Remy Eyssen | Schwarzer Lavendel

Remy Eyssen | Schwarzer Lavendel

Schwarzer Lavendel – Provence-Krimi mit einem ungewöhnlichem deutschen Ermittler

Dieser zweite Roman der „Lavendel“-Reihe um Dr. Leon Ritter ist meine erste Begegnung mit dem Rechtsmediziner aus Frankfurt, den es in die Provence verschlagen hat und der inzwischen Wurzeln geschlagen hat in der Ortschaft Le Lavandou. Er hat die Chance ergriffen, die neu eingerichtete Pathologie im Kankenhaus St. Sulpice zu übernehmen, auch um seiner Vergangenheit zu entfliehen und den Tod seiner Frau zu verarbeiten, die bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Viel mehr muss der neue Leser nicht wissen über die Vergangenheit der Hauptpersonen, und viel mehr wird auch nicht erwähnt, nur ganz am Rande ein tiefgreifendes Ereignis, die Entführung der Tochter von Isabelle Morell, was bei der alleinerziehenden Mutter ein Trauma hinterlässt.

Captaine Isabelle Morell

Capitaine Isabelle Morell ist die stellvertretenden Polizeichefin der örtlichen Gendarmerie nationale und Leon wohnt bei ihr zur Untermiete, tatsächlich aber mutet der Alltag der kleinen Wohngemeinschaft eher wie typisches Familienleben an, zumal sich der Gast aus Deutschland wie ein Vater um Lilou, die fünfzehnjährige Tochter seiner Zimmerwirtin, kümmert. Gleichzeitig hat er die schwierige Rolle als Mittler in ständigen Mutter-Tochter Konflikten und ganz allmählich bahnt sich offenbar eine private Beziehung zwischen Leon und Isabell an. Dabei schildert Eyssen das Privatleben der drei einfühlsam, authentisch, mitunter augenzwinkernd aber immer ohne den vielleicht naheliegenden Kitsch, die häuslichen Scharmützel sind durchaus realistisch, meist amüsant, lockern den Krimi auf, wobei die Anteile von familiärem und beruflichem Umfeld sehr gut ausgewogen sind.

Der aktuelle Fall

Wichtiger Nebenschauplatz ist diesmal ein romantisches Häuschen mit eigenem Weinberg, das Leon von seiner Tante vermacht bekommt, und das er sich zunächst mit List und Tücke von der Gemeinde erstreiten muss, die eigene Pläne mit dem Grundstück hat. Ganz in der Nähe seines neuen Anwesens liegt versteckt auf einem verwilderten, zugewucherten Stück Land eine Hütte, eine Art Schuppen, und hier wird eine tote Frau gefunden, eine Mumie! Kein Relikt aus der Pharaonenzeit, auch keine uralte Moorleiche, sondern eine Tote aus der jüngsten Vergangenheit und offensichtlich ein Mordopfer, welches – das stellt Leon bei der Obduktion schnell fest – auf grausame Weise bei lebendigem Leib konserviert wurde, indem man ihr Blut durch Formalin ersetzte. Bald darauf stößt Leon auf alte Berichte, wonach vor Jahren in der Universität von Aix ebenfalls eine Mumie gefunden wurde, und auch damals wurde eine junge Frau auf die gleiche, grausame Art umgebracht.

Aus der Sicht des Täters

Und, was zunächst nur der Leser wissen kann: Der Täter ist gerade dabei, einen neuen Mord zu begehen. Im Prolog, inzwischen augenscheinlich unverzichtbares Stilmittel aktueller Kriminalromane, erleben wir eine junge Frau als hilfloses Ofer in einer verzweifelten Zwangslage als Gefangene eines bestialischen, offenbar unberechen-baren, psychopathischen Gewaltverbrechers. Das ist schaurig, gruselig und hat viel von einer Horror-Story, in der Folge allerdings wartet Remy Eyssen eher mit Psycho-Elementen auf, unterschwellig und unmerklich schleicht sich ein gewisses Unbehagen ein, das Böse und der Böse sind noch nicht greifbar, auch wenn man ahnt, was passiert ist und was passieren wird: Anna Winter, eine Studentin aus Hamburg, vermisst ihre Schwester Susan, verzweifelt sucht sie Hilfe bei Capitaine Morell, aber die hat keine Anhaltspunkte für ein Verbrechen und muss sich zunächst zurückhalten.

Über die Figuren des Romans

Leon hat als Rechtsmediziner den Vorteil, völlig unabhängig zu sein von der Gendarmerie, ihren Strukturen und organisatorischen Fesseln. Er ist ein absoluter Fachmann, seine Kompetenz unbestritten, er weiß, was er kann und kann es sich erlauben abgeklärt, ja „cool“ herüberzukommen, was er besonders gern gegenüber dem aufgeblasenen Leiter des Ortsreviers ausspielt, der ihn gerne in die Schranken weisen würde und wann immer er eine Möglichkeit sieht die Untersuchungsergebnisse und Schlussfolgerungen des Rechtsmediziners anzweifelt. Dieser Commandant Thierry Zerna wird als ausgesprochener Kotzbrocken inszeniert und noch dazu als tumb und unfähig hingestellt, in einer völlig überzogenen Art und Weise, die unangenehm und ärgerlich ist und vor allem unnötig, die Charakterzeichnung könnte durchaus ein wenig subtiler ausfallen. So, wie das bei vielen anderen höchst interessanten Figuren des Romans ausgezeichnet gelingt, Eyssen erfindet Typen, die Spaß machen und neugierig, die überzeugen, weil sie echt sind, mit Makeln und Mängeln, aber wahrhaftig, wenn auch nicht immer aufrichtig.

Stereotypen

Da stört es dann nicht so sehr, dass einige Abschnitte mit Stereotypen, mit abgenutzten oder abgegriffenen Szenarien und Dialogen aufwarten, die vorhersehbar weil wohlbekannt sind und durch ihre Geläufigkeit und Beliebigkeit langweilen, die deshalb überraschend aus dem Rahmen der ansonsten klug erdachten und stilsicher vorgetragenen Geschichte fallen. Der Plot entwickelt sich heiter, unbeschwert, witzig, ein sommerliches Idyll eigentlich und eine entsprechende Stimmung verbreitet sich auch in einigen Kapiteln des Buches, um schon im folgenden Abschnitt einer beklemmenden, beängstigenden Atmosphäre zu weichen, die den Leser schaudern lässt. Mit wenigen wirkungsvollen Formulierungen und Bildern erzeugt Eyssen diese unheimliche, bedrohliche Stimmung, die besonders bedrückend wirkt in jenen Szenen, in denen sich die unglückliche Anna bedrängt sieht, bedroht und verfolgt fühlt. Die Handlung erfährt regelmäßig eine zusätzliche Dramatik durch nuancierte Cliffhanger am Ende nahezu jedes der kurzen Kapitel, die immer mit einem unterschwelligen Effekt enden.

Pathologe mit besonderer Gabe

Leon hat „Eingebungen“, eine Art „Drittes Gesicht“, das wird eindrucksvoll, beklemmend und dramatisch in Szene gesetzt vor allem im passenden Umfeld an seinem Arbeitsplatz in der Pathologie. Hier kreiert Eyssen lustvoll gespenstische, geisterhafte Szenen, ein wenig Spuk und Hokuspokus, Übernatürliches oder Übersinnliches, im erstaunlichen Gegensatz zum sonst so rationalen, aufgeklärten Wissenschaftler, der hier ein wenig Abgründiges erkennen lässt. Aber auch diese Situationen werden sogleich wieder entspannt durch Frotzeleien mit seiner ihm deutlich zugetanen Assistentin. Meist kommen die einschneidenden Szenen in der Pathologie allerdings eher nüchtern, kühl, sehr sachlich, fast akademisch daher, dagegen sind die Schilderungen der barbarischen Handlungen des Mörders tatsächlich schockierend und grauenerregend.

Momentaufnahmen des Dorflebens

Durchatmen kann der Leser regelmäßig bei Seitenblicken auf den fast idyllischen Alltag im Städtchen Le Lavandou, in einem herrlichen Intermezzo schildert Eyssen beispielsweise ein Pétanque-Duell nach dem Motto: Gauner gegen Gauner, gegenseitig zocken sich angereiste Betrüger und ein Dorfteam mit unserem Pathologen bei dubiosen Wetteinsätzen ab, schließlich gerät Leo in ernsthafte Schwierigkeiten und muss vom wackeren Kriegsveteranen des Ortes gerettet werden. Die Stimmung des Nachmittags auf dem Dorfplatz wird so perfekt eingefangen und herübergebracht, so atmosphärisch dicht beschrieben, als sei man dabei. Das macht Spaß und wirft ein bezeichnendes Licht auf das Zusammenleben der Bewohner des kleinen Städtchens, zeigt auch die Verbundenheit Leos mit seiner neuen Heimat und den schon zu Freunden gewordenen Nachbarn. Die eingeschobenen kleinen Szenen fügen sich ausgezeichnet in den Plot ein, ohne diesen allzusehr zu unterbrechen oder zu verzögern, es macht im Gegenteil Spaß, neben den beiden hauptsächlichen Erzählsträngen Job und Privatleben solche treffenden Momentaufnahmen zu genießen, die einen wunderbaren Rahmen bilden für das zentrale Geschehen und neben dem entsprechenden Flair ebenso gelungene, treffende, witzige Dialoge beisteuern.

Regionalkunde Provence

Ganz nebenbei gibt es wie üblich ein wenig Geschichtsunterricht und Regionalkunde. Wer noch kein Kenner und Liebhaber der Provence ist, lernt Land und Leute kennen, die Landschaft und ihr Klima, ihre Flora und Fauna, aber wohl dosiert, Eyssen erliegt nicht wie manch andere Autoren der inzwischen fast unübersichtlichen Provence-Krimi-Literatur der Versuchung, vor lauter Schwärmerei die faszinierende, traumhafte Kulisse in den Vordergrund zu rücken. Auch er preist die Annehmlichkeiten des gemütlichen, zufriedenen Landlebens, die Lebensfreude und die genussvolle Lebensweise, auch er unterstreicht mit Küchenlatein auf französisch das besondere Flair, aber bei ihm stimmt die Balance, er hat bei alledem stets den Fall im Fokus. Da stört es auch nicht, dass Episoden einfließen, die nicht notwendig zur Geschichte gehören: Wie eine Weinlese vonstatten geht, dürfte den meisten Lesern mittlerweile bekannt sein, wie Leon sich dabei anstellt, wird zwar amüsant und stimmungsvoll erzählt, wirft aber kein irgendwie erhellendes Licht auf unseren Helden.

Ungewöhnliche Perspektiven durch unkonventionellen Ermittler

Der etwas andere Kriminalist gewährt natürlich auch eine andere, neue Sichtweise, die interessante Einblicke ermöglicht aus einer ungewöhnlichen Perspektive, die mit streng wissenschaftlicher, nüchterner Analyse im Gegensatz steht zu den Untersuchungen der Polizisten, die mit Vermutungen, Theorien, Spekulationen arbeiten müssen. Ihr mühsamer Alltag wird akribisch geschildert, die beschwerliche, frustrierende Arbeit mit ermüdendem Aktenstudium, zeitraubenden Telefonaten und anstrengender Spurensuche. Durch solche Fleißarbeit stoßen die Ermittler bald auf eine heiße Spur, aber nicht nur dieser Ansatz erweist sich als falsche Fährte, in alle möglichen Richtungen werden vom Autor Ablenkungsmanöver inszeniert, jedoch niemals augenscheinlich oder plump sondern stets so, dass der Leser sich durchaus auf der richtigen Spur wähnen darf.

Der Kreis der Täter

Dabei ist der Kreis möglicher Täter von Anfang an überschaubar, ein Verdächtiger, der perfekt ins hastig erstellte Täterprofil passt, ein schmieriger, unsympathischer Kerl, den Polizeichef Zerna am liebsten sofort einsperren würde, kommt für den routinierten Krimileser nicht ernsthaft in Frage, ein, zwei weitere Figuren drängen sich auf, aber ziemlich früh deutet einiges auf den tatsächlichen Täter hin, der fast schon überdeutlich auffällt. Das tut aber dem Lesevergnügen und der Spannung keinene Abbruch, die Jagd nach dem Mörder und seine Überführung bleibt mitreißend, seine Überwältigung in einem furiosen Finale fesselnd, die Geschichte ist einfach stimmig, klug ausgedacht, sehr gut entwickelt und ansprechend und mitreißend umgesetzt. Ebenso nachvollziehbar werden Motiv und Hintergrund der Geschehnisse mitsamt der spannenden Vorgeschichte der Verbrechen dargelegt.

Schwarzer Lavendel ist beste Unterhaltung und macht Lust auf die Fortsetzung.

 

Rezension und Foto von Kurt Schäfer.

 

Schwarzer Lavendel | Erschienen am 15. April 2016 bei Ullstein
ISBN 978-3-54828-701-0
464 Seiten | 9,99 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

One Reply to “Remy Eyssen | Schwarzer Lavendel”

  1. Ich schleiche schon ewig lange um dieses Buch herum – aber nach deiner Rezension fällt mir gar keine Ausrede mehr ein, es mir nicht zu kaufen 🙂 Vielen Dank 🙂

    LG
    Tina

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