Autor: Nora

Tom Hillenbrand | Qube

Tom Hillenbrand | Qube

„Um sein organisches Encephalon gegen ein digitales auszutauschen, bräuchten wir einen Quantencomputer, in dem sein Brainscan bereits eingespielt ist und der …“ „Bekommen Sie.“ „Sportsfreund, Ihr Mandant hat eine Kugel im Kopf. Er kann keine vierundzwanzig Stunden warten, bis der Rechner präpariert…“ „Doktor, der bootfähige Qube mit Doyles digitaler Gehirnkopie wird gerade angeliefert.“ (Auszug Seite 12)

In Tom Hillenbrands neuem Thriller Qube geht es gleich dramatisch los. Wir befinden uns im Jahr 2091. Der Reporter Calvary Doyle wird mitten in London durch einen Kopfschuss schwer verletzt. Der prominente Journalist hatte zum Thema KI recherchiert und anscheinend etwas Spektakuläres herausgefunden. Er weiß aber nicht mehr was, denn bei dem Mordanschlag kommt er zwar mit dem Leben davon, sein Gehirn ist aber derart beschädigt, dass es bei der Not-OP durch einen künstlichen Computer ersetzt wird. Das hatte Doyle selbst vor einiger Zeit so festgelegt und dafür in weiser Voraussicht schon einen Back-Up erstellt. Unglücklicherweise wurden dabei aber die letzten Rechercheergebnisse nicht abgespeichert. Als auch noch seine Wohnung in die Luft fliegt, wird die Polizeibehörde UNANPAI aufmerksam und die Agentin Fran Bittner auf den Fall angesetzt.

UNANPAI ist eine Organisation zur Bekämpfung Künstlicher Intelligenz. Zweimal konnte bereits verhindert werden, dass die KI die Herrschaft über die Menschheit übernimmt und diese Ereignisse wurden als Turing-Zwischenfälle bekannt. Die Gefahr, dass eine weitere KI in einem Quantencomputer, einem sogenannten Qube, existiert und sich selbstständig macht, muss unbedingt verhindert werden! Agentin Bittner liefert sich einen Wettlauf mit der Zeit, um eine Katastrophe zu verhindern.

Der Traum von der Unsterblichkeit

Mehrere isolierte Handlungsstränge führen parallel durch den spannenden intelligenten Plot. Die geschlechtswandelnde Agentin Francesca oder auch manchmal Francesco Bittner ist bereits aus Hologrammatica bekannt, wo sie vor drei Jahren maßgeblich an der Abwendung einer Krisensituation mit der KI Æther beteiligt war.
Bittner ist ein Quant und wechselt in weibliche wie in männliche Gefäße. Ein anderer Handlungsstrang begleitet den skrupellosen Milliardär Clifford Torus, der von der Unsterblichkeit träumt und dem jedes Mittel recht ist, dieses Ziel zu erreichen. Eine ganz andere Dimension haben Computerspiele erreicht. In einem weiteren Erzählstrang kämpft die Profi-Spielerin Persia Peach, in der Szene besser bekannt als Colonel Crimson, bei einem Fantasygame in einer durch Hologramme täuschend echt simulierten Kampfspiel-Arena, einem sogenannten Ludorama. Mit der Welt der Gamer bringt Hillenbrand einen interessanten Aspekt hinein, auch wenn die Passagen des Spieles, die einen fesselnden Höhepunkt der Story darstellen, mich nicht so richtig überzeugen konnten.

Chancen und Risiken künstlicher Intelligenz

Tom Hillenbrand spinnt hier die utopische Geschichte aus Hologrammatica mit gewohnt großem Einfallsreichtum und Phantasie weiter. Auch die großen philosophischen Themen der Menschheit werden wieder thematisiert. Es geht auch um den Zwiespalt zwischen Chancen und Risiken einer KI. Dank Hillenbrands großer Detailtiefe im Ausschmücken seiner Settings findet man sich in dieser total technisierten Zukunftsvision sehr gut zurecht. Ansonsten hilft auch noch ein Glossar am Ende des Thrillers mit den wichtigsten Begriffen. Klimakatastrophen haben der Erde arg zugesetzt und große Teile des Planeten sind unbewohnbar. Die Erdbevölkerung zieht sich in kühlere Regionen zurück und besiedelt sogar das All. Oder wie es in dem Thriller heißt: …all jene Städte in Südeuropa, Afrika oder Indien, in denen nur noch streunende Hunde lebten.‘

Das Holonet ist in der Lage, die unwirtlichen Landschaften und hässlichen Gebäude digital zu modifizieren. Menschen nutzen die Möglichkeit, auf diese Art ihr Aussehen zu verändern und wer genug Geld besitzt, kann kurzzeitig in optimierte Klonkörper wechseln. Spannung entsteht auch dadurch, dass man miträtselt, wie die unterschiedlichen Erzählebenen zusammengeführt werden und welche Figuren sich wie zusammentun.

Qube ist ein unterhaltsamer Science-Thriller der Extraklasse und ein würdiger Nachfolger, kommt aber für mein Empfinden nicht ganz an die Genialität von Hologrammatica ran, den ich noch tiefgründiger fand. Vielleicht fehlte mir auch der Protagonist Galahad Singh aus Teil 1. Den Reiz machte für mich unter anderem auch die Diskrepanz zwischen dem altmodischen Detektiv mit seinem trockenem Humor und der voll technisierten Welt aus. Und ich will nicht zu viel verraten, aber möglicherweise taucht er in einem weiteren Band wieder auf. Die neuen Charaktere wie Fran Bittner sind interessant aber nicht so vielschichtig angelegt. Jedenfalls schreit das Ende nach einer weiteren Fortsetzung.

Auch wenn beide Teile unabhängig voneinander funktionieren, würde ich empfehlen, den Vorgänger zuerst zu lesen. Es ist einfach für den Lesefluss und -genuss förderlich, wenn man die vom Autor erschaffene, sehr komplexe Welt schon kennt. Auch weil in Qube das Hologrammatica-Universum nicht mehr groß beschrieben, sondern als bekannt vorausgesetzt wird. Genug Potenzial für weitere Bände wäre auf jeden Fall vorhanden.

Das psychedelische Cover springt ins Auge und ich finde es sehr gelungen. Es ist dem Thema des Buches und auch dem Vorgängerband angepasst.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Qube | Erschienen am 13. Februar 2020 bei Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-05440-8
560 Seiten | 12.- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Auch bei uns: Andys Rezension zu Hologrammatica von Tom Hillenbrand.

Inge Löhnig | Unbarmherzig Bd. 2

Inge Löhnig | Unbarmherzig Bd. 2

„Einen Moment hoffte sie noch, dass das Bild vor ihren Augen verschwimmen und ihr am Ende nichts als Kies zeigen würde. Doch dort lag unverkennbar ein Oberkiefer mit Zähnen, der Unterkiefer daneben. Knochenfragmente rundherum. Der Anblick war nicht eklig oder schaurig, er machte Ella nur unendlich traurig.“ (Auszug Seite 14)

In dem Dorf Altbruck, in der Nähe von München, werden achtzig Jahre alte Knochen gefunden. Aufgrund der Verjährungen soll es dazu keine Ermittlung geben, aber Gina Angelucci, die bei der Kripo an ungelösten Fällen arbeitet und gerade aus der Elternzeit zurück ist, verbeißt sich in dem Fund und ermittelt schließlich doch. Ihre Recherche führt sie in die Vergangenheit des zweiten Weltkrieges und zur Heeresmunitionsanstalt, die damals ganz in der Nähe von Altbruck stand. Kann Gina die Identitäten nach so langer Zeit noch klären und gar den Tathergang rekonstruieren?

Elternzeit und Hausmann

Unbarmherzig von Inge Löhnig ist Gina Angeluccis zweiter Fall (Fall 1: Gedenke mein). Nach zwei Jahren Elternzeit tauscht sie nun die Rollen mit ihrem Mann Tino, der ebenfalls bei der Kripo in München arbeitet (Kommissar Konstantin Dühnfort, mit dessen Fällen die Autorin bekannt wurde). Diesen Teil finde ich schon mal sehr sympathisch, dass eben auch der Vater Elternzeit nimmt, sogar ein ganzes Jahr. Das ist ja bislang noch eher ungewöhnlich. Die Tochter der beiden, Chiara, wurde mit Down-Syndrom und schwerem Herzfehler geboren, entwickelt sich nun aber gut. Dieses Thema hätte für meinen Geschmack gern noch etwas vertieft werden können, aber das Privatleben und die Feierabende von Gina nehmen nicht zu viel Raum ein, der Fall steht im Vordergrund.

Verschiedene Perspektiven

Ein weiterer Handlungsstrang besteht aus einer Frau, die Gina und ihre Familie offensichtlich stalkt. Tino geht der Sache nach und versucht vor allem Chiara zu schützen. Meiner Meinung nach trägt dieser Strang nicht zur Spannung bei und lenkt eher von Ginas Ermittlungen ab, ich finde ihn komplett überflüssig. Der Spannungsbogen ist eher gleichbleibend unaufgeregt, aber trotzdem empfand ich die Geschichte nicht als langatmig. Sie wird aus der Perspektive der Ermittlungen, aus Sicht zwei verfeindeter Familien im Dorf und Tagebucheinträgen geschildert. Durch diese Abwechslung bekommt der Leser genügend Einblicke, um sich nach und nach einen Reim auf alles zu bilden, was mir sehr gefallen hat. Auch das Ende ist eher unaufgeregt, was der Lösung des Falls aber keinen Abbruch tut.

Fazit: Eine interessante Ermittlung, die unaufgeregt ist und mich gut unterhalten hat.

Schon als Kind verfügte Inge Löhnig über so viel Fantasie, dass ihre Geschichten noch heute in der Familie legendär sind. Neben dem Beruf als Grafik-Designerin war Schreiben lange ein Hobby. Erst mit dem Erscheinen der Reihe um den Münchner Kommissar Konstantin Dühnfort wurde daraus die neue Profession. Die Kriminal-Romane von Inge Löhnig sind ebenso regelmäßig auf der Bestsellerliste zu finden, wie die spannenden Familien-Romane, die sie unter dem Pseudonym Ellen Sandberg veröffentlicht. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.

 

Rezension und Foto von Andrea Köster.

Unbarmherzig | Erschienen am 31. Mai 2019 bei Ullstein
ISBN 978-3-548-29097-3
384 Seiten | 12.99 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Auch bei uns: Rezension zum Titel Deiner Seele Grab der Autorin (nicht Bd. 1 der Serie) sowie zu den Romanen Die Vergessenen und Der Verrat von Ellen Sandberg, dem Alter Ego von Inge Löhnig.

Horst Eckert | Im Namen der Lüge

Horst Eckert | Im Namen der Lüge

Und was machte der Verfassungsschutz mit den Informationen, die er sammelte? Wie weit ging der staatliche Quellenschutz? Mit welchen Straftaten kam ein V-Mann noch davon?
Einem Spitzel kannst du nie vertrauen, überlegte Vincent.
Aber auch keinem Geheimdienst. (Auszug Seite 155)

Ein Tatort im Süden von Düsseldorf. Ein Mann liegt tot im Keller, die Polizeistreife nimmt den vermeintlichen Mörder fest. Der Tote soll mit der Partnerin des Täters etwas gehabt haben. Eine Beziehungstat, der Chef der Mordkommission und auch die Kripoleitung sind zufrieden. Doch dem Dienststellenleiter Vincent Che Veih geht das alles etwas zu schnell. Es gibt Hinweise darauf, dass der Täter in der Reichsbürgerszene aktiv war. Das Opfer war freier Journalist, der sich in der Szene bewegt hat. Nun sind alle seine Aufzeichnungen unauffindbar und auch der Verfassungsschutz meldet sich bei Vincent, der eine Zeugenvorladung abblasen soll. Vincent ist sich sicher, dass da etwas faul ist, doch gegen die Kripoleitung kann er nichts ausrichten. Zumal die Ereignisse sich an anderer Stelle überschlagen.

Gleichzeitig ist auch der Linksextremismus wieder in aller Munde. Drei Ex-RAF-Terroristen überfallen Geldtransporter, um ihren Ruhestand zu finanzieren. Ein gefundenes Fressen für die konservativ geführte Landesregierung in Nordrhein-Westfalen, die kurz vor dem Wahltermin eine „Rote-Socken-Kampagne“ lanciert.

Ohne es zu wollen, ist Melia Kahlid dabei mittendrin. Sie ist Referatsleiterin für Linksextremismus beim Landesverfassungsschutz. Und sie hat genug zu tun, denn neben den RAF-Rentnern scheint auch die linke Szene sich wieder deutlich zu radikalisieren. Zumindest taucht eine Kampfschrift auf, die zur Rückkehr ins Guerillatum und den Terrorismus aufruft. Als schließlich auch noch ein Brandanschlag auf ein Gebäude verübt wird, in dem die Landes-AfD ihre Geschäftsstelle hat, scheint die Sache klar. Doch Melia merkt, dass einiges an ihr vorbei läuft, ihr Chef fährt – im Einklang mit der Landesregierung – seine eigene Agenda. Melia wird intern kaltgestellt, doch damit wird ihr Ehrgeiz nur umso mehr angestachelt. Als eine der RAF-Terroristen brutal ermordet aufgefunden wird, treffen sich die Wege von Polizei und Verfassungsschutz. Vincent und Melia, beide zu Außenseitern in der eigenen Behörde geworden, müssen zusammenarbeiten, um eine politische Verschwörung aufzudecken.

Vincent Che Veih war bereits in drei Romanen von Horst Eckert Protagonist. Der geradlinige Kommissar mit der schwierigen familiären Vergangenheit eckt im Präsidium immer wieder an. Zu seiner Mutter, Künstlerin und ehemalige Terroristin, pflegt er ein kompliziertes Verhältnis, da sie ihn als Kind verlassen hat, um in den Untergrund zu gehen. Auch in diesem Roman spielt sie eine Rolle und Vincent muss sich entscheiden, wem seine Loyalität gilt, seiner Mutter oder seinem Dienstherrn.

Neu dabei und eigentliche Frontfrau dieses Thrillers ist Melia Khalid. Sie ist die Tochter eines einflussreichen CDU-Politikers mit seiner somalischen Geliebten. Auf seine Protégierung will sie aber lieber verzichten. Melia ist taff, selbstsicher, intelligent und bringt auch die nötige Skrupellosigkeit in ihrem Gewerbe mit. Sie setzt V-Leute unter Druck und fängt sogar eine Liaison mit einem linken Wortführer an. Dennoch merkt man ihr die Ernsthaftigkeit an, als Verfassungsschützerin diese Aufgabe auch zu erfüllen. Als sie entmachtet wird, gibt sie nicht klein bei, sondern wittert eine große Sache, die sie mit aller Macht verhindern will.

Horst Eckert hat sich als Autor von politischen Thrillern mit aktuellen Thematiken einen Namen gemacht. In diesem Roman greift er verschiedene Dinge im Plot und bei den Figuren auf, die in der letzten Zeit aufgekommen sind: Zunehmende Salonfähigkeit der Rechtspopulismus, Hochstilisierung einer neuen Gefahr von links (Hufeisentheorie), Verbindungen von Personen aus rechtsstaatlichen Behörden mit verfassungsfeindlichen Organisationen. In diesem Thriller wird nach und nach deutlich, wie ein rechtes Netzwerk sukzessive die staatlichen Organisationen unterwandert und dabei Anschläge und Taten verübt, die dem politischen Gegner angelastet werden (False-Flag-Operationen). Angesichts von tatsächlichen Ereignissen wie der Causa Hans-Georg Maaßen, dem Schreddern von NSU-Akten durch den thüringischen Verfassungsschutz oder der nach wie vor ungeklärten Rolle von V-Leuten bei rechtsextremen Anschlägen, erscheint dieses Szenario alles andere als abwegig.

Eckert schreibt diesen Thriller dabei aus verschiedenen Blickwinkel mit Fokus auf Vincent und Melia. Dabei liegt der Fokus deutlich mehr auf dem rasanten und spannenden Plot als auf Figuren und Schauplätzen. Dennoch gelingt es vor allem bei den Hauptfiguren, eine gewisse Komplexität zu erzeugen. Zusammengenommen ist Im Namen der Lüge ein kurzweiliger Thriller, der hochaktuelle politische (Fehl-)Entwicklungen präzise und mit klarer Haltung aufzeigt. Für alle Liebhaber des politischen Thrillers daher auf jeden Fall empfehlenswert.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Im Namen der Lüge |Erschienen am 9. März 2020 im Heyne Verlag
ISBN 987-3-453-43966-5
575 Seiten | 12.99 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Auch bei uns: Gunnars Rezensionen zu den Titeln Schattenboxer und Wolfsspinne von Horst Eckert.

Klaus-Peter Wolf | Ostfriesenhölle Bd. 14

Klaus-Peter Wolf | Ostfriesenhölle Bd. 14

„Ann Kathrin lief ein Schauer den Rücken runter. Die aufgescheuchten Vögel kamen ihr vor wie Vorboten einer Katastrophe. Eine Ahnung breitete sich in ihr aus wie eine Sickerblutung: Das hier war der Anfang von etwas Bedrohlichem. Sie kam in Kontakt mit einer dunklen Kraft. Mit etwas Bösem. Es ging nicht nur darum, den Jungen und die Frau zu finden. Sie musste verstehen, was hier wirklich los war.“ (Auszug Seite 47)

Auf Langeoog wird ein Jugendlicher vergiftet und stirbt vor den Augen seiner Mutter. Diese vermutet, dass sein Kumpel Marvin daran Schuld ist und versucht ihn zu entführen. Nun ist Marvin auf der Flucht und Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen, die den Fall übernimmt, ist sich nicht sicher, ob sie einen Mörder oder ein Opfer sucht. Das alles ist aber nur der Anfang eines viel größeren und sehr verstrickten Falles, dessen Ausmaße an dieser Stelle gar nicht erahnt werden können und bei dem die Lösung noch einige Opfer bringen wird.

Ungewöhnliche Vorgehensweise

Ostfriesenhölle von Klaus-Peter Wolf ist bereits der vierzehnte Fall um die Kommissarin Ann Kathrin Klaasen, die sich mit ihrer unkonventionellen Ermittlungsweise, mit der sie sich nicht selten über alle Regeln und Vorschriften hinwegsetzt, mittlerweile einen Namen im ganzen Bundesgebiet gemacht hat. Auch in diesem Fall kann sie nicht nach „Schema F“ aus dem Polizeihandbuch vorgehen, um Marvin zu finden, sondern geht ihren ganz eigenen Weg und bezieht darin nur ihre engsten Vertrauten ein, was nicht ausschließlich ihre Kollegen sind, sondern auch Freunde und Nachbarn.

Konstante Spannung

Die Geschichte beginnt bereits mit einer ziemlich wilden Verfolgungsjagd, der Leser wird also gleich in das Geschehen hinein katapultiert, nichts entwickelt sich auf den ersten Seiten gemächlich. Mit gut fünfhundert Seiten ist dieser Krimi ein richtiger Schinken, aber ich empfand keinerlei Längen, die Spannung hält sich sehr konstant. Die gesamte Handlung entwickelt sich zudem recht schnell und in eine politische Richtung. Letzteres ist nicht unbedingt mein literarisches Lieblingsthema, ist hier aber interessant geschildert. Der Autor beschreibt Situationen und handelnde Personen sehr ausführlich, aber auch das brachte mir als Leser die Stimmung nur noch besser rüber. Auch eine gewisse Portion Humor fehlt nicht, das aber wohl dosiert.

Umfangreicher Fall

Der Fall insgesamt ist wirklich sehr komplex, aber doch so strukturiert und detailreich beschrieben, dass ich gut mitgekommen bin und nicht den Überblick oder die Zusammenhänge verloren habe. Die Ermittlungen stehen absolut im Vordergrund, private Baustellen der Kommissare gibt es so gut wie gar nicht, wenn man von kleineren alltäglichen Problemen absieht, was ich sehr angenehm finde. Der Schauplatz bekommt in allen Beschreibungen meiner Meinung nach genügend Raum, sodass man sich die Umgebung gut vorstellen kann.

Fazit: Spannung von der ersten bis zur letzten Seite und sehr detaillierte Beschreibungen, so dass man den Wind der Nordsee förmlich selbst spüren kann.

Klaus-Peter Wolf, 1954 in Gelsenkirchen geboren, lebt als freier Schriftsteller in der ostfriesischen Stadt Norden, im selben Viertel wie seine Kommissarin Ann Kathrin Klaasen. Wie sie ist er nach langen Jahren im Ruhrgebiet, im Westerwald und in Köln an die Küste gezogen und Wahl-Ostfriese geworden.

 

Rezension und Foto Andrea Köster.

Ostfriesenhölle | Erschienen am 20. Februar 2020 bei Fischer
ISBN 978-3-596-29928-7
528 Seiten | 12.- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Auch bei uns: Weitere besprochene Titel von Klaus-Peter Wolf.

Attica Locke | Heaven, My Home

Attica Locke | Heaven, My Home

Fernab von seiner täglichen Schinderei im Büro, dem ergebnislosen Durchforsten von Akten, das ihm vom Einsatz draußen abhielt, konnte er sich eingestehen, dass ein Teil von ihm diese Arbeit in den letzten Wochen völlig mechanisch getan hatte. In Wahrheit hatte er noch nie so sehr daran gezweifelt, dass die Bruderschaft und das, wofür sie stand, je ausgemerzt werden könnten. Es waren einfach zu viele; sie waren überall dort draußen, mit ihren Tattoos und Halstüchern. Das Land schien sie heimlich zu züchten, wie eine widerwärtige Pilzkrankheit, die sich an lichtlosen Orten ausbreitete, wo man nicht einmal hinzuschauen wagte. (Auszug Seite 97)

Ein paar Monate nach den Ereignissen in Lark (erzählt in Bluebird, Bluebird) bestreitet Darren Mathews, Texas Ranger, mehr oder weniger Innendienst, auch auf Wunsch seiner Frau. Als im Marion County in Osttexas an der Grenze zu Louisiana ein neunjähriger Junge verschwindet, schickt ihn sein Chef aber dorthin. Die Sache ist heikel: Levi King ist der Sohn von Bill King, Captain der Arian Brotherhood of Texas. Bill King ist zurzeit in Haft, aber nicht wegen eines Mordes, den er eigentlich begangen hat. Darrens Chef hofft, dass es in der Gemengelage mit einem verschwundenen Kind möglicherweise doch jemanden gibt, der das allgemeine Schweigen bei den Neonazis bricht.

Als Darren vor Ort eintrifft, ist die Situation unklar. Levi King ist von einem Ausflug mit dem Boot auf einem See nicht nach Hause zurückgekehrt. Levi lebt mit seiner Mutter, seiner Schwester und dem neuen, gewalttätigen Lebensgefährten der Mutter in einem Trailer im Weiler Hopetown am Caddo Lake. Hopetown wurde ursprünglich von schwarzen ehemaligen Sklaven gegründet, ebenfalls haben sich dort Indianer angesiedelt, die eigentlich nach Oklahoma vertrieben werden sollten. In den letzten Jahren haben sich dort aber zudem einige weiße Rassisten mit ihren Trailern niedergelassen, was die friedliche Nachbarschaft erheblich beeinträchtigt. Das Land gehört dem Schwarzen Leroy Page, der aussagt, Levi abends noch im Dorf gesehen zu haben, was Levis Mutter und den Lebensgefährten belastet. Andersherum wird schnell klar, dass auch Page ein Motiv hat, da er mehrfach von Levi rassistisch belästigt wurde. Ebenfalls eine Rolle spielt Rosemary King, die Großmutter von Levi, die als alte Patriarchin im nahe gelegenen Jefferson in einem Herrenhaus wohnt und die guten alten Zeiten heraufbeschwört. Sowohl Levis Mutter Marnie, ihr Lebensgefährte Gil als auch Rosemary King sind zunächst merkwürdig unbeteiligt, wohingegen Bill King aus dem Gefängnis heraus alles in Bewegung setzt, damit sein Sohn gefunden wird.

Doch er hatte sonst nichts in der Hand, hatte nur das Gefühl,dass jeder in diesem kleinen County den anderen in Verschleierung und Irreführung übertraf. Marnie King und Gil Thomason, Rosemary King und Sandler Gaines, Leroy Page, zum Teufel, sogar Margaret Goodfellow. Keiner von ihnen wird dir eine Geschichte so erzählen, wie sie sich zugetragen hat, dachte er. Dieser Ort hatte etwas Verschleierndes, wie das gräuliche Moos, das im Caddo Lake von den Zypressen hing. (Seite 200)

Auch ihrem zweiten Roman mit Texas Ranger Darren Mathews hat Autorin Attica Locke einen Teil aus einem Blues-Song gegeben. Die gesamte Zeile im Song lautet: „I make heaven my home, I shall not be moved“ und drückt ein eher schmerzhaftes Verhältnis zur Heimat aus. Und genau dies ist auch der Grundtenor des Romans, denn das schwierige Verhältnis zwischen Weißen, Schwarzen und Native Americans drückt sich vor allen in der Frage nach Land, Boden und letztlich Heimat aus. In Hopetown droht den ewig Benachteiligten wieder ein Verlust ihrer Heimat, diesmal zwar nicht mit vorgehaltener Waffe, sondern mit juristischen Tricksereien. Trotz aller Erfolge in Bürgerrechten und trotz eines schwarzen Präsidenten müssen die alten Kämpfe scheinbar immer wieder ausgetragen werden. Denn die Geschichte spielt zeitlich nach der letzten Präsidentschaftswahl und kurz vor der Amtseinführung Donald Trumps. Das Pendel schlägt zurück, das weiße Amerika der Vergangenheit zeigt nochmal sein Gesicht. Dies sorgt für Unsicherheit an allen Orten, sogar Darrens Chef will schnellstmöglich einen Erfolg gegen die Bruderschaft, denn wer weiß, wo demnächst die Prioritäten der neuen Regierung liegen. Ein sehr starkes Porträt einer zerrissenen, verunsicherten Gesellschaft!

Darren ist mittendrin und nach und nach dabei, die Übersicht und seine vermeintliche Neutralität zu verlieren. Spontan verdächtigt er Mutter und Stiefvater, White Trash und zutiefst rassistisch, am Verschwinden von Levi verantwortlich zu sein. Leroy Page, ein alter, schwarzer Mann, der jahrzehntelang Ungerechtigkeit erdulden musste, ist für ihn kein Verdächtiger. Im Gegensatz zu seinem alten Kumpel Greg vom FBI, der ebenfalls ermittelt. Doch Darren muss die Überzeugung in Frage stellen, dass die Schwarzen auf alle Ungerechtigkeit mit Versöhnung im Sinne Martin Luther Kings reagieren.

Dies ist eine weitere Stärke des Romans: Die Vielschichtigkeit der Figuren. Die weißen Rassisten, die ihre Kinder lieben, junge Schwarze, die mit der Bürgerrechtsbewegung nicht mehr viel anfangen können und ein Ermittler zwischen allen Stühlen. Denn eine Geschichte aus dem Vorgängerband schwelt auch hier noch weiter: Nach der Ermordung des Rassisten Malvo hat Darren seinen alten Freund Mack wider besseren Wissens gedeckt und die Tatwaffe versteckt. Nun hat seine Mutter, mit der ihn seit jeher ein schwieriges Verhältnis verbindet, die Waffe an sich genommen und erpresst Darren. Und auch privat ist es schwierig: Das Verhältnis zu seiner Frau Lisa hat sich oberflächlich gebessert, doch Darren denkt immer noch an die Witwe Randie Winston aus Lark (aus Bluebird, Bluebird) und hegt zudem Misstrauen, ob Lisa und Greg nicht etwas miteinander hatten.

Eine Vielzahl von Eindrücken, die die Autorin sehr leichtfüßig, mit einem sehr genauen Gespür für Figuren und Dialoge schildert. Zudem überzeugt der Roman in Wahl und Darstellung der Schauplätze in Osttexas. Besonders der Lake Caddo mit seinen Zypressen gesäumten Ufern wird eindrucksvoll in Szene gesetzt. Das hohe Niveau des mehrfach prämierten Vorgängers kann Attica Locke damit überzeugend halten. Heaven, My Home ist ein großartiger, zumeist leiser, aber dadurch umso eindrucksvoller Kriminalroman über Heimat, Rassismus und die Last der Vergangenheit.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Heaven, My Home | Erschienen am 1. Januar 2020 im Polar Verlag
ISBN 987-3-945133-91-0
322 Seiten | 22.- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Auch bei uns: Gunnars Rezension zu Bluebird, Bluebird von Attica Locke