Kategorie: Kurt Schäfer

Giorgio Scerbanenco | Der lombardische Kurier Bd. 4

Giorgio Scerbanenco | Der lombardische Kurier Bd. 4

Der lombardische Kurier, Moderner Klassiker von Giorgio Scerbanenco, neu entdeckt

Dem Folio Verlag aus Wien und Bozen ist es zu verdanken, dass die vier Romane um den Mailänder Ermittler Duca Lamberti in der bewährten Übersetzung von Christiane Rhein endlich wieder vorliegen. Geschrieben hat diese Bücher Giorgio Scerbanenco, der als Vladimir Šerbanenko 1911 in Kiew geboren wurde. Mit Ausbruch der Revolution flüchtete seine Mutter mit dem Baby in ihre Heimatstadt Rom. Zwar kehrten sie noch einmal in die Ukraine zurück, aber da war sein Vater bereits tot, ermordet in den Revolutionswirren. Die Mutter wanderte mit ihrem Sohn 1927 endgültig nach Mailand aus, wo sie nur zwei Jahre später starb. Giorgio Scerbanenco, wie er sich inzwischen nannte, musste die Schule abbrechen und allerlei Aushilfsjobs annehmen, um sich über Wasser zu halten. Finanzielle Sorgen sollten ihn lange Jahre begleiten, so dass er gezwungen war, als Journalist und Schriftsteller viele Genres zu bedienen, wobei er äußerst produktiv war. Unter anderem gründete er mehrere Frauen-Zeitschriften und wurde berühmt als Kummerkasten-Onkel „Adrian“. In dieser Funktion lernte er die Gemütsverfassung der Italienerinnen kennen, ihre geheimsten Wünsche und größten Nöte und Sorgen und damit viel über den Zustand der Gesellschaft.

In seinen Krimis, die seinerzeit hochgelobt und preisgekrönt waren, schuf Scerbanenco zwischen 1966 und 1968 den ersten originär italienischen Detektiv in wahrhaft italienischen Krimis, die treffend den Alltag ihrer unterschiedlichen Charaktere und deren Umgang miteinander beschreiben, und die sehr realistisch ihre Umgebung und ihre spezielle Atmosphäre abbilden, ein Mailand nicht als kuschelige, heimelige Kulisse wie sie heute in vielen Regionalkrimis gezeigt wird, sondern fast durchgehend als düstere, neblige, bedrohliche und gefährliche Stadt. Dennoch muten die Erfahrungen, die Duca in diesem Milieu macht, als gemächliche, fast gemütliche Abenteuer an. Dabei mag Der Lombardische Kurier zur Zeit seiner Entstehung durchaus als „harter“ Krimi gegolten haben, allein auf Grund des unerhört grausamen Verbrechens.

Der Leser wird unmittelbar hineingeworfen in das Geschehen. Das Eingangsbild zeigt Duca Lamberti im Krankenhaus am Bett einer jungen Lehrerin, aber er kann nicht mehr mit ihr sprechen, sie ist gerade verstorben, den zahlreichen schweren Verletzungen erlegen, die ihr von ihren Schülern zugefügt wurden. Die haben sie im Klassenzimmer überfallen und erniedrigt, gequält und brutal vergewaltigt. Der Anblick ihres entsetzlich zugerichteten Körpers ruft in Lamberti eine unbändige Wut hervor, und er ist fest entschlossen, für die Bestien, die schuld an diesem Massaker sind, die härteste möglich Bestrafung zu erreichen. Akribisch studiert er die Akten der verhafteten Schüler, die fast alle aus schwierigen sozialen Verhältnissen kommen und zum Teil schon vorbestraft sind. Er ist durchaus wichtig, die sozialen Hintergründe seiner Figuren zu erkennen und zu verstehen, sich in ihre triste, aussichtslose Situation hineinzuversetzen. Natürlich treibt ihn die Frage um, wie sie zu dem wurden, was sie sind, aber Mitleid mit den Burschen hat Duca nicht. Wenn er freundlich zu ihnen ist, dann ist das Mittel zum Zweck. Mit psychologischen Tricks und mit physischem Druck, den man durchaus Folter nennen kann, versucht er in Einzelverhören die Wahrheit ans Licht zu bringen. Aber er kann den elf Schülern ihr gemeinschaftlich begangenes Massaker nicht beweisen. Jeder behauptet, es seien die anderen gewesen. Am Ende beschleicht Duca der Verdacht, dass ein Erwachsener die Schüler angestiftet und das Verbrechen organisiert hat.

Als sich der einzige Junge, der vielleicht zu einer Aussage bereit gewesen wäre, in den Tod stürzt, wagen Lamberti und sein Vorgesetzter Carrua ein riskantes Experiment: Duca nimmt einen der Schüler mit nach Hause und hofft, sich sein Vertrauen zu erschleichen zu können. Zunächst scheint sein Plan aufzugehen, doch dann entschließt sich sein Schützling, hin und her gerissen zwischen der Hoffnung auf ein besseres Leben und der Angst vor der Anstalt, zu fliehen. Er ahnt nicht, dass er beschattet wird und nimmt Kontakt auf zu der Person, die Duca unbedingt finden muss, weil sie der Drahtzieher in diesem Drama ist. Das gelingt letzten Endes, und damit ist dann auch schon die ganze Geschichte erzählt.

Duca hat also Recht behalten mit seiner Vermutung, aber es dauert lange, bis er die anderen und vor allem seinen Chef überzeugen kann, in diese Richtung zu ermitteln. Obwohl er wieder und wieder seine Theorie mit den immer gleichen Worten herunterbetet, begegnet man ihm mit Zurückhaltung. Ständige Wiederholungen sind als Stilmittel eigentlich verpönt, unterstreichen hier aber die Hartnäckigkeit und Sturheit des Ermittlers. Dass es schließlich genau so ist und genau so kommt wie er es erwartet hat, passt zu dem spannungsarmen Plot, der nüchtern, realistisch Fakt an Fakt reiht. Wahrlich kein Thriller, Spannung kommt bei Polizeiroutine mit scheinbar endlosen Verhören, Ortsbesichtigungen, vielen Befragungen und noch mehr Laufarbeit kaum auf. Und zunächst kommt Duca auf diese Art auch zu keinem Ergebnis, er bekommt zunehmend Zweifel am Sinn seiner Arbeit. Auch, weil ihn die Gleichgültigkeit seiner Umgebung und die abwehrende Haltung seines Chefs wütend machen. Der ist Pragmatiker, er mag Ducas Art nicht, sich in eine Sache hineinzusteigern und immer ein philosophisches Problem daraus zu machen, die Dinge mit seinem Eigensinn noch komplizierter zu machen, als sie ohnehin schon sind.

Diese starke Figur Duca Lamberti ist hauptsächlich verantwortlich für den Erfolg der Romanreihe. Er ist Arzt, hat aber seine Approbation verloren, weil er wegen Sterbehilfe zu drei Jahren Haft verurteilt wurde. Für ihn war die Entscheidung, das Leiden einer alten Dame abzukürzen, ein Akt der Nächstenliebe. Desillusioniert, angeekelt vom Leben und verzweifelt am Zustand der Welt nimmt er nun aus Geldmangel seine Tätigkeit als Ermittler für Kommissar Carrua auf, einen ehemaligen Kollegen seines Vaters bei der Mailänder Polizei. Seine mit einem Kind sitzen gelassene Schwester versorgt er so gut er kann. Ihre kleine Tochter Sara liebt er zärtlich. Als aber das Mädchen plötzlich hohes Fieber bekommt, lehnt er es ab, an ihr Krankenbett zu kommen, ihm ist es wichtiger, ein vielleicht entscheidendes Verhör durchzuführen. Stattdessen schickt er einen befreundeten Arzt, der dem Kind allerdings nicht helfen kann, es stirbt im Krankenhaus.

Duca ist zwar betroffen vom Tod der Kleinen, aber Selbstvorwürfe oder Zweifel an seinem Handeln gibt es für ihn nicht. Er kann durchaus mitfühlend sein, aber genau so kalt und roh, geradezu bösartig. Er vereint völlig widersprüchliche Regungen in sich und entscheidet aus dem Bauch heraus. Er denkt durchaus differenziert über Schuld und Sühne nach, über den Rechtsstaat, seine Gesetze und Strafen, genauso aber kann er von Jetzt auf Gleich Verbrechern gegenüber gewalttätig werden. Dieses ambivalente Verhalten macht Duca so interessant, wenn auch nicht sonderlich sympathisch. Aber er ist ein fanatischer Sucher nach Gerechtigkeit, und sein Hass auf alle, die sich dem widersetzen, lässt ihn mitunter zur Selbstjustiz greifen. Anders lässt sich dem Gesindel nicht beikommen, mit dem er es zu tun hat, deshalb sind ihm alle Mittel recht, er ist stets bereit, Vorschriften in seinem Sinne auszulegen oder zu übergehen und sogar Gesetze zu übertreten. Lamberti weiß, dass das Böse, das Verbrechen nicht auszurotten ist, trotzdem nimmt er diesen Kampf an – mit Mitteln, die mehr als fragwürdig sind. Die Verbrecher, das ist ihm schmerzlich bewusst, nutzen jede Gesetzeslücke und beugen wo es geht mit Hilfe ihrer Anwälte das Recht. Duca verachtet die Kriminellen, und er hat eins gelernt: Dieses Gesindel versteht nur eine Sprache: Gewalt. Und die wendet er an, wenn es ihm opportun erscheint, Gesetzt hin, Moral her.

Scerbanenco überlässt es dem Leser, dieses Verhalten zu bewerten, er selbst fällt kein Urteil über seinen Hauptdarsteller, gibt keine Erklärung für sein Handeln. Wohl legt er ihm knochentrockene und ironische, ja sarkastische oder gar zynische Kommentare in den Mund, auch lässt er Duca skeptische, manchmal resignierte Gedanken äußern. Er redet, wie er denkt, und er denkt, was man damals so dachte. Political Correctness hat keinen Platz in dieser gar nicht so guten, alten Zeit Ende der sechziger Jahre mit ihren verklemmten Moralvorstellungen, verstaubten Weltanschauungen und engstirnigen Denkweisen. Das Frauenbild in Scerbanencos Romanen kann aus heutiger Sicht nur entweder verstören oder empören, und die Behandlung der schwulen und lesbischen Figuren ist nur entschuldbar vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund und seinen Einflüssen, denen sich auch der Autor nicht entziehen konnte. Fortschrittliche Empfehlungen zur Bewältigung der sozialen Probleme gelten allenfalls als Zeitverschwendung, pädagogische Ansätze als sinnlos. Resozialisierung ist ein Fremdwort, die Jugendlichen Straftäter werden in Besserungsanstalten gesteckt, in denen sie gezüchtigt werden, noch mehr verrohen, und wenn sie alt genug sind verschwinden sie im Knast.

Lediglich Livia Ussaro, die ihrer Zeit voraus ist und so gar nicht in diese Gesellschaft zu passen scheint, verkörpert einen Fortschritt, den die übrigen Figuren nicht erkennen und auch nicht wollen. Sie unterstützt ihren Freund Duca tatkräftig, auch nachdem sie dabei im ersten Roman der Reihe (Verräter und Verratene) von einem Mafioso mit zahlreichen Messerschnitten im Gesicht entstellt wurde. Livia ist eine starke, selbstbewusste und selbstbestimmte Frau, die streng rational und logisch denkt und handelt. Als Sozialforscherin beschäftigt sie sich mit der Ausbeutung der Frauen. Die Emanzipation steckt noch in den Kinderschuhen, Wir befinden uns am Vorabend der 68er-Bewegung, die auch in Italien und gerade in Mailand zu massenhaften Protestaktionen der Studenten und Arbeiter und letzten Endes zu etlichen sozialen Umbrüchen führen sollte.

Von solchen Veränderungen ist bei Scerbanenco noch wenig zu spüren, am ehesten noch kündigt sich der Wandel im Erscheinungsbild der Stadt an. Das alte, ursprüngliche Mailand geht gerade unter, noch ist es hier und da sichtbar und Duca schildert liebevoll die ärmliche Viertel mit ihren alten, zum Teil baufälligen Häusern, die leider keine Zukunft haben, ihren charakteristischen Schänken und deren typischen Gästen. Hier hat Mailand noch seinen ursprünglichen Charme. Aber das Italien der 1960er-Jahre hatte, wie auch die junge Bundesrepublik, ihr Wirtschaftswunder. Da dachte zunächst niemand an eine moralische Erneuerung, Aufarbeiten des Faschismus: Fehlanzeige. Genau wie in der Bonner Republik wurde verdrängt und verschwiegen, zumindest verharmlost. Die alten Kader tauchten aus der Versenkung auf und besetzten erneut hohe Posten in Politik, Justiz und Verwaltung. Lehren aus den Verbrechen der gerade untergegangenen faschistischen Regimes zog kaum jemand. Die neuen Republiken nannten sich zwar nun demokratisch und die Gesellschaft gab sich auch so, tatsächlich wurden die alten Strukturen nahtlos übernommen und verinnerlicht.

Scerbanenco lässt seinen Duca Lamberti daran verzweifeln. Ihm sind die moralisch korrupten Mitglieder der privilegierten Klasse zutiefst zuwider. Der wirtschaftliche Aufschwung war verbunden mit einem tiefgreifenden sozialen Wandel. Mit der Folge, dass Mailand auch die Hauptstadt der illegalen Bordelle und der schäbigen Nachtclubs wurde, Anziehungspunkt für Verbrecher aller Art, sogar die Mafia machte sich breit. Scerbanenco beobachtet die Entwicklung mit Sorge, aber nüchtern, scharfsichtig und scharfzüngig, und er prangert die sozialen Probleme ohne jede Sozialromantik an.

Die Fälle, die Duca Lamberti beschäftigen sind ungewöhnlich, unerhört und doch alltäglich. Er hält sich schließlich häufig in den gesellschaftlichen Grauzonen auf, wo er viel gesehen und erlebt hat bei Begegnungen mit dem Bodensatz der Gesellschaft, in schummrigen Bars und Verbrecherkneipen, in einer Ambulanz für geschlechtskranke Huren und nicht zuletzt im Knast. Da trifft man dann eben auf Typen, denen man lieber nie begegnet wäre. In vielen Kriminalromanen seiner Zeit geben häufig eher schlichte, grob gezeichnete und daher leicht einzuordnende und einfach zu durchschauende Figuren den Ton an, gegen die Scerbanencos Charaktere schon recht vielschichtig und komplex erscheinen. Sein etwas hinkender Plot im vorliegenden Roman erscheint dagegen aus heutiger Sicht eher hausbacken und unspektakulär, ganz ohne erstaunliche Entdeckungen oder verblüffende Volten, dagegen schnörkellos, ehrlich und geradeaus.

Dass er nach fünfzig Jahren immer noch mit Vergnügen gelesen werden kann, liegt zum einen an Scerbanencos starken Figuren, Sie faszinieren, obwohl in ihrer Zeit verhaftet, mit zeitlosen Attributen und Attitüden. Zum anderen sind die Themen erstaunlich aktuell geblieben. Vor allem aber verblüfft der freilich punktuell überholte, gleichzeitig jedoch recht moderne Stil Scerbanencos. Hauptsächlich beeindruckt sein eleganter, fast unmerklicher Wechsel der Erzählperspektive, der Übergang von der personalen in die auktoriale Sicht und zurück. Seiner Titelfigur gibt das die willkommene Möglichkeit, sich höchst privat zu äußern, zu bewerten, zu beurteilen, zu verurteilen. Direkt, unmissverständlich, rigoros. Hier spricht ein Zweifler, ein Moralist und scharfsichtiger wie scharfzüngiger Kritiker. Ducas Kommentare triefen vor Sarkasmus, ja, Zynismus, manchmal böser Komik, aber es ist jederzeit klar, woher sein distanziertes, scheinbar unbarmherziges Auftreten rührt. In der Tat, Duca provoziert und polarisiert, und er fasziniert mit seiner unerschütterlichen und hochemotionalen Art.

Fazit: Trotz der erwähnten Schwachstellen allemal passabler, solider Krimistoff!

Rezension und Foto von Kurt Schäfer.

Der Lombardische Kurier | Erschienen am 19. Februar 2019 im Folio Verlag
ISBN 978-3-85256-756-3
256 Seiten | 18.- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Auch bei uns: Die Rezension zu Das Mädchen aus Mailand von Giorgio Scerbanenco

Christoffer Carlsson | Zeit der Angst Bd. 4

Christoffer Carlsson | Zeit der Angst Bd. 4

Abschluss der schwedischen Leo-Junker-Reihe von Christoffer Carlsson: Tristesse – resignativ

Den tunna blå linjen, so der Titel des Originals, bezieht sich auf ein Symbol der schwedischen Polizeibehörde. Es wird von Polizisten manchmal als Button auf der Uniform getragen, eine weiße Flagge auf schwarzem Grund, horizontal geteilt von einer aquamarinblauen Linie. Die obere Hälfte repräsentiert die Allgemeinheit, die Gesetzestreuen, die zum Erhalt der Gesellschaft beitragen. Die untere Hälfte stellt die Welt der Gesetzlosen, der Kriminellen dar. Dazwischen gibt es nur die Polizisten, die als Beschützer der Gesellschaft verhindern sollen, dass sich Gewalt und Anarchie in sie hinein ausbreiten. Sie sind die blaue Linie, die Barrikade zwischen Ordnung und Chaos, zwischen Leben und Tod. Aber diese Grenze ist durchlässig, und sie wird auch von Polizisten manchmal überschritten. Das ist ein wichtiges Thema Carlssons, und es spielt auch in diesem Roman eine große Rolle. Wie gewohnt erleben wir den Autor als unbequemen Mahner, der glaubwürdig Missstände im Polizeiapparat aufzeigt. Als studierter Kriminologe kennt er das Innenleben der Behörden sehr wohl und weiß, wovon er spricht, nämlich von bürokratischen Hemmnissen, von Intrigen und Inkompetenz, aber auch von falsch verstandenem Korpsgeist, von Zusammenhalt gegen Angriffe von außen genauso wie gegen Nestbeschmutzer aus den eigenen Reihen. Carlsson tritt aber vor allem auf als gnadenloser System- und Gesellschaftskritiker sowie als Chronist, der nicht nur die Probleme in seinem Heimatland, sondern immer auch das aktuelle Weltgeschehen im Blick hat und in seine Romane einfließen lässt.

Diesmal färben die Ereignisse im Herbst 2015 auf die Handlung ab, der Titel der deutschen Ausgabe spielt an auf die Stimmungslage, die angesichts der angespannten Flüchtlingssituation auch in Schweden zu kippen droht. Nach den Terroranschlägen vom 13. November in Paris, als im Bataclan-Theater und an mehreren anderen Tatorten 130 Tote zu beklagen waren, sind die Bürger schockiert und besorgt, und als das Gerücht die Runde macht, dass auch in Stockholm ein Attentat geplant sei, bricht Panik aus. Sämtliche verfügbaren Polizeikräfte sind abkommandiert, um die muslimischen Kreise der Hauptstadt mit allen Mitteln zu beobachten und zu überwachen. Dabei herrscht sowieso schon Chaos bei den Ordnungshütern; seit einem Jahr läuft die Umstrukturierung des schwedischen Polizeiwesens, aber sie läuft komplett aus dem Ruder. Wahllos werden die Mitarbeiter in die verschiedensten Dezernate geschickt, so dass sie nicht einmal das Wichtigste erledigen können. Im Morddezernat beispielsweise ist man schon lange am Anschlag vor Überlastung.

So ist die Leiterin der Abteilung, Anja Morovi, überhaupt nicht begeistert von der Bitte eines ihrer Kriminalbeamten, einen alten Fall noch einmal aufrollen zu dürfen, dessen Akten nach ergebnislosen Ermittlungen im Archiv verstauben und in Kürze an die Abteilung für Cold Cases übergeben und endgültig begraben werden sollen. Immerhin kann sie sich dem Argument nicht verschließen, dass es der Mordkommission gut zu Gesicht stünde, wenn der ungelöste Fall in letzter Minute aufgeklärt werden könnte. Also gibt sie ihre Zustimmung, Leo Junker bekommt zwei Wochen Zeit, um gemeinsam mit seinem Partner Gabriel Birck den Mord an einer Prostituierten aufzuklären, der vor fünf Jahren Berge von Ermittlungsakten füllte, die schließlich ergebnislos geschlossen wurden. Damals war Leo gar nicht mit den Untersuchungen befasst, seine Beweggründe, sich jetzt doch noch mit dem Verbrechen an der jungen Frau zu beschäftigen, behält er vorläufig für sich. Er wühlt nämlich nur widerwillig und auf Drängen seines alten Freundes John Grimberg in einigen laufenden Metern Archivkartons.

Mit ihm ist Leo aufgewachsen, in einem sozialen Brennpunkt der Hauptstadt, sie wurden beste Freunde und niemand kannte ihn so gut wie Grim, der ihm umgekehrt immer ein Rätsel blieb und irgendwann sein schlimmster Feind wurde, der ihn sogar töten wollte und seine Freundin Sam schwer verletzt. Grim landete schließlich im kriminellen Milieu, während Leo Polizist wird und eine beachtliche Karriere macht, bis er bei einem missglückten Einsatz aus Versehen einen Kollegen erschießt. Das traumatische Erlebnis hat einen steilen Abstieg zur Folge, es folgen Tablettensucht, Alkoholabhängigkeit, Suspendierung vom Dienst und eine schwere Krise in der Beziehung mit Sam. Leo ist ganz unten angekommen, da wird er angeschossen und liegt schwer verletzt im Krankenhaus, als er überraschend Besuch von Grim bekommt. Der sitzt zu dieser Zeit in der Forensischen Psychiatrie ein und erzwingt sich einen Freigang, um den Freund zu besuchen, der vielleicht sterben wird. Unter den Augen seiner Bewacher löst er sich in Luft auf und bleibt anschließend wie vom Erdboden verschwunden.

Das war vor gut einem Jahr, inzwischen hat Leo unter großer Anstrengung seine Sucht überwunden, sein Verhältnis zu Sam scheint sich zu normalisieren und vor allem, er darf nun wieder ganz offiziell bei der Kripo arbeiten. Plötzlich meldet sich Grim, nach dem immer noch gefahndet wird, aus dem Untergrund und verlangt einen Freundschaftsdienst von ihm. Nach einigem Zögern tut er ihm den Gefallen und bringt sich damit in größte Schwierigkeiten. Leo kann selbst nicht begründen, warum er seinen alten Freund schützt, denn dass er den Kontakt zu ihm verheimlicht, ist Strafvereitelung im Amt. Grim, so glaubt er, ist der Einzige, der ihn je verstanden hat. In ihm sieht Leo fast ein Spiegelbild seiner selbst, glaubt, dass sie einander ganz gleich sind, er kein Bisschen besser als Grim. Später wird er erkennen, dass der Freund ihn nur benutzt hat, nicht zum ersten Mal. Als er ihn fragt, warum, antwortet der: „Weil ich es nie lerne“. Aber auch Leo wiederholt seine Fehler, so belügt er seine Freundin und verheimlicht ihr, dass ihr alter Feind wieder da ist. Sam zieht aus der gemeinsamen Wohnung aus, um über ihre Beziehung nachzudenken. Schließlich wird sie zurückkehren, um Leo noch eine letzte Chance zu geben.

Warum Grim unbedingt ihm so zusetzt, damit er den Fall des Prostituierten-Mordes noch einmal untersucht, wird Leo erst klar, als er erkennt, dass sein Freund damals selbst an dem Geschehen beteiligt war. Aber welche Rolle hat er gespielt? Gabriel Birck ahnt von den Zusammenhängen nichts, er beteiligt sich eher lustlos an den Recherchen, zumal die Ermittler am eigenen Leib erfahren müssen, wie heikel und schwierig ihre Arbeit gegen Widerstände im eigenen Haus und gegen den Willen der Führungsetage ist. Der Grund hierfür wird klar, als sie erkennen müssen, dass auch mehrere Kollegen offenbar in die Vorgänge verwickelt waren. Je mehr sich Leo und Gabriel in den Fall verbeißen, desto fraglicher wird, ob sie wirklich genug Beweise sammeln können, um den Täter zu überführen. Ihre Verdachtsmomente gründen sich hauptsächlich auf vage Hinweise aus den Archiven, in denen sie eine mühsame Suche nach Spuren aufnehmen, denen die Kollegen seinerzeit nicht nachgegangen sind. Auch wenn sie wenig in der Hand haben, können sie ihre Chefin überzeugen, insgeheim weiterforschen zu dürfen.

Und so studieren sie weiter geduldig die fünf Jahre alten Niederschriften, lesen ein ums andere Mal die Verhör-Protokolle und Befragungsnotizen, schauen sich Aufnahmen vom Tatort an. Akribische, alltägliche Polizeiarbeit also, realistisch dargestellt und entsprechend nüchtern, fast monoton, ohne die ganz große Spannung kommt der Plot daher, ohne mitreißende, fesselnde Szenen kommt die Krimihandlung aus, die zudem immer wieder in den Hintergrund rückt. Das führt dazu, dass der Plot nur mühsam, geradezu lethargisch entwickelt wird und auch der Stil Carlssons passt sich der Grundstimmung an, ist unaufgeregt, langsam, fast ein wenig müde. Es scheint, als fiele dem Autor nicht mehr viel zu seinem Protagonisten ein, der nun über vier Bände hinweg einen weiten Handlungsbogen trägt, der nun sein wohlüberlegtes und wohl folgerichtiges Ende erreicht.

Waren die ersten Romane der Leo-Junker-Reihe noch geprägt von einem Wust an Figuren und Handlungssträngen und damit verbunden mit einem hektischen hin und her zwischen Gegenwart und Vergangenheit sowie ständigen Perspektivwechseln, so konzentriert sich Carlsson diesmal ganz und gar auf Leo und die wenigen Personen, mit denen er im Hier und Jetzt zu tun hat. Wenn Ereignisse aus der Vergangenheit eine Rolle spielen, so sind es Leo oder Grim, die sich daran erinnern und davon erzählen. Für den Kenner der Reihe lässliche Reminiszenzen, für Neueinsteiger eher zu dürftige Informationen über die doch recht komplexen Zusammenhänge. Es empfiehlt sich daher, die Romane in der Reihenfolge ihres Erscheinens zu lesen, denn es gibt einen Handlungsbogen, der sich über alle vier Romane hinweg ausbreitet und die Entwicklung der wichtigsten Personen und ihre Beziehung zueinander einschließt. Dies betrifft natürlich vor allem die besondere Verbindung zwischen Leo und Grim, ihr persönliches Drama, das hier etwas nachdenklich, wehmütig, melancholisch erzählt wird. Neben und noch vor der soliden Krimihandlung ist es dieses merkwürdige Verhältnis, das die Substanz dieses abschließenden Bandes ausmacht. Leo versucht, sich über die Verbindung zu seinem Freund Grim klar zu werden, diese merkwürdige, anstrengende und häufig schmerzhafte Beziehung zu verstehen und für sich einzuordnen. Oft genug wurde seine Loyalität auf die Probe gestellt, wurde er hintergangen und die Freundschaft verraten. Ist es möglich, all das zu verdrängen, die Verletzungen zu vergessen, trotz aller Differenzen die Gemeinsamkeiten in den Vordergrund zu stellen? Leo träumt von einer harmonischen Zukunft mit Grim, aber er weiß, dass es die nicht geben kann, zu weit haben sie sich voneinander entfernt. Schließlich wird ihm die Entscheidung abgenommen.

Leo Junker , dieser eigenartige, melancholische, manchmal fragwürdige und oft schwierige und problematische Charakter, den ich nie vollständig verstanden habe und selten uneingeschränkt sympathisch fand, ist mir bei diesem letzten Auftritt irgendwie näher als in den vorigen Romanen. Am Ende scheint Leo, der immer auch verunsichert, von Selbstzweifeln und Schuldgefühlen geplagt war, bei sich angekommen zu sein und mit sich im Reinen. Während die vorhergehenden Bücher immer mit einem Fragezeichen endeten, zieht Carlsson diesmal einen klaren Schlussstrich. Das Ende der Geschichte von Leo und Grim ist nicht frei von Tristesse und der Blick auf Leos berufliche wie auch private Perspektive ziemlich pessimistisch und fast resignativ, auch wenn für den Moment fast alles im Lot scheint. Mehr werden wir nicht erfahren, lautet das Resümee.

Mein Fazit für „Zeit der Angst“ lautet: Nicht der stärkste Band der Reihe.

 

Rezension und Foto von Kurt Schäfer.

Zeit der Angst | Erschienen am 24. September 2018 im Verlag C. Bertelsmann
ISBN 978-3-570-10344-9
368 Seiten | 15.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Auch bei uns: Die Rezensionen zu den vorangestellten drei Teilen Der Turm der toten Seelen (Bd. 1), Schmutziger Schnee (Bd. 2) und Der Lügner und sein Henker (Bd. 3)

Natasha Korsakova | Tödliche Sonate

Natasha Korsakova | Tödliche Sonate

Tödliche Sonate ist der Debütroman der international bekannten Violinistin Natasha Korsakova, welcher in Rom spielt. Der Roman ist eine Mischung aus Kriminalroman und historischer Erzählung über den wohl bekanntesten Geigenbauer – Antonio Stradivari, dessen Instrumente einen Millionenwert darstellen. Man spürt in dem Buch die Begeisterung der Autorin für die Geige, sozusagen „ihrem“ Instrument.

Commissario Di Bernardo ermittelt in dem Mord an der bekannten Musikagentin Cornelia Giordano, die in ihrem Büro brutal niedergestochen wurde. Gefunden wurde sie von ihrer Sekretärin, die das Haus nur kurz für Einkäufe verlassen hatte. Diese erzählt dem Commissario, dass es an dem Abend kurz vor dem Mord einen Streit gab zwischen Cornelia und ihrer Nichte Arabella Giordano, einer bekannten Geigerin. Bei der Befragung von Arabella erfährt Di Bernardo, dass es wohl auch Auseinandersetzungen der Toten mit ihrem jüngeren Sohn Boris gab, der wegen Drogenhandel eine Gefängnisstrafe abgesessen hatte. Im weiteren Verlauf der Handlung ergeben sich weitere Verdächtige – die mächtige Konzertagentin war wohl alles andere als beliebt. Ein Überfall auf Arabella macht die Ermittlungen für Di Bernardo auch nicht einfacher und die Hinweise verdichten sich, dass ein Geheimnis um eine Stradivari eine Rolle spielen könnten.

Die Autorin Natasha Korsakova hat in Ihrem Roman zwei Handlungsstränge verknüpft: die Mordermittlungen in der Jetzt-Zeit und der in der Vergangenheit spielenden, gut ausgedachten Geschichte um eine geheimnisvolle Stradivari. Dies vermittelt einen Einblick in die Welt der berühmten Geigenbauer und sorgt gleichzeitig für die für einen Krimi nötige Spannung. Auch die Personen sind gut gezeichnet, allen voran die des Commissario Di Bernardo (der sich aus Kalabrien nach Rom versetzen ließ, um den blutigen Mafia-Morden zu entgehen). Der Schauplatz Rom plus Umgebung kommt in der Geschichte auch nicht zu kurz, die Atmosphäre ist deutlich zu spüren.

Fazit: Sowohl für Krimifans als auch Musikliebhaber ein Lesevergnügen; ein gelungenes Debüt!

Natasha Korsakova, spielt seit dem fünften Lebensjahr Violine, sie studierte zunächst am Moskauer Konservatorium, später dann auch in Nürnberg und Köln. Bereits in jungen Jahren erhielt sie mehrere Preise, ab 1994 folgten ihre Debüts u. a. an der Berliner und Kölner Philharmonie und dem Leipziger Gewandhausorchester. Auch international wurde sie bekannt, u. a. wurde sie 1998 in Chile als Künstlerin des Jahres ausgezeichnet.

 

Rezension und Foto von Monika Röhrig.

Tödliche Sonate | Erschienen am 8. Oktober 2018 im Heyne Verlag
ISBN 978-3-453-42267-4
448 Seiten | 12.99 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Alexandra Kolb | Rindviehdämmerung

Alexandra Kolb | Rindviehdämmerung

Rindviehdämmerung, ein bayerischer „Heimatthriller“.

Schon die Eingangsszene macht klar, dass wir es hier weder mit einem Heimatroman, noch mit einem Thriller zu tun haben, das vom Verlag Edition Tingeltangel als Heimatthriller apostrophierte Buch „mit Akte X- und Twin Peaks-Touch, starken Charakteren, Witz und Verstand“ entpuppt sich schnell als schwer verdaulicher Mischmasch aus allen möglichen Genres der populären Unterhaltung, ein Durcheinander aus Kriminal- und Horror-Roman, Fantasy- und Geistergeschichte, Actionthriller, Heimat- und Familienroman. Frau Kolb glaubt offenbar „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“, und so macht sie einiges anders, aber nichts besser. Dabei versucht die Autorin wahlweise Spannung oder Gänsehaut zu erzeugen, zu schockieren oder zu rühren, cool zu sein oder auch komisch, aber das ist ein bisschen viel gewollt und wenig gekonnt, deshalb gelingt es nicht. Wenn man ohne Witz schreibt, wird es nicht komisch, und oberflächlicher Grusel löst keine Spannung aus, ebenso wie die immer gleichen Schock-Elemente auf die Dauer nicht mehr verstören, sondern nur noch verärgern.

Die „starken Charaktere“ sind in Wahrheit stark überzeichnet, und, ehrlich gesagt, lassen sie sowohl Witz als auch Verstand zum großen Teil vermissen. Mehr als zwanzig Figuren bedienen unterschiedlichste Klischees, da bleibt die eine oder andere naturgemäß recht blass. Die Hauptdarsteller hingegen fallen allesamt aus dem Rahmen, sind auffallend anders, haben Schrullen und Ticks, oder, wie Kathi sagt, „einen an der Waffel“. Kathi ist Bedienung im örtlichen Wirtshaus „Küchlein“, zu ihrer Mutter hat sie ein herzliches, aber etwas distanziertes Verhältnis. Sie sieht den missionarischen Eifer kritisch, mit dem „Tara“, wie sich Gertrud Mühlbauer nennt, nicht nur ihre Tochter zu einem besseren, vor allem gesünderen Leben bekehren will. Sie betreibt im Ort eine Bioladen, in dem sie auch allerlei esoterischen Krimskrams verhökert. So wie sie sind viele Figuren ausgesprochen plakativ gezeichnet. Das macht sie, obwohl gar nicht unsympathisch, zunehmend unglaubwürdig, unwirklich.Wohl hat man hat ein Bild, kann aber keine Beziehung aufbauen, dazu sind die Personen nicht echt genug. Ihr Verhalten bleibt häufig unbegreiflich, es passiert zu viel Unerklärliches, Unerklärtes. Sie sollen dem Leser näher gebracht werden, indem ständig ihre Gedanken und Vorstellungen vermittelt werden, der innere Monolog ersetzt in diesem Buch fast vollständig den Dialog. Leider, denn es ist tatsächlich oft mühsam, den zudem häufig abschweifenden Überlegungen zu folgen, weil sie den Fortgang des sich mühsam fortschleppenden Plots immer wieder hemmen.

Der beginnt mit einer beispielhaften Szene: Die Frau des „Brezn-Barons“ Bertram Bachinger kommt ums Leben, auf höchst seltsame, spektakuläre Weise. Der Leser erlebt ihren Tod hautnah mit, kann das Geschehen aber nicht deuten, ebenso wenig ihr Gatte, und auch die Polizei steht vor einem Rätsel. Daher gerät für kurze Zeit Kathi in ihr Blickfeld, hinter vorgehaltener Hand munkelt man auf dem Revier von Psychosen und schlimmer Kindheit. „Komplett durchgeknallt“, heißt es. Sie hörte schon als Kind Stimmen, sie unterhielt sich stundenlang mit allen Tieren und Pflanzen, und sie sah… Dinge. Es begann, als sich ihre Eltern trennten, zu ihrem Vater hat sie seither keinen Kontakt. Der ist geistiger Führer einer Sektenkommune und nennt sich „Shiva Sonnensohn“, als Kind stand Kathi unter seinem unheilvollen Einfluss. Als Folge ihres Aufenthaltes bei den „Sonnenjüngern“ leidet sie an einer Borderline-Störung. Und zwar mit sämtlichen bekannten Symptomen, da lässt Frau Kolb kaum etwas aus. Kathi hat wiederholt versucht, sich umzubringen, hat sich eine Zeit lang geritzt, leidet unter Depressionen und Wahnvorstellungen. Viele Jahre lang war sie in verschiedenen Kliniken, dank der Behandlungen und hochdosierter Medikamente waren die Stimmen leiser geworden, die ihr befahlen, sich zu töten. Schließlich glaubte sie, geheilt zu sein, aber nun sind die Stimmen wieder da. Als ihr Auto streikt und sie in der Dunkelheit querfeldein nach Hause laufen muss, wird sie von einer Kuh angesprochen. Kathi bekommt Angst.

Am nächsten Morgen stehen Polizisten vor ihrer Wohnung beim fiesen Vermieter-Ehepaar Mollinger. Sie ermitteln im Fall der toten Frau Bachinger, an deren Anwesen ist Kathi Kathi auf ihrem nächtlichen Heimweg vorbei gelaufen. Sie ist empört über die Nachfragen der Ermittler, ihr Freund Joshi, ein schwuler Punk, ist hingegen entzückt von Andreas Doldinger, einem Kommissar aus Darmstadt, der die hiesige Dienststelle seit neuestem verstärkt. Andi hat eine etwas spleenige Herangehensweise an seine Ermittlungen: Er sucht die „Seele“ des Tatorts und meint damit ein diffuses Gefühl, das er bekommt, wenn er einen unbekannten Raum betritt, eine Mischung aus der „Energie“ und dem Geruch darin. Gesichter offenbaren ihm, was sich zum Tatzeitpunkt zutrug. Seltsam genug. Ansonsten ist er bemüht, ruhig und professionell zu arbeiten, aber in der Villa des Brezn-Barons:

Ein Schritt in den Raum, und dieser begann sich zu drehen. Mittig lag die Tote in grotesk verrenkter Haltung, so wie sie in ihren letzten Lebenssekunden gekämpft hatte. Die Gegner waren überall. Klein und gemein, von Rache beseelt und mit der Absicht, ihr kein leichtes und schnelles Ableben zu gönnen. Er konnte es beinahe sehen… Die Szenerie floss in ihn hinein, erklärte sich ihm auf eine Art, die er verstand, aber nicht erklären konnte. Angst, Zorn, Trauer, Rache… Ein Mord aus Rache. Sühne! (Zitat)

Die kursiv gesetzten Passagen geben die Gedanken der Handelnden wieder, wird es laut oder besonders emotional, kommen Majuskeln zum Einsatz. Und beides ist ständig der Fall, denn es wird sehr viel geschrien, gekreischt, gequiekt, auch in Gedanken, denn es herrscht ständig eine Atmosphäre von Angst und Schrecken, von Grauen und Terror. Die wird hervorgerufen durch das Auftauchen von allerlei Monstern und Ungeheuern, von Untoten und Wiedergängern, plötzlich haben auch einige Personen aus Kathis Umfeld seltsame Erscheinungen, geraten in Panik vor Furcht einflößenden Gestalten, sehen Tiere, die tot sind und nicht tot, wilde Tiere aus dem Wald, wie sie in der Hütte von Kathis Großmutter präpariert an der Wand hängen oder ausgestopft auf den Vitrinen standen, Trophäen des Großvaters, eines passionierten Jägers.

Lore Mühlbauer lebt in ihrer Forsthütte mit der alternden Schäferhündin Frau Schmitt, liebevoll „Schmidi“ genannt. Mit dem Tierarzt Valentin Müller hat sie schon seit Jahren eine heimliche Beziehung. Ebenso lange veranstaltet sie für Leichtgläubige rituellen Hokuspokus wie Liebeszauber, blickt in die Zukunft, legt die Karten, dazu präsentiert sie eine Menge Räucherstäbchen und angeblich magische Gegenstände. Auch Oberkommissar Gustl Schallhuber, Andis Vorgesetzter, holt sich, um seine Fälle zu klären, heimlich Rat bei ihr. Als eine Bekannte sie schließlich drängt, Verbindung mit dem Jenseits aufzunehmen, um in Kontakt mit ihrem verstorbenen Dackel Erwin zu treten, erweisen sich die Folgen ihres Rituals als fatal!

Frau Schmitt bemerkt als erste die beunruhigenden Veränderungen. Wer immer schon wissen wollte, wie Tiere denken und fühlen, bei Alexandra Kolb erfahren wir es. Ganz genau können wir miterleben, wie die liebenswerte Schäferhündin in den unheilvollen Strudel von Hexerei, schwarzer Magie und ihren bösen Ergebnissen hineingezogen wird, weil sie uns ihre sämtlichen Gedanken, Überlegungen und, ja, Gefühle mitteilt. Auch Anne Bonny, mit der Kathi sich jetzt öfter unterhält, ist im Bilde. Ihren Namen hat sie nach der legendären Piratin. Als einzige scheint sie besonnen und reflektiert, während alle anderen zunehmend hektisch und hysterisch reagieren.

Sind das lediglich Hirngespinste, bilden sich all diese mündigen Personen die beunruhigenden Phänomene nur ein oder geschieht hier etwas übersinnliches, ist wirklich Hexerei im Spiel? Ist der Leser zunächst ratlos, im Unklaren darüber, was nun Wirklichkeit ist und was Illusion, so scheint bald klar zu sein, dass ein Plan hinter den mysteriösen Vorkommnissen steckt, eine böse Absicht: Andi ist offenbar auf der richtigen Spur, denn dass die Ermittler im Fall Bachinger mangels anderer Erklärung offiziell von einem Unfall mit Todesfolge ausgehen, erweist sich als vorschneller Schluss. In schneller Folge gibt es eine Reihe von Todesfällen, die wie Unfälle aussehen, aber es sieht auch so aus, als habe da jemand nachgeholfen mit dem Ziel, Rache zu nehmen an Menschen, die in der Vergangenheit Schuld auf sich geladen haben. Was folgt, kann man ahnen: Immer mehr Schock-Momente, immer krassere Effekte, immer dicker aufgetragen, einfach „drüber“ und deshalb wenig wahrhaftig oder wirklich. Auch die ständig neuen „Rätsel“ sind dem Leser gar nicht mehr so rätselhaft, nach und nach ist das Strickmuster klar, der immer gleiche Horror wird allmählich durchschaut, auch wenn die reichlich wirren Gedankengänge der Protagonisten, häufig bruchstückhaft, oft auch abschweifend und irreführend, den Leser eigentlich in Atem halten sollen. Tatsächlich ist diese Erzählweise aber nicht geeignet, die Spannung hoch zu halten, sondern zeugt nur von Schwächen bei der Konstruktion der Geschichte.

Dabei ist die auf ihre Art sogar recht plausibel, ja, man darf sagen stringent, wenn man sich denn einlässt auf den bizarren Ansatz der Autorin, wenn man die schaurigen Kreaturen, die Dämonen, Untoten und Wiedergänger, wenn man den ganzen haarsträubenden Unsinn annimmt, dann wird man finden, dass der Plot tatsächlich Hand und Fuß hat, in sich schlüssig ist, vollkommen logisch, wenn nicht der ganze Hokuspokus immer wieder unbegründet, unmotiviert, vor allem uninspiriert stattfände, lediglich als billiger Effekt. Man kann einfach nicht glauben, was da passiert, oder besser, man kann es nicht ernst nehmen! Wäre all das wirklich unwirklich, unheimlich, könnte die Geschichte funktionieren, aber so will sich der Grusel nicht einstellen, die Schreckensbilder und Horror-Szenen wirken unfreiwillig komisch. Vielleicht hätten sie mit einem kleinen Augenzwinkern besser funktioniert, aber die Autorin nimmt ihre Gruselgestalten ernst, sie will offenbar wirklich erschrecken, nur gelingt ihr das mit derart überzogenen und gleichzeitig sich wiederholenden und abnutzenden Effekten nicht. Dazu bleibt die Erzählung zu sehr an der Oberfläche, zu wenig subtil und nuanciert, nicht hintergründig genug, zu eindimensional und monothematisch.

Immerhin ist der schwer verdauliche Stoff gut lesbar, dafür sorgt ein sehr einfacher, unprätentiöser Stil, man könnte auch sagen, die Ausdrucksweise ist sprachlich einigermaßen dürftig, bieder, mitunter ungewandt, manchmal aber auch mit Bildern, die im Bemühen um den besonders originellen Eindruck über das Ziel hinausschießen und so ungewollt für Heiterkeit sorgen. Die folgenden Zitate mögen stellvertretend als Beispiel für manch ähnliche Entgleisung dienen:

Kurz nachdem sie in den Wald getreten war, beschränkte sich die Sicht bereits auf schwach flackernde Flecken, der Rest bestand aus Schatten und Baumstämmen, die wie finstere Säulen einer Kathedrale des Bösen wirkten, ansonsten herrschte Finsternis.

Gleich einem bösen Karussell kam Kathi der Gedanke wieder und wieder. Bei jeder Wiederholung wurde er lauter und gemeiner.

Vor ihren Augen flimmerte es und in ihren Ohren rauschte es, als ob sie sich inmitten eines Orkans befand. Sie blickte um sich und fühlte die Hoffnungslosigkeit in sich wachsen.

Kathi fühlte, wie sie taumelte. Die Beine gaben nach, das Summen in den Ohren nahm zu und die Welt begann sich zu drehen. Etwas in ihr tat sich auf und brach entzwei.

Während Andi sie voran zog, senkte sich ein bleischwerer Schleier über Kathi. Gleichzeitig öffnete sich etwas in ihr und gab das Erkennen frei auf Dinge, die sie noch mehr ängstigten als sprechende Kühe.

Gleich abertausenden von Wespen brach in einem einzigen großen Schwarm die Erkenntnis hervor, während sich in ihrem Kopf in einem immer wieder kehrenden Echo die Worte wiederholten.

Hier befinden wir uns also bereits in der entscheidenden Schlacht unserer wackeren Helden gegen die Mächte der Finsternis. Gut, dass Andi mittlerweile sein Herz für Kathi und ihre schräge Familie entdeckt hat und sich mächtig ins Zeug legt, um sie zu schützen. Jetzt endlich kommt eine gewisse Spannung auf , auch wenn die verzweifelten Versuche, sich der Attacken der Monster zu erwehren, reichlich ausführlich und reißerisch in Szene gesetzt werden. Zum Thriller wird der Roman deshalb noch lange nicht, dazu wird der grundlegende Konflikt zu vordergründig abgehandelt, eine subtilere Darstellung wäre hier ein Gewinn. Schade, so wurde eine eigentlich interessante Idee verschenkt, weil nicht gut umgesetzt. Aber das kann ja noch werden, eine Fortsetzung scheint nach dem offenen Ende der Rindviehdämmerung jedenfalls möglich, der Albtraum ist offenbar noch nicht zu Ende.

Ich bin sicher, dass nicht wenige Leser sich für diese etwas andere Idee von Krimi begeistern können und auf den nächsten „Heimatthriller“ von Alexandra Kolb warten. Ich kann allerdings wenig anfangen mit diesem merkwürdigen Entwurf. Für den Rinderwahn deshalb von mir lediglich 2 Sterne.

 

Rezension und Foto von Kurt Schäfer.

Rindviehdämmerung | Erschienen am 3. Juli 2018 im Verlag Edition Tingeltangel
ISBN 978-3-944936-28-4
324 Seiten | 14.90 Euro
Bibliografische Angaben, Leseprobe & Buchtrailer

Anne Goldmann | Das größere Verbrechen

Anne Goldmann | Das größere Verbrechen

Eine ungewöhnliche Autorin, ein besonderer Krimi und vor allem ein außerordentlich guter Roman, eine packende Geschichte über das Schicksal dreier Frauen, die sich zwischen den Genres hin- und herbewegt, ohne dass eine genauere Zuordnung wichtig wäre.

Dieser Kriminalroman kommt ohne einen Ermittler aus, ohne den Polizei- und Justizapparat. Kommissariat und Untersuchungsgefängnis sind zwar Schauplatz, geben aber vor allem Kulissen ab, die kurzen Auftritte dort sind gestaltet wie andere Alltagsszenen dieses Romans auch, die etwa im Altenheim spielen oder im Krankenhaus, der Fokus ist immer auf die Personen gerichtet, ob handelnd oder nur duldend, stets sind es die Menschen und ihre Schicksale, die vor allem interessieren und deren Erleben und häufig Erleiden den Leser faszinieren. Denn ohne Opfer geht es auch bei Anne Goldmann nicht, nicht ohne Tote, nicht ohne Ermordete und somit auch nicht ohne Mörder, Massenmörder sogar. Täter wie Opfer geraten fast zwangsläufig, zumindest folgerichtig in ihre fatale Situation, und die wahren Opfer sind immer Frauen, die unterdrückt werden, schikaniert, ausgenutzt von Männern.

Selma Sudic ist vor über 20 Jahren aus ihrer Heimat Bosnien geflohen, der grausame Krieg hat die Muslima vertrieben, fast ihr gesamtes Dorf wurde ausgelöscht, ihre gesamte Familie umgebracht. Sie selbst wurde in einem Lager interniert, wie die anderen gefangenen Frauen immer wieder gequält und vergewaltigt. Sie weiß: Die Männer sind überall gleich. Die Menschen sind überall gleich. Im Guten wie im Schlechten. Der Krieg verändert die Menschen, sie verrohen, entdecken ihre Lust am Quälen, am Töten. Auch sie hatte geglaubt, dass der Mensch sich an alles gewöhnt, aber nun weiß sie, dass das nicht stimmt. Sie hatte sich an den Schmerz gewöhnt, an Hunger und Durst, an die Schläge, den Gestank. Aber niemals konnte sie sich an die Toten gewöhnen, nicht an die gebrochenen Augen, die zerstörten Gesichter, die grotesk verrenkten Glieder. Eine Krankenschwester, auch aus Bosnien, berichtet ihr: Meine Mutter kann nicht schlafen, sie ist nicht mehr das, was sie war. Im Fernseher hat sie die Täter gesehen, sie lächelten in die Kamera. Aber sie, sagt sie, sind stark, sie haben überlebt. Aber auch Frau Sudic wird heimgesucht von grauenhaften Bildern, entsetzlichen Eindrücken. Daher klammert sie sich an andere Vorstellungen, andere Gerüche und Erinnerungen.

Frau Sudic war ein glückliches Kind. In der Rückschau reiht sich ein Fest an das andere. Als junge Frau geht sie weg, sie ist frei, lernte, reiste durch ganz Jugoslawien. Ihre Oma rieb sich auf, um die Familie zusammenzuhalten. Die Mutter wiederholte die Fehler, schuftete und ordnete sich unter. Die junge Selma hatte geschworen, sich niemals einem Mann zu beugen, aber das gelingt nicht. Der schreckliche Krieg änderte alles. Nun dauern all ihre Tage viel zu lang, sie sitzt am Fenster, sieht die Tageszeiten, die Jahreszeiten. Sie verlässt auch das Haus kaum noch, fühlt sich in ihren vier Wänden beschützt. Am liebsten ist sie allein, erträgt ihr Schicksal, ohne zu klagen. Sie hat Angst davor, auf andere angewiesen zu sein, ausgeliefert.

Immer Mittwochs bekommt sie Besuch von Putzhilfe Ana, die auch kleine Handreichungen und Besorgungen für die alte Dame erledigt. Alle drei Tage kommen zudem wechselnde Pflegekräfte. Ana jobbt nur, um die Zeit bis zur Zulassung an der Kunstakademie zu überbrücken, sie ist eine sehr begabte Malerin. Und auch sie schleppt ein Trauma mit sich herum: vor vielen Jahren hat sie ihren Chef aus dem Fenster gestoßen und so getötet, als dieser sie bedrängte und sexuell belästigte. Vor Gericht entlastet sie aber eine Kollegin mit einer Falschaussage. Sie versucht, das Geschehene zu verdrängen, aber nachts ist sie mit ihren Gespenstern allein. Aus ihrer traurigen Wirklichkeit flieht sie in die Glitzerwelt der Disco: Dort fällt alles von ihr ab, an der Bar und auf der Tanzfläche kann sie vergessen, lebt nur für den Augenblick und ist fast glücklich.

Ana putzt auch bei Familie Rössler, Theres und Thomas sind ein Paar Mitte, Ende Dreißig, das mühsam den Anschein einer glücklichen Familie wahrt, obwohl Thomas seine Frau betrogen hat, aber das wird zwischen ihnen mittlerweile totgeschwiegen, Thomas ist schon lange nicht mehr schuldbewusst, hält seiner Frau vor, auch Fehler gemacht zu haben, und das wirft sie sich auch selbst vor. Sie war kleinmütig, feige, hat in ihren Augen versagt. Immer war sie es, die bei Problemen eingelenkt hat, zurücksteckte. Eine Ehe gibt man schließlich nicht so einfach auf. Und so macht man in heile Welt, Harmonie ist das Wichtigste. Ihre Tochter Nina ist Fünfzehn, ein typischer Teenager, ganz normal, dass sie im Moment etwas „schwierig“ ist. Aber sie ist auch ein Mädchen, das sich auflehnt, aufbegehrt gegen ihre Eltern, sich empört und widersetzt. Auch das normal für eine Fünfzehnjährige. Und Nina durchschaut die Eltern, sie wirft ihnen vor, bloß nichts riskieren zu wollen, bloß nirgends anzuecken. „Ihr seid so feig, so unfassbar feig!“ Tatsächlich wird nichts hinterfragt oder gar in Frage gestellt, man zieht sich ins Schneckenhaus zurück wie die pubertierende Nina, die sich in ihrem Zimmer einschließt, wenn es unangenehm wird und sie sich unverstanden und unterdrückt fühlt.

Theres hat sich angewöhnt, Schwierigkeiten zu ignorieren, Ärgernisse auszublenden, sie klammert sich an Gewohnheiten. Theres arbeitet halbtags, macht daneben ehrenamtlich Besuchsdienste bei älteren, einsamen Menschen und will nun auch noch Strafgefangene betreuen. Thomas hält ihr Engagement für übertrieben und ist strikt gegen ihre Pläne. Er selbst hat eine eigene Schreinerei und ist damit vollkommen ausgelastet. Wie Goldmann diese wohlgeordnete und doch so trügerische, brüchige Scheinwelt schildert, ist entlarvend, aber auch beunruhigend, ja, beängstigend, weil wahr. Das traurige Familienleben hinterlässt gleichwohl ein Gefühl von Bedauern und Mitleid. Das traurige Schicksal der Frau Sudic hingegen macht eher wütend. Ihre erschütternden Erlebnisse berühren und wühlen auf, die drastischen und doch seltsam nüchternen Schilderungen der Kriegsgräuel sind so bewegend wie beängstigend und wirken nach.

Sexuelle Gewalt, systematisch angewendet, ist schon immer und noch immer ein schlimmes Verbrechen. Nicht zufällig ging vor wenigen Wochen der Friedensnobelpreis 2018 an den kongolesischen Arzt Denis Mukwege, der sich für Mädchen und Frauen einsetzt, die Opfer sexueller Gewalt wurden und die irakische Menschenrechtsaktivistin Nadia Murad, die entführt und als Sex-Sklavin gefoltert wurde. Heute ist sie UN-Sonderbotschafterin und kämpft für die Beendigung sexueller Gewalt als Kriegswaffe.

Bei Anne Goldmann stehen stets Frauen im Mittelpunkt ihrer Romane, und oft schleppen sie Traumata mit sich herum, müssen in ihrem ganz normalen, illusionslosen Alltag versuchen, Erlebtes und Erlittenes zu verarbeiten und können doch nur weitermachen, weiterleben, indem sie versuchen, die verdeckten, versteckten Erinnerungen zu verdrängen und ihre Ängste zu vergessen. Aber in ihren Wachträumen und Albträumen werden sie heimgesucht von den Gespenstern der Vergangenheit. Weil die dort lauernden Schrecken die Frauen niemals loslassen und immer wieder in ihren Alltag einbrechen, ist es nur folgerichtig, dass ständige Zeitsprünge das frühere Leben der drei Protagonistinnen zeigen.

Anne Goldmann beantwortet nicht jede Frage, hält sich nicht an jedem Detail auf, sondern hält sich auch einmal zurück, lässt weg, was eh klar ist, lässt aus, was der Leser mit seiner Fantasie und eigener Vorstellungskraft auch ergänzen kann. Dabei ist sie eine feine Beobachterin, hat ein gutes Auge auch für kleine Gesten und alltägliche Ereignisse, die sie genauestens zu Papier bringt, unaufgeregt, zurückgenommen, ruhig und bedächtig. Diese vielen kleinen, intensiven Alltagsszenen arrangiert sie abwechslungsreich und spannend, immer wieder die Perspektive wechselnd, und das in einer sehr klaren, deutlichen, einfachen und direkten Sprache, die dennoch poetisch sein kann, aber auch brutal und schonungslos, wenn sie die grausamen Kriegsereignisse schildert. Dagegen beschreibt sie die Szenen aus der Gegenwart der Frauen eher nüchtern, sachlich, emotionslos, und doch oder gerade deshalb berührt ihr Schicksal.

Diese gedemütigten, schwachen, zweifelnden und manchmal verzweifelten Frauen werden schonungslos ehrlich und sehr genau, durchaus mit Sympathie aber auch mit kritischem Abstand gezeigt. Sind schon die Hauptdarstellerinnen keine starken Frauen, so finden sich auch in den Nebenrollen Figuren, die gescheitert sind, aufgesteckt haben, sich arrangieren mit einem bescheidenen Glück, weil sie nicht mehr die Kraft haben, sich aufzulehnen und mehr zu wollen. So wie Theres, die ihrer Umwelt und sich selbst die heile Familie vorgaukelt, vor jedem Probleme die Augen verschließt, alle Krisen totschweigt, ihre Rolle als unterdrückte, missachtete Frau einfach erduldet. Mit einem unerwarteten Anruf ändert sich alles. Die Oberfläche der scheinbaren Idylle bricht plötzlich auf, und darunter kommen die Familientragödien und häusliche Dramen zum Vorschein, in die auch ihre Eltern, ihre jüngere Schwester Caro und selbst Tante Frida sowie eine weitere Familie verwickelt sind. Theres Eltern sind ein Spiegelbild ihrer eigenen Ehe. Die Mutter, Irmgard, verteidigt ihren Mann Helmut, einen dominanten, beherrschenden, unterdrückenden Reaktionär, der alles seiner politischen Karriere unterordnet. Auch er betrügt sie offensichtlich, aber sie schluckt alles, sieht weg, hält aus, spielt die Märtyrerin. Theres findet sie erbärmlich, wirft ihr vor, niemals etwas selbst gewollt, getan, entschieden, verantwortet zu haben und ist doch in der gleichen Situation. Der Anruf, der das wohlgeordnete Leben all dieser Menschen auf den Kopf stellt und aus ihrem kommoden Alltag reißt, kommt von Jan Igler, und der ist Theres Sohn, den sie mit 17 gebar und noch im Krankenhaus zur Adoption freigegeben hat. Dazu hatte sie ihr Vater gezwungen, nachdem der Kindsvater, ein junger Bosnier, während der Schwangerschaft verschwunden war und eine unangenehme öffentliche Diskussionen drohte. Ihrem Mann und ihrer Tochter hat Theres diese Tatsache immer verschwiegen, sie selbst hatte keine Ahnung, dass ihr Kind ganz in der Nähe lebt, bei dem Polizisten Gerald Igler und dessen Frau Betti. Als Thomas die Wahrheit erfährt, rastet er aus und verlässt das gemeinsame Heim. Er ist selbst in einem Heim und bei Pflegeeltern aufgewachsen und wird nun an sein Trauma erinnert. Nina hingegen ist fasziniert von ihrem älteren Stiefbruder. Die beiden verbringen immer mehr Zeit miteinander und es scheint, als empfinde Nina mehr als nur schwesterliche Zuneigung zu Jan. Vor allem ihrem Opa ist das ein Dorn im Auge.

Theres besucht Jans Adoptiveltern und findet ähnliche Verhältnisse vor, wie in ihrer eigenen Familie. Gerald Igler ist ein rabiates, bestimmendes, selbstherrliches Familienoberhaupt, er beklagt sich über seinen Adoptivsohn. Der habe mit 14 ein Auto geknackt, und mit 16 sei er mit Drogen erwischt worden. Seiner Ehefrau macht er den Vorwurf, den Pflegesohn zu verhätscheln, ihm jeden Wunsch zu erfüllen, zu viel Verständnis für ihn zu haben. Jan hat immer häufiger Streit mit seinem Adoptivvater. Nach einem besonders lautstarken Krach will er vorläufig bei seiner „neuen“ Familie unterkommen, als ihn die Nachricht erreicht, dass Gerald mit seinem Wagen in einen Laster gerast ist und nur noch tot geborgen werden konnte. Jan wird bei der Polizei vernommen, weil man ihn verdächtigt, die Radmuttern des Autos gelöst zu haben. Er beteuert seine Unschuld, verweigert aber jede Aussage und kommt in Untersuchungshaft.

Theres erfährt, dass Nina mit Jan bei ihren Großeltern war und die beiden dort übernachteten. Lockerte Helmut die Schrauben? Sollte nicht Gerald, sondern Jan mit dem Auto verunglücken? Sie beschließt, ihren Vater zur Rede zu stellen. Der gesteht ihr Ungeheuerliches, und so kommt es zur Katastrophe.

Einige Wochen später scheint die Idylle wieder perfekt, alles geht seinen gewohnten Gang. Thomas ist zurück in seinem trauten Heim, er wird jedes mal zurückkommen, alles wird immer so weitergehen. Nina lebt wieder ihr gewohntes Teenagerleben, seitdem Jan nach einer entlastenden Aussage freigekommen ist und sich auf den Weg nach Bosnien gemacht hat, um seinen leiblichen Vater zu suchen. Ana kann endlich ihr Studium aufnehmen, und hat offenbar auch ihr privates Glück gefunden. Sie hat ihr Leben wohl im Griff, dagegen ergibt sich Frau Sudic ihrem Schicksal, sie bekommt nun regelmäßig Besuch von Theres. Deren kleine, heile Welt ist offenbar wieder im Lot, Normalität stellt sich ein, aber: dann läutet das Telefon.

Die Wienerin Anne Goldmann, geboren 1961, jobbte als Kellnerin, Küchenhilfe und Zimmermädchen, um sich die Ausbildung zur Sozialarbeiterin zu finanzieren. Sie arbeitete in einer Justizvollzugsanstalt und betreut derzeit Straffällige nach der Haft. Das größere Verbrechen ist ihr vierter Kriminalroman, ein Psychokrimi, der unter die Haut geht!

 

Rezension und Foto von Kurt Schäfer.

Das größere Verbrechen | Erschienen am 27. August 2018 bei Ariadne im Argumente Verlag
ISBN 978-3-867-54234-0
240 Seiten | 13.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: kurze Betrachtung von Anne Goldmanns Roman Lichtschacht auf unserem Instagram-Account.