Viktor Arnar Ingólfsson | Späte Sühne
Ein Toter sitzt am Schreibtisch des Botschafters, ihm wurde ein Jagdmesser tief in den Bauch gerammt. Am Abend vorher war in der Botschaft gefeiert worden, und alles deutet darauf hin, dass die Tat im Affekt verübt wurde. Doch warum ist die Tatwaffe schon vor Wochen in das Gebäude geschmuggelt worden? Die Kommissare stehen vor einem Rätsel. Acht Personen kommen als Täter in Frage, allesamt Isländer, die zur Tatzeit mehr oder weniger betrunken waren. Sie sind inzwischen nach Island heimgekehrt. In Reykjavík ermitteln die Kommissare weiter, und eine wichtige Spur führt zu einem tragischen Ereignis aus den 70er Jahren …
Späte Sühne ist der letzte von vier ins Deutsche übersetzte Romanen des isländischen Autors Viktor Arnar Ingólfsson. Da es sich um einen Spontankauf der Lizenzausgabe handelte, kam ich gar nicht dazu, die Krimis der Reihenfolge nach zu lesen, doch ich möchte vorwegnehmen, dass ich mir Haus ohne Spuren, den ersten ins Deutsche übersetzte Roman Ingólfssons, auch bereits antiquarisch gekauft und gelesen habe, da mich Viktor Arnar Ingólfsson ausgezeichnet unterhalten hat.
Während einer nicht autorisierten Zusammenkunft in den Räumen der Isländischen Botschaft in Berlin, welche nach einer Dichterlesung des sogenannten Sonnendichters, vom Botschafter Islands mehr oder weniger spontan einberufen wurde, ging es hoch her! Das gegebene Abendessen endete in einem Saufgelage, die Frau des Botschafters Konráð Björnsson benimmt sich daneben, ein Gast ist verschwunden, wird jedoch später schlafend auf einer Toilette wiedergefunden, und ein Gast ist tot; Anton Eiríksson sitzt mit vom Nabel bis zum Schambein aufgeschlitztem Bauch hinter dem Schreibtisch des Botschafters in dessen Büro im dritten Stock, seine Eingeweide haben sich bereits großzügig auf dem Boden ergossen.
Da es sich bei dem Fundort der Leiche um ein Botschaftsgebäude handelt, wird entsprechend diskret vorgegangen und die Ermittlungen sollen von isländischen Kriminalbeamten durchgeführt werden, welche sich unmittelbar von Reykjavík auf den Weg nach Berlin machen, was Kriminalkommissar Gunnar Maríuson ganz und gar nicht schmeckt, da er es hasst zu fliegen und nach Deutschland möchte er schon mal gar nicht, doch auf ihn kann aufgrund seiner Sprachkenntnisse nicht verzichtet werden, denn er wuchs zweisprachig bei seiner deutschen Mutter auf. Begleitet wird Gunnar unter anderem von Birkir Li Hindriksson, der ursprünglich aus Vietnam stammt, eine schlimme Kindheit als Flüchtling in Malaysia verlebte und über Umwege nach Island kam, was nunmehr seine Heimat ist. Er ist ausgesprochen engagiert und schafft es als einziger, Gunnar im Zaum zu halten, welcher mich spontan an Rolf Lassgård in der Rolle des Kurt Wallanders von Henning Makell erinnerte, bloß im Anzug statt im Strickpullover.
Bereits auf der Reise erleben wir Gunnar Maríuson als durchsetzungsstarke Persönlichkeit, der es sich aufgrund seiner Größe und Masse nicht nehmen lässt, dem das Team begleitenden Ministerialbeamten seinen Platz in der Business Class streitig zu machen, sodass die Reise einigermaßen erträglich für ihn wird. Doch dieser Komfort ist ihm nicht lange gegönnt, zieht er sich bald darauf einen Hexenschuss und eine Erkältung zu. Dass ihn das plagt, lässt er sein ganzes Umfeld wissen, und es ist stellenweise zu komisch, wie er immer geschundener aus Einsätzen zurückkommt und sich immerzu über seine Erkältung beklagt.
Gunnar gab Namen und Adresse an. »Ich brauche einen Krankenwagen, und zwar sofort. Ich glaube, ich habe die eine oder andere gebrochen Rippe und wahnsinnige Rückenschmerzen. Gar nicht zu reden von der Erkältung.« (Auszug Seite 220)
Vor Ort treffen die Ermittler, Gerichtsmedizinerin Dóra und der Ministerialbeamte Sigmundur auf den Botschaftsrat Arngrímur Ingason. Dieser hat die Leitung der Botschaft kommissarisch übernommen, da davon auszugehen ist, dass der Botschafter aufgrund der nicht genehmigten Nutzung der Botschaftsräume suspendiert wird. Ingason berichtet den Beamten auch von den Gästen, die bei der Veranstaltung anwesend waren. Wer jedoch ein Motiv für den Mord an dem scheinbar unbedeutenden Anton Eiríksson hatte, kann auch er sich nicht erklären. Leider sind die meisten zu vernehmenden Personen bereits zurück nach Island oder in andere Länder gereist, sodass Birkir, Gunnar und Dóra nur bleibt, den Fundort genauestens in Augenschein zu nehmen, Beweise in Kooperation mit Kriminalbeamten der deutschen Polizei zu sichern und die Ermittlungen in Island fortzusetzen. Außerdem muss Gunnar noch in den Berliner Zoo, da er noch nie einen Elefanten gesehen hat. Viel mehr als das bekommen sie von Berlin nicht zu sehen.
Im Laufe der Ermittlungen stellen Birkir Li und die anderen Ermittler durch viele Gespräche mit den Zeugen fest, dass es offenbar eine Verbindung zwischen allen Teilnehmern gab. Die Gemeinsamkeiten gehen zurück ins Jahr 1975, als die damalige Freundin des Sonnendichters Jón, welche mit anderen Hippies in einer isländischen Kommune lebte, bei einem schrecklichen Unglück ums Leben kam. Von diesem Vorfall erfährt der Leser früh und er ist der Rote Faden der Geschichte, an dem sich alles aufhängt. Außerdem ist es ein offenes Geheimnis, dass der Ermordete ein Pädophiler war, der keinen Hehl aus seiner kriminellen Neigung machte, sogar vorgab, wie gut er die indonesischen Jungen, die er bevorzugte, behandelt. Gottlob wird dies im Roman nicht allzu breit ausgetreten, sodass einem nur ab und an die Galle hoch kommt, doch es ist eben auch ein nicht unerheblicher Baustein für die Mordermittlungen, denn immerhin wurde Anton Eiríksson nie von einem weltlichen Gericht für seine hundertfachen Vergehen belangt.
Ingólfsson erzählt also von mehreren Ereignissen der Vergangenheit und parallel von den Ermittlungen in der Gegenwart, wobei er – wie eingangs erwähnt – ein fabelhafter Unterhalter ist. Ebenso wie sein isländischer Autorenkollege Arnaldur Indriðason schreibt Ingólfsson so eindringlich, lebhaft und unterhaltsam, dass man den Lesefluss nur ungern unterbricht. Dabei ist Späte Sühne durchweg spannend und das bis zum Schluss, denn es bleibt nicht bei dem einen Toten und die Verzweigungen und Verbindungen sind enger als gedacht.
Späte Sühne ist leider der bis heute letzte ins Deutsche übersetzte Roman des Autors und erschien bereits 2010 bei Bastei Lübbe. Ingólfsson, geboren 1955 in Island, studierte Bauingenierwesen und arbeitet seit 1983 hauptamtlich in Reykjavík bei der öffentlichen Straßenbauverwaltung.
Späte Sühne | Erschienen am 25. September 2010 bei Bastei Lübbe
ISBN 978-3–404-16486-8
Die gelesene Ausgabe erschien im Dezember 2015 als Lizenzausgabe des Verlags Editionnova
335 Seiten | 8,99 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe
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