealistische Momente für mich, aber im Großen und Ganzen fand ichs gut. Das Gefühl der Kälte und der Ausweglosigkeit kam gut rueber.
    Liebe Grüße

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