Friedrich Dürrenmatt | Das Versprechen (Es geschah am hellichten Tag ►)
„Morgen abend dürfen Sie Ihr Gritli sehen“, versprach der Kommissär hilflos. „Das Kind wird dann aussehen, als ob es schliefe.“
Da begann plötzlich die Frau zu sprechen.
„Wer ist der Mörder?“, fragte sie mit einer Stimme, die so ruhig und sachlich war, daß Matthäi erschrak.
„Das werde ich schon herausfinden, Frau Moser.“
Die Frau schaute ihn nun an, drohend, gebietend. „Versprechen Sie das?“
„Ich verspreche es, Frau Moser“, sagte der Kommissär, auf einmal nur vom Wunsche bestimmt, den Ort zu verlassen.
„Bei Ihrer Seligkeit?“
Der Kommissär stutzte. „Bei meiner Seligkeit“, sagte er endlich. Was wollte er anders. (Auszug Seite 19)
Im Wald bei Mägendorf, einem kleinen Dorf in der Nähe von Zürich, wird die Leiche der kleinen Gritli Moser vom Hausierer von Gunten aufgefunden. Dieser ruft zwar die Polizei, gerät aber direkt selbst unter Verdacht, da er wegen eines Sittlichkeitsvergehens bereits vorbestraft ist. Von Gunten wird unter Druck gesetzt, gesteht schließlich und begeht kurz darauf in seiner Zelle Selbstmord. Somit scheint der Mörder gefunden.
Allerdings kommen Kommissar Matthäi Zweifel, denn der Mörder hat vermutlich zwei weitere ähnliche Taten begangen. Matthäi hatte die Ermittlungen aufgenommen und den Hausierer eigentlich als Täter ausgeschlossen. Beim Verhör war der Kommissar, der kurz vor der Abreise nach Jordanien steht, nicht anwesend. Er bittet darum, die Ermittlungen wieder aufnehmen zu dürfen. Als ihm dies verwehrt wird, quittiert er den Dienst und ermittelt privat. In Matthäi reift schließlich die Idee, dass er dem Mörder eine Falle stellen muss – mit einem kleinen Mädchen als Lockvogel.
Diese Besprechung müsste an dieser Stelle mit dem Film beginnen, denn eigentlich passt der Begrifft „verfilmt“ bei Das Versprechen und Es geschah am hellichten Tag nicht ganz, weil es tatsächlich zuerst den Film und dann den Roman gab. Autor Friedrich Dürrenmatt wurde vom Schweizer Filmproduzenten Lazar Wechsler engagiert, ein Drehbuch für einen didaktischen Film zu schreiben, in dem es um Sittlichkeitsverbrechen an Kindern geht. Als Regisseur wurde Ladislao Vajda, für die Hauptrolle des Kommissär Matthäi Heinz Rühmann verpflichtet. Rühmann konnte durchsetzen, dass „sein“ Drehbuchautor Hans Jacoby am Drehbuch mitwirken durfte.
Im Frühjahr 1958 begannen die Dreharbeiten, am 4. Juli 1958 hatte der Film bei der Berlinale Premiere. Dürrenmatt hatte jedoch am fertigen Film einiges auszusetzen. Vor allem war er mit dem Ende nicht zufrieden, so dass er den Plot entscheidend veränderte und nur wenige Monate später Das Versprechen veröffentlichte – mit dem Untertitel „Requiem auf den Kriminalroman“.
Dürrenmatt baut in seinen Roman eine Rahmenhandlung ein, in der ein Ich-Erzähler und Kriminalschriftsteller (er selbst?) vorkommt. Mit feiner Selbstironie erzählt er von einem nicht ganz erfolgreichen Vortrag in Chur, bei dem er den ehemaligen Kommandanten der Zürcher Kantonspolizei, Dr. H., kennenlernt. Dieser nimmt ihn im Auto mit zurück nach Zürich. Unterwegs halten sie an einer Tankstelle. Dort sitzt ein heruntergekommener, offenbar alkoholisierter Mann – der ehemalige Kommissar Matthäi. Dr. H. erzählt nun in einer Binnenerzählung dessen Geschichte, die anders verläuft als im Film, in dem der Kommissar den Mörder erfolgreich ermittelt.
Interessant daran ist vor allem Dürrenmatts Bruch mit den gängigen Genremustern, die er dann auch von seiner Figur Dr. H. vortragen lässt. Dr. H. kritisiert den Kriminalautor und Ich-Erzähler stellvertretend für seine Zunft für die Trivialität und die dramaturgische Simplifizierung der Kriminalromane, in denen am Ende der Verbrecher immer seiner gerechten Strafe zugeführt wird. Er vermisst Zufall und Komplexität. Da ist sie, die Genredebatte, ob Krimi ernsthafte oder nur unterhaltende Literatur ist, und sie ist bis heute nicht totzukriegen. Am Ende gibt Dürrenmatt dann noch einen zynischen Seitenhieb auf Es geschah am hellichten Tag, als Dr. H. dem Ich-Erzähler mögliche dramaturgisch-schematische Filmendungen vorschlägt, bevor er die wahre Schlusspointe erzählt, die von einem großen Zufall geprägt ist.
Dürrenmatt erzählt diese Geschichte äußerst kompakt und komprimiert, doch von einer ungeheuren Intensität. Faszinierend sind besonders einzelne Szenen, die aus der Gesamtgeschichte herausragen, so etwa das Versprechen von Mätthäi an die Mutter, wie Matthäi den Dorfbewohnern die Lynchjustiz ausredet oder sein Gespräch mit dem Psychiater. Dabei zeichnet Dürrenmatt vor allem das Porträt Matthäis, der vom hochintelligenten, leidenschaftslosen, rational-formellen Beamten in die Obsession, in die Psychose hineingleitet und als Wrack endet.
Dieses Schicksal musste Heinz Rühmanns Figur in Es geschah am hellichten Tag nicht fürchten. Der Rühmannsche Matthäi grämt sich, bekommt Selbstzweifel, aber vom Wahnsinn des Roman-Matthäi ist das noch meilenweit entfernt. Überhaupt merkt man im direkten Vergleich die unterschiedlichen Ansätze von Buch und Film, letzterer ist an manchen Stellen doch etwas padägogisch (Kinder, nehmt nichts von Fremden!) und fokussiert stärker die Ermittlung. Der Matthäi im Film ist dann auch weniger von der moralischen Verpflichtung, den Mörder zu finden, eingenommen als mehr vom kriminalistischen Ehrgeiz. Beispielhaft sei hier die Szene auf dem Flughafen genannt, in der Matthäi den Flug nach Jordanien nicht antritt. Im Buch wird er durch die auf der Aussichtsterrasse anwesende Kinderschar an sein Versprechen und seine Verpflichtung erinnert. Im Film kommen auch die Kinder vor, allerdings verlässt Matthäi erst das Flugzeug, als er eine Spur entdeckt: Die Trüffel seines Sitznachbarn könnten die kleinen Igel auf Gritli Mosers Bild sein.
Rühmann spielt den Matthäi souverän, aber für mich ohne echten Höhepunkt. Ganz klar in den Schatten gestellt wird er von zwei Kollegen, die beide nur eine halbe Stunde im Film auftauchen: Michel Simon als verzweifelter, unter Verdacht geratener Hausierer Jacquier und Gert Fröbe als psychisch-gestörter Kindermörder Schrott. Für Fröbe sollte dieser Film ein Sprungbrett nach Übersee sein, 1964 spielte er den legendären Bond-Schurken Auric Goldfinger.
Eine der stärksten Szenen des Films ist für mich die erste Begegnung Schrotts mit der kleinen Annemarie, die er im Rückspiegel seines Buicks beobachtet. Dabei fährt er sogar auf die Tankstelle, um sie weiter betrachten zu können, währenddessen Matthäi seinen Wagen betankt und abschließend knurrt: „War ja fast noch voll.“
Der Stoff wurde übrigens noch einige Male verfilmt, am bekanntesten ist sicherlich die Verfilmung unter dem Originaltitel The Pledge von Sean Penn. Dieser Film ist auch tatsächlich eine engere Verfilmung des Romans. Penn versetzt die Handlung aus der Schweiz nach Nevada, Jack Nicholson spielt den kurz vor dem Ruhestand befindlichen Kommissar Jerry Black.
Insgesamt war dieses Buch-Film-Doppel sehr interessant, da sich trotz gleichen Stoffes beide Werke deutlich voneinander unterscheiden. Der Film Es geschah am hellichten Tag ist dabei das konventionelle Werk, das sich der Aufklärung eines Verbrechens widmet, wenn auch mit ungewöhnlichen Mitteln, insgesamt aber handwerklich gut gemacht. Der Roman Das Versprechen hingegen ist ein klares Statement gegen das Idealschema des Kriminalromans, gegen die Rationalität und das Streben nach Wiederherstellung der Ordnung. Dabei fasziniert der Roman durch seine psychologischen Komponenten und – bei aller Kompaktheit – durch herausragende Einzelszenen.
Rezension und Foto von Gunnar Wolters.
Das Versprechen | Erstmals erschienen 1958
Die gelesene Ausgabe erschien 2006 im Rahmen der Süddeutsche Zeitung Kriminalbibliothek
Aktuell erhältlich als Taschenbuchausgabe beim Diogenes Verlag
ISBN 978-3-25722-812-0
160 Seiten | 10.- Euro
Bibliographische Angaben & Hörprobe
Die DVD erschien zuletzt am 19. Oktober 2012
Laufzeit: 95
FSK 12
circa 8.- Euro
Trailer zum Film
Diese Rezension erscheint im Rahmen der Blogkooperative Verfilmt-Spezial.
7 Replies to “Friedrich Dürrenmatt | Das Versprechen (Es geschah am hellichten Tag ►)”
Toller Vergleich und ausgezeichnetes Fazit zu Film und Roman. Als Kind sah ich die Verfilmung und war danach natürlich fürchterlich verängstigt, weil Gerd Fröbe einfach auch sehr gut den Kindermörder schickt. Als ich Jahre später das Dürrenmatt-Buch las, brachte ich das gedanklich gar nicht mit dem hellichten Tage zusammen.
„The Pledge“ finde ich als Film dagegen einfach großartig, Jack Nicholson ist prädestiniert für den Kommissar, der sich mehr und mehr verrennt…
Die übliche Frage, ob der Film das Buch adäquat umsetzt, kann hier natürlich entfallen. Dafür sind die Ansätze zu unterschiedlich trotz des gleichen Stoffes. Das ist aber gerade das Faszinierende.
„The Pledge“ ist da natürlich eine „echte“ Verfilmung. Hätte ich mir vielleicht auch nochmal ansehen sollen, ich habe den Film nicht mehr so präsent.
Hier war ich wiederum sehr gespannt auf deine Besprechung, den Film habe ich nämlich wie meine Vorrednerin in jüngeren Jahren gesehen und fand Gert Fröbe fürchterlich erschreckend, wusste die Qualität seines Spiels damals aber noch nicht zu schätzen. 😉 Hast du eigentlich in diesem Fall zuerst den Roman gelesen oder erst den Film geschaut? In jedem Fall finde ich die Besprechung großartig, das ist wirklich eine gelungene und vielschichtige Gegenüberstellung!
Danke dir. Den Film habe ich vor zig Jahren mal gesehen, so dass ich nur die grobe Story noch wusste. Für die Besprechung habe ich dann tatsächlich zuerst das Buch gelesen. Wäre aber in diesem Fall umgekehrt korrekter gewesen. 😉
Ich hätte es vermutlich auch so gemacht, schon rein aus Gewohnheit. Werde mir dieses Doppel aber auch mal auf die Liste setzen. 🙂
Der Stuttgarter Tatort „STAU“ des SWR (2017) bringt gleich zu Beginn mit den drei gemalten Kinderbildern des Tatort-Logos in der Kita und am Ende mit dem großen schwarzen Tatfahrzeug schließlich die Erkenntnis, dass das Phantombild des dreijährigen Zeugen (23. Minute, a.a.O.) dann wohl tatsächlich doch der Realität entsprach, in diesen Details eine moderne Reminiszenz an den großartigen Klassiker „Es geschah am hellichten Tag“ von 1958, wo ebenfalls Kinderzeichnungen als Teil des Ganzen ein wesentlicher Schlüssel zur Auflösung waren und ebenso das damals von Gritli Moser gemalte Auto ihres späteren Mörders wiederum eine markante schwarze Limousine war.