Ian McGuire | Der Abstinent

Ian McGuire | Der Abstinent

Einen langen Augenblick stehen die drei Männer Seite an Seite unter dem schweren Eichenbalken wie grob gehauene Karyatiden, getrennt und doch vereint, dann, erschreckend plötzlich, sind sie weg. Anstelle ihrer lebendigen Leiber bleiben nur drei stramme Stricke, wie lange, lotrechte Kratzer auf der Gefängnismauer. (Auszug Seite 16/17)

Ian McGuires neuer Roman führt in den Norden Englands zur Zeit der industriellen Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts. In Manchester liefern sich Anhänger einer irischen Unabhängigkeitsbewegung einen unerbittlichen Kampf mit der örtlichen Polizei.
Schon die ersten Seiten ziehen den Leser mitten in eine gewaltvolle Szenerie, in der drei Iren öffentlich hingerichtet werden. Die drei sind Mitglieder der irischen Unabhängigkeitsbewegung „Fenians“ und sollen bei einem Überfall auf einen Gefangenentransport einen Polizisten erschossen haben.

Die Rebellen werden von den Fenians zu Märtyrern erklärt. Man nimmt Kontakt zu einem Kriegsveteranen amerikanischer Abstammung namens Stephen Doyle auf. Der Söldner aus dem US-Bürgerkrieg, bekannt für seine Skrupellosigkeit kommt mit dem Schiff aus New York und soll den irischen Widerstand in Manchester organisieren. Genau vor diesem Rachefeldzug hatte der besonnene Constable James O’Connor, erst vor kurzem aus Dublin nach Manchester strafversetzt, gewarnt. Der titelgebende Abstinent hatte nach dem frühen Tod seiner Frau und seines Kindes den Halt verloren und seine Trauer im Whiskey ertränkt. Inzwischen trocken versucht er hier in der englischen Großstadt einen Neuanfang. Im Polizeirevier gilt er allerdings als Außenseiter und hat als Ire einen schweren Stand. Er sitzt zwischen allen Stühlen, wird von den englischen Kollegen sowie von den Unabhängigkeitskämpfern misstrauisch beäugt.

Sogar Fazackerly, bei Weitem noch der angenehmste, behandelt ihn meist nur als lustiges Kuriosum, als sonderbare Abnormität, wie einen durchreisenden Apachen oder einen Tanzbären. (Auszug Seite 8)

Ian McGuire knüpft an eine historisch überlieferte Begebenheit vom 23. November 1867 an und spinnt seine Geschichte um den erbitternden Kampf zweier Männer. Dabei wirken die historischen Hintergründe des Romans sehr gut recherchiert und verleihen dem Buch einen besonderen Rahmen.

Genau wie in seinem für den Man-Booker-Prize nominierten Roman „Nordwasser“ bedient sich McGuire einer bildreichen, atmosphärisch dichten fast poetischen Sprache, um das ärmliche Milieu und die ungeschönten Umstände zu schildern, die mich sofort in die Geschichte hineinzog. Die große Stärke des Autors sind seine realistischen Beschreibungen der perspektivlosen Lebenssituationen der arbeitenden Bevölkerung. Dabei ist er immer gut, wenn es um die Beleuchtung des Alltäglichen geht, ständig wird gegessen, getrunken und geschlafen. Er guckt hinter die Kulissen und offenbart die düsteren Ecken einer Industriestadt im 19. Jahrhundert. Man kann den Dreck im Pub, in den Häusern, im Gefängnis, beim Hundekampf oder später auf einer Farm in den USA praktisch spüren und riechen. Obwohl die Menschen hart arbeiten, reicht es hinten und vorne nicht und viele leiden unter Hunger. Durch die zahlreichen Iren, die mit der Hoffnung auf ein besseres Leben nach England gekommen sind, wird der Konflikt zwischen den Nationalitäten befeuert und es brodelt gewaltig.

Die Figuren sind weit davon entfernt, perfekt zu sein. Besonders O’Connor agiert das ein oder andere Mal sehr ungeschickt und macht Fehler, die sogar zum Tod einiger Menschen führen. Über die Tatsache, dass er seine Informanten namentlich in ein Notizbuch schreibt, was der gnadenlose Auftragskiller dankend annimmt, konnte ich nur den Kopf schütteln. Dass er dann auch noch rückfällig wird und seine Pflichten vernachlässigt, konnte man erahnen. Das lässt ihn zwar sehr menschlich erscheinen, aber der Autor gönnt dem Leser wirklich keinen Lichtblick. Auch kommen der Geschichte einige Zufälle zur Hilfe. O’Connors Neffe kommt aus New York und ist auf dem Schiff ausgerechnet Doyle am Spieltisch begegnet. Den unerfahrenen aber übermotivierten Jungen jetzt als Spitzel einzusetzen ist wirklich nicht besonders klug und er bringt sich und andere in Lebensgefahr. Der Constable dagegen scheint wie ein Getriebener, der seine Pflicht tun möchte und nicht aus seiner Haut kann. Ohne Unterstützung kämpft er wie gegen Windmühlen. Den tiefen Fall von O’Connor mitansehen zu müssen, ist wirklich sehr deprimierend.

In vielen deftigen Dialogen blitzt das Talent des britischen Autors auf. Der promovierte Literaturwissenschaftler hat mit „Der Abstinent“ einen aus meiner Sicht packenden und bewegenden Roman um Rache und Vergeltung vor der Kulisse des irischen Unabhängigkeitskampfes geschrieben. Der äußerst überraschende Showdown ist bitter und nur schwer zu ertragen, aber in seiner Unvermeidlichkeit passend zum Rest des Romans.

Funfact: „Nordwasser“ wird gerade von der BBC in Form einer Serie mit Colin Farrell in der Hauptrolle verfilmt.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Der Abstinent | Erschienen am 23. April 2021 im dtv Verlag
ISBN 978-3-423-28272-7
336 Seiten | 23,00 Euro
Originaltitel : The Abstainer
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension zu Ian McGuires Roman „Nordwasser“

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