Horst Eckert | Schattenboxer

Horst Eckert | Schattenboxer

„Natürlich gab es die RAF nicht bloß in den Knästen. Die Herrhausen-Aktion war die Antwort darauf, dass unser letzter Hungerstreik im Frühjahr 1989 erfolglos geblieben war.“
„Heißt das…“
„Weil es keine Zusammenlegung der Gefangenen gab, musste der Bankier sterben. Eine kraftvolle Demonstration, so war es damals beschlossen worden. Aber wir haben mitbekommen, dass sich die Linke abgewandt hat. Wir hatten die Lage falsch eingeschätzt. Deshalb haben wir danach die Strategie geändert. In Weiterstadt ging es gegen die Unterdrückung durch Strafjustiz und Knast. Dabei sind auch keine Menschen zu Schaden gekommen.“
„Und wie passt Winneken ins Konzept?“
„Winneken? Das waren wir nicht.“
Für Sekunden war es still im Raum.
„Keiner, den wir kannten“, fügte Brigitte hinzu. „Die Winneken-Aktion hat uns selbst überrascht.“
„Warum haben Sie sich nicht davon distanziert?“
„Damit hätten wir Schwäche gezeigt. Eine zweite RAF – wir hatten Angst, unsere letzten Unterstützer zu verlieren. (Auszug Seite 112-113)

Hauptkommissar Vincent Veih hat alle Hände voll zu tun: Die 17jährige Pia hat Selbstmord begangen. Sie war Zeugin in einem Mordfall, in dem der vermeintliche Täter Thabo Götz eine Wiederaufnahme des Verfahrens erreicht hat. Veih soll die Arbeit der Kollegen im alten Fall beurteilen. Da wird auf einmal einen Tag später die Leiche einer jungen Frau auf Pias Grab aufgefunden, die Tote war Mitglied einer Kampagne für die Freilassung von Thabo. Kurz darauf verschwindet eine weitere junge Frau aus dem Umfeld der Kampagne. Zeitgleich recherchiert Veihs Freundin Saskia in der alten Mordsache Rolf-Werner Winneken, ermordet 1991 von der RAF, und fördert Erstaunliches zutage. Veih merkt bald, dass es eine Verbindung zwischen allen Fällen gibt: Den linken Liedermacher René Hagenberg, ein guter Freund seiner Mutter Brigitte.

Schattenboxer ist der zweite Band der Reihe um den Düsseldorfer Hauptkommissar Vincent Che Veih. Im ersten Teil Schwarzlicht gab es bereits einen spannenden Parforceritt durch die politische bundesdeutsche Landschaft, in dem zahlreiche vergangene politische Affären in die Handlung eingeflochten wurden. Autor Horst Eckert gilt als einer der renommiertesten Vertreter des politischen Kriminalromans in Deutschland. Beim vorliegenden Buch hat er einen Thriller geschrieben, der auf erstaunliche Weise mehrere Subgenres der Kriminalliteratur vereint: Polizeiroman, Serienmörderthriller und Politischer Krimi.

Zum einen gibt es im Buch klassische Merkmale des Psychothrillers. Kurze Abschnitte in denen das Opfer in seinem Gefängnis beschrieben wird, der Täter, der sich auf die Folterung vorbereitet. Schon das erste Opfer wurde vor der Ermordung brutal misshandelt, so dass die Polizei schon bald nach einem Psychopathen als Täter Ausschau hält, nachdem eine weitere junge Frau verschwindet.
Zum anderen beschreibt Eckert sehr detailliert die Ermittlungen, die Aufgabenteilung innerhalb der Polizei: dazu gehören natürlich auch das Betriebsklima und die üblichen Ränkespiele. Vincent Veih ist inzwischen Leiter des Kommissariats und verlangt so einiges von seinen Untergebenen. Überhaupt ist die Hauptfigur ein interessanter Charakter. Vincent ist der unbestechliche Bulle schlechthin, sucht nach der Wahrheit und schaut auch bei Verfehlungen der Kollegen nicht weg. Privat ist er mit der Journalistin Saskia liiert, hat aber so langsam Zweifel an der Beziehung mit der jüngeren alleinerziehenden Mutter. Sein Verhältnis zu seiner Mutter ist schwer gestört, da sie ihn als Kind abgegeben hat, um als RAF-Terroristin in den Untergrund zu gehen. Aufgewachsen ist er bei den Großeltern unter dem strengen Regime des Großvaters, der eine schreckliche Vergangenheit als Kriegsverbrecher hatte. Dennoch hat Vincent den Beruf des Großvaters ergriffen. Als Polizist ist er jedoch ein rotes Tuch für seine Mutter, die dank ihrer Autobiografie plötzlich wieder im Rampenlicht steht.

Der Mord an Detlev Karsten Rohwedder (im Roman: Rolf-Werner Winneken) am 1. April 1991 ist jedoch der rote Faden im Buch. Offiziell ist Rohwedder, damals Präsident der Treuhandanstalt, das letzte Mordopfer der RAF, von der auch ein Bekennerschreiben gefunden wurde. Doch bis heute gibt es Unklarheiten und Theorien, dass die RAF möglicherweise doch nicht hinter dem Anschlag steckte. Nicht klar ist unter anderem, warum sich die RAF Rohwedder als Opfer ausgesucht haben soll, galt Rohwedder doch als Sanierer mit Augenmaß. Der neoliberale Ausverkauf der ostdeutschen Wirtschaft begann so richtig erst mit seiner Nachfolgerin Birgit Breuel. Als Täter im Fall Rohwedder gilt übrigens Wolfgang Grams, der 1993 bei dem ominösen GSG 9-Einsatz in Bad Kleinen ums Leben kam. Die ganze Thematik lässt auf jeden Fall Raum für Mutmaßungen. Vor Horst Eckert spekulierte unter anderem schon Autorenkollege Wolfgang Schorlau in Die blaue Liste, ob tatsächlich die RAF Rohwedder getötet hat.

Insgesamt ist Schattenboxer eine gelungene Fortsetzung der Reihe (Ende August erscheint Band 3 Wolfsspinne), bei der vor allem die ungewöhnliche Familienkonstellation der Hauptfigur heraussticht. Auch wenn einer der Stränge etwas abrupt endet, gelingt Eckert ein spannender Plot mit politischem Hintergrund (einen zusätzlichen Sympathiepunkt bekommt der Autor von mir für die Einflechtung meiner Heimatstadt Kempen in die Story). Ich werde der Reihe auf jeden Fall treu bleiben.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

 

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Schattenboxer | Die gelesene Erstausgabe erschien am 27. Februar 2015 bei Rowohlt
ISBN 978-3-80525-079-7
416 Seiten | 19,95 Euro
Bibliographische Angaben  & Leseprobe

Anmerkung: Am 22. Juli 2016 erschien die Taschenbuchausgabe bei Rowohlt.

4 Replies to “Horst Eckert | Schattenboxer”

  1. Ab Freitag lese ich „Wolfsspinne“ in einer Leserunde – allerdings mal wieder ohne Vorkenntnisse der beiden ersten Krimis. Mir war – mal wieder – nicht bewusst, dass es eine Reihe ist… seufz. Ich hoffe, der Quereinstieg klappt – das Thema hört sich ja sehr spannend an und Teil 1 und 2 kann man dann ja nachholen – bzw. muss man, wenn ich Deine Rezension so lese…. 🙂

    1. Wenn du die Rezension gelesen hast, dann hast du ja schon etwas über Vincent Veih erfahren. Ich denke, dass es nicht so schwierig wird reinzukommen. Nicht wie bei Louise Boní…;-)

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