Tom Hillenbrand | Lieferdienst
Auf der Terrasse befindet sich eine rot umrandete, oktagonale Fläche – ein Retourenpad. Man stellt sein Paket hinein, die nächste freie Lieferdrohne erkennt es von oben und nimmt es mit. Normalerweise befinden sich solche Pads an öffentlichen Plätzen. Dass jemand sein eigenes, privates Oktagon besitzt, ist ungewöhnlich. (Auszug Pos. 399 von 2071)
Viele Menschen beschweren sich heutzutage über die Konsum-Gesellschaft, in der nichts mehr repariert, sondern alles sofort ausgetauscht wird. In ‚Lieferdienst‘ wird das von Tom Hillenbrand auf die Spitze getrieben.
Der Maker macht’s, der Bringer bringt’s
In Neu-Berlin der nahen Zukunft leben die Menschen in riesigen Wohnblöcken, arbeiten im Homeoffice und kaufen fast alles online. Bestellte Produkte werden auf 3-D-Druckern, sogenannten Makern, hergestellt und alle Lieferdienste befinden sich zeitgleich im Kampf um denselben Auftrag. Wer die Ware zuerst zustellt, hat gewonnen, wobei die überflüssige Ware der Konkurrenten dann als Produktionsüberschuss in Kauf genommen wird. Hier wird mit allen Mitteln gekämpft, um die Konkurrenz auszuschalten und es herrscht ein erbitterter Kampf um die Vorherrschaft am Liefermarkt. Die Bestellungen werden teils per Drohnen, überwiegend aber durch Kuriere auf Hoverboards, sogenannte Bringer an den Kunden ausgeliefert. Solch ein Bringer ist der Protagonist Arkadi Schneider, der für Rio, einen der größten Lieferdienste der Welt arbeitet und für seinen Job alles gibt und dabei immer die Zustellquote im Blick behält. Wenn nötig lässt er sich das Mittagessen auch mal per Drohne ans Brett liefern. Wir fliegen mit ihm über Neu-Berlin, als ein verletzter Kollege ihn bittet, eine seiner Lieferungen zu übernehmen. Für Arkadi eine Ehre, denn es handelt sich um Airbox, eine Legende in der Lieferdienst-Szene. Umso bestürzter ist er, als er kurz darauf mitansehen muss, wie Airbox ermordet wird und er, als er dessen Paket ausliefern will, plötzlich um sein Leben fürchten und sich in wilden Verfolgungsjagden behaupten muss. Airbox schien in mysteriöse Machenschaften verwickelt zu sein und Arkadi gerät zum ersten Mal ins Grübeln.
Aberwitzige Retourenquote
In Tom Hillenbrands Zukunftsvision hat der Konsum absurde Ausmaße angenommen. Es gibt Flatrates für Schuhe, Anprobierandroiden kümmern sich um das lästige Auspacken, Anprobieren sowie Zurücksenden, und jederzeit und überall kann Essen per Drohne geordert werden. Menschen wie Arkadis Vater, der noch vom alten Schlag ist, den sogenannten Fortschritt kritisch sieht und sich für Zahnpasta noch in den Spaldi bemüht, werden als rückständig angesehen.
Der Kunde muss nur jede Tube bezahlen, die ihm als erste zugestellt wird. Der Rest sind Autoretouren. Bei einem maßgeschneiderten Jackett mag das ein Problem sein, bei Zahnpasta nicht. Die werden die Lieferdienste schon irgendwie los. Ich erkläre es ihm. Aber Dad schüttelt nur den Kopf und murmelt etwas von „Endstufe des Kapitalismus“. (Auszug Pos. 165 von 2071)
Ich bewundere immer wieder Tom Hillenbrands Fähigkeit, eine komplexe Zukunftswelt fiktiv zu erschaffen. Fast ohne unnötige Erklärungen, dafür aber detailreich und mit kreativen Wortneuschöpfungen, die sich leicht erschließen. Und mit einem Füllhorn an kreativen Einfällen. Berlin ist im Krieg komplett zerstört worden und man hat daneben Neu-Berlin, von den Bewohnern liebevoll BeeZwee genannt, errichtet. Die MegaCity besteht aus riesigen Sozialbauten und Ausfallstraßen, die Namen aktueller Prominenz wie Glööckler-Allee oder Robert-Habeck-Ausfallstraße besitzen. Während sich auf den Straßen die Bikes und Rikscha-SUVs stauen, ist der Himmel mit Delivery-Drohnen verstopft. Manche Bewohner, sogenannte Mobilniks, die sich die Miete in den Hochhäusern nicht mehr leisten können, hausen in ihren Autos, welche mit Autopilot unendlich auf dem Stadtring fahren. Das Szenario erscheint gar nicht so abwegig, sondern wie eine radikale Weiterentwicklung unserer heutigen Konsumgesellschaft.
Wir bleiben die ganze Zeit dicht bei Arkadi, dem Ich-Erzähler und seinen Erlebnissen. Die Geschichte wird in einem hohen Tempo mit kurzen Kapiteln erzählt, wirkt dadurch fast gehetzt und rastlos, passend zur hektischen Welt der Lieferdienste. Man fliegt atemlos durch die Seiten und dann ist es auch schon vorbei. Denn das ist das Einzige, was ich zu meckern hätte. Mit knapp 190 Seiten viel zu kurz. Ich hätte gerne noch mehr über diese dystopische Welt und die Lebensbedingungen erfahren. Das Ende, das zwar mit einem mitreißenden Showdown glänzt und einige Überraschungen parat hält, wirkt etwas zu schnell abgearbeitet. Und man hätte auch noch mehr in die Fütterung der Charaktere stecken können.
Trotzdem ist Lieferdienst eine gelungene Dystopie, originelle Zukunftsvision mit coolen Ideen, die mir sehr viel Spaß gemacht hat und die eine Reflexion unserer Konsumgesellschaft darstellt. Dabei spricht der Autor einige aktuelle Themen, wie Ressourcen-Verschwendung und Turbo-Kapitalismus an und das auf unterhaltsame Weise und mit dem ihm eigenen Humor.
Foto & Rezension von Andy Ruhr.
Lieferdienst | Erschienen am 15. August 2024 bei Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-00621-6
192 Seiten | 20.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe
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