
Dirk Schmidt | Die Kurve
„Carl, nennen Sie mich Carl. Carl aus Herne.“
„Aus was?“
„Herne. Vergessen Sie es wieder. Herne ist nämlich ein Ort zum Vergessen oder Nie-davon-gehört-Haben. In Herne will man nicht leben und nicht sterben. Zum da Rauskommen ist Herne allerdings so gut wie jeder andere Ort. Warum haben Sie mich angerufen?“ (Auszug S. 11).
In Herne hat allerdings damals alles angefangen. Im Jugend- und Freizeitzentrum „Die Kurve“ war Carl der Betreuer und hatte die wilde Mischung der Jugendlichen ganz gut in Griff. Seine Klientel war nicht einfach zu händeln, meist aus armem trostlosem Zuhause, Kleinkriminalität, Drogen, Gewalttätigkeit. Carl konnte gut mit den Jugendlichen, ein paar wuchsen ihm besonders ans Herz. Und dann stellte Carl fest, dass man mit ihnen ein Geschäft ganz anderer Art aufbauen konnte.
„Was ich anbiete? Alles. Alles, was Sie sich vorstellen können. […] Die meisten meiner Kunden bevorzugen allerdings Dienstleistungen, die sich ihren unmittelbaren Möglichkeiten entziehen. Zur Frage, ob sie mir vertrauen können, kann ich nur sagen, dass ich absolut und einhundertprozentig vertrauenswürdig bin.“ (Auszug S. 11-12).
Heute betreibt Carl ein exklusives, aber auch riskantes Unternehmen für kriminelle Dienstleistungen aller Art, auch tödlicher Art. Carl lebt inzwischen in Monaco (großartiger Running Gag, dass er mit beiläufigen Äußerungen seinen Aufenthaltsort verschleiern will, etwa: „Ich schnapp‘ mir das Boot und fahre rüber nach Acapulco, da ist heute Abend All-you-can-eat-Burrito-Buffet.“) und zieht die Fäden. Er erhält Anrufe, seine Nummer wird im Vertrauen weitergegeben. Dann setzt er seine Leute ein: Betty etwa, Ridley oder Schneider. Per Telefonat gibt er Anweisungen, will regelmäßig unterrichtet werden. Er hält ein strenges Regiment, alles, was man ihm sagt, kann auch gegen einen verwendet werden. Er kümmert sich aber auch um seine Leute, verlangt dafür aber absolute Loyalität. Seine Telefonate und Dialoge, die sich um geschäftliche Dinge, aber auch um das Seelenleben seiner Mitarbeiter drehen, gehören zu den Höhepunkten dieses Romans.
Die Aufträge, die Carls Crew bearbeiten muss, sind durchaus speziell. Ridley darf einen alten Mafiaboss aus Neapel und seine Tochter auf einer Tour durch Deutschland begleiten, bei der es offenbar um dessen Nachfolge geht. Betty hingegen soll den Tod einer jungen Amerikanerin aufklären, die sich aus der Enge ihrer kriminellen Familie in Detroit nach Berlin befreit hatte und dort nach einer Partynacht tot im Kanal aufgefunden wurde. Währenddessen gibt Schneider den Ausputzer im Hintergrund.
„Ich soll Ihnen Grüße bestellen. Von Mustapha.“ […]
„Ich kenn keinen Mustapha“, entgegnet der Dönerbudenbesitzer.
„Oh“, sagt Schneider. „Dann muss ich Sie wohl verwechselt haben. Das tut mir jetzt aber leid.“
„Was…?“
Schneider trifft ihn ziemlich genau in den Mund. Nicht ganz einfach bei den Lichtverhältnissen. (Auszug S.153)
Autor Dirk Schmidt ist als Drehbuchautor bekannt, insbesondere für den Radio Tatort um die „Task Force Hamm“. „Die Kurve“ ist sein erster Genreroman seit zehn Jahren. Für mich überzeugen vor allem die Attitüde, der Ton und die ungewöhnlichen Orte des Romans. Carl und sein Geschäft kommen hier ziemlich lässig rüber – vor allem die Dialoge habe ich gerne gelesen. Der Plot hingegen wurde hingegen für meinen Geschmack manchmal etwas zu sehr nebenbei behandelt, so richtig packend wurde es selten. Aber das war sicherlich auch so gewollt in diesem komplexen Roman, der insgesamt auf jeden Fall eine interessante und kluge Abwechslung im Genre bietet.
Foto und Rezension von Gunnar Wolters.
Die Kurve | Erschienen am 17.03.2025 im Suhrkamp Verlag
ISBN 987-3-518-47480-8
276 Seiten | 17,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe