David Osborn | Jagdzeit

David Osborn | Jagdzeit

In Jagdzeit geht es nicht […], sondern um die dunkle Seite des Menschen allgemein, die immer und überall zutage tritt. Seit Erscheinen meines Buches hat sich die Menschheit diesbezüglich bedauerlicherweise nicht verändert. (Auszug Vorwort)

Mit diesen Worten aus der Neuauflage des Buches von 2010 stimmt uns Autor David Osborn auf seine dem Werk zugrundeliegende Stimmung ein: Der Mensch ist des Menschen Wolf. In der Originalausgabe von 1974 widmet Osborn das Buch dem noch sehr präsenten Watergate-Skandal. Die pessimistische Grundhaltung des Autors lässt sich auch aus dessen Vita erklären. Hochdekorierter Pilot im Zweiten Weltkrieg, anschließend Autor und PR-Mann am Broadway und in der Werbeindustrie. 1955 gerät er aber in die Kommunistenhatz unter Senator McCarthy. Osborn emigriert nach Frankreich, wird Besitzer eines Steinbruchs und Drehbuchautor für europäische Produktionen (z.B. „16 Uhr 50 ab Paddington“). Anfang der 1970er wird er schließlich Romanautor mit einer Vorliebe für Plots, in denen der Mensch seinen niederen Instinkten wie Machtgier auf persönlicher oder politischer Ebene frönt.

„Jagdzeit“ beginnt mit einem kurzen Prolog etwa zwanzig Jahre vor der Haupthandlung. Im Büro eines Bezirksstaatsanwalts sitzt eine junge Frau mit ihren Eltern, die vom Staatsanwalt die Aufnahme eines Verfahrens verlangen. Die junge Frau wurde nach einem fröhlichen Abend von drei Kommilitonen ihres Colleges brutal vergewaltigt. Doch schnell wird klar, dass der Staatsanwalt ein solches Verfahren nicht anstrebt. Die drei Studenten sind angesehen, gut vernetzt, es steht Aussage gegen Aussage, es gibt angeblich sogar Zeugen für die Vergewaltiger. In einem sehr zynischen Gespräch sehen schließlich auch die Eltern die Aussichtslosigkeit eines Urteils ein und zwingen schließlich ihre Tochter, das entstehende Kind aus der Vergewaltigung einem anderen anzudrehen. Die Namen der Vergewaltiger übrigens sind Ken, Greg und Art.

In der Haupthandlung sind Ken, Greg und Art inzwischen etablierte Stützen der Gesellschaft, gut situiert, Frau und Kinder. Normale obere Mittelklasse. Einmal im Jahr gönnen sich die drei einen längeren Jagdausflug ins ländliche Wisconsin, in eine Waldhütte an einem abgeschiedenen See, mitten in der Wildnis. Ohne Familie, ohne Freunde, da sind sie sehr eigen. Und dafür gibt es auch einen guten Grund.

Das Buch beginnt mit dem Aufbruch der drei. Er herrscht eine unverhohlene Vorfreude, testosterongesättigt. Schnell wird auch dem Leser deutlich gemacht, dass dies nicht nur ein typischer Jagdausflug wird. Die Jagd auf Tiere genügt den dreien nicht mehr. In einem Motel nehmen sie ihre Opfer ins Visier: Nancy und Martin, ein verheiratetes Pärchen – allerdings nicht miteinander, die ihren Seitensprung ein paar Tage länger auskosten wollen. Ken, Greg und Art kidnappen die beiden und nehmen sie mit zu ihrer Jagdhütte. Ihre perversen Spiele können beginnen. Doch diesmal ist etwas anders. Noch ahnen es die drei nicht, aber diesmal hat sich noch jemand zu ihrem Jagdurlaub unangemeldet eingeladen.

Einmal im Jahr durfte er ein wirklicher Mann sein, genetisch, instinktiv und, genötigt durch die trostlosen Ketten der Gesellschaft im Verein mit dem hysterischen Gekeife emanzipierter Weiber, auch psychisch. Er durfte ein wildes, reißendes Tier sein, ein rohes sexuelles Tier und gleichzeitig ein verschwiegener, verdrehter, komplexer, moderner Mann, der sich schamlos jeder noch so krankhaften Perversion hingeben kann, die ihm in den Sinn kommen mag. (Auszug S.55)

Topos und Setting ließen mich direkt die Verbindung zu einem anderen Roman ziehen: „Deliverance“ (dt. Flussfahrt) von James Dickey (als Verfilmung in Deutschland unter dem hübschen Namen „Beim Sterben ist jeder der Erste“ vertrieben). Der Roman erschien einige Jahre zuvor und erzählt die Geschichte von vier Freunden in der Midlife Crisis, die einen Abenteuerurlaub auf Kanus in der Wildnis verbringen und auf die dort plötzlich und ohne ersichtlichen Grund Jagd gemacht wird. In „Deliverance“ erfährt man wenig bis nichts davon, warum auf sie Jagd gemacht wird. In „Jagdzeit“ wiederum verschiebt sich die Perspektive von den Opfern zu den Tätern (obwohl durchaus aus verschiedenen Perspektiven erzählt wird).

Ken, Greg und Art sind Prachtexemplare der amerikanischen Gesellschaft, die in ihrem Inneren ständig Macht- und Sexfantasien hegen und nur auf die passende Gelegenheit warten, diese auszuleben. Der uramerikanische Jagdtrieb auf die Spitze getrieben. Dabei wahren sie die schöne Fassade, hinter der das Haus nur allzu oft verrottet ist. Natürlich können sie es nicht öffentlich ausleben, aber sie kommen damit durch, weil niemand allzu genau hinguckt. Das ist toxische Männlichkeit bis zum Äußersten. Aber auch die anderen Figuren bieten keinen wirklichen positiven Gegenpart. Der geheimnisvolle Mann im Wald – ihm geht es nicht um Gerechtigkeit, sondern bloß um Rache, wie sich bald herausstellt. Martin, ein Ehebrecher, der Nancy offensichtlich hinhält, weil er nie vorhat, seine Ehe zu beenden. Schließlich Nancy, bei der Osborn eine eher merkwürdige Frauenfigur kreiert, die sich frei entfalten will, auch in der Sexualität, die aber dennoch dem Modell der männlichen Dominanz nichts wirklich entgegensetzt.

Die Figuren erhalten trotz der Kürze des Romans und der sich zuspitzenden Handlung ausreichend Tiefe, sind etwas einseitig angelegt und bei Nancy für meinen Geschmack nicht so ganz gelungen. Letztlich dienen sie aber dem Zweck Osborns, der desillusioniert und schonungslos eine Geschichte über die menschlichen Abgründe erzählt. Dabei erweist er sich als versierter Plotter, der Thriller ist ein echter Pageturner, der bis zum Schluss die Spannung hochhält. Am Ende steht, so viel steht natürlich fest, keine Katharsis, keine Erlösung, sondern eine Beobachtung der menschlichen Niedertracht, die wie oben erwähnt, aus Sicht des Autors weiterhin andauert. Dass mag nicht jedem Leser als Erkenntnis schmecken, aber es wird selten so mitreißend und dramatisch inszeniert wie hier von David Osborn.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters

Jagdzeit | Erstmals erschienen 1974
Die gelesene Ausgabe erschien am 2014 als Lizenzausgabe für die Büchergilde Gutenberg
Die zugrundeliegende Ausgabe erschien 2010 im Pendragon Verlag
ISBN 978-3-86532-209-8
280 Seiten | 13,- €
Originaltitel: Open Season | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Marcel Keller
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension von Jochen König bei krimi-couch.de

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