Simone Buchholz | Hotel Cartagena Bd. 9

Simone Buchholz | Hotel Cartagena Bd. 9

Diese Bar hier macht so sehr einen auf Ausblick, dass ich eigentlich keinem Drink, den ich nicht selbst gemixt habe, über den Weg trauen sollte. Zu viel aufdringliche Schönheit, zu viele Sieh-mich-an-Sachen, zu viel Ablenkung. (Auszug Seite 15)

Die Ausgangssituation des 9. Bandes der Chas-Riley-Reihe könnte aufregender und verheißungsvoller nicht sein. Der ehemalige Hauptkommissar Faller feiert seinen 65. Geburtstag ganz groß in einem Nobelhotel am Hamburger Hafen. Und sie sind alle gekommen, die ganze Bagage rund um Staatsanwältin Chastity Riley und sitzen nun beim Cocktail, hoch oben im 20. Stock in der Hotelbar. Auch wenn Chas findet, dass sie hier eigentlich nicht richtig reinpassen. Nur Ivo Stepanovic vom LKA und Chas aktueller Lover verspätet sich etwas.

Es ist mir ein Rätsel, warum der Faller seinen Geburtstag ausgerechnet hier feiern muss, wir passen doch schlechter an so einen Ort als ein Rudel Straßenköter in einer Plastiktüte, warum stehen wir nicht im Silbersack am klebrigen Tresen und trinken Flaschenbier, warum sitzen wir nicht in einer dunklen Pizzeria und sind laut … (Seite 15)

Wir haben hier eine Situation

Dann stürmen ein Dutzend schwerbewaffnete Geiselnehmer die Bar und bringen alle Gäste sowie das Personal in ihre Gewalt. Forderungen werden keine gestellt, so dass das Motiv der Geiselnahme lange Zeit rätselhaft bleibt. Aus der Perspektive von Riley beobachtet der Leser die Geschehnisse, die sich immer mehr zuspitzen. Während unsere Heldin in diesem Ausnahmezustand am Anfang noch versucht, einen Kontakt zu dem charismatischen Anführer aufzubauen, kommt es wegen einer sich entzündenden Schnittverletzung zu einer Blutvergiftung und ihre Wahrnehmungen werden zunehmend getrübter.

In einem zweiten Erzählstrang geht es rückblickend um das Schicksal von Henning Garbarek, der auf St. Pauli in ärmlichen Verhältnissen ohne große Zukunftsperspektiven aufwächst. Henning ist ein kluger Junge und sieht für sich keine Hoffnung auf dem Kiez. Die Sehnsucht nach einem anderen Leben ist so groß, dass er eines Tages Mitte der 80er Jahre ziemlich spontan auf einem Schiff Richtung Südamerika anheuert und wenig später in Cartagena, Kolumbien an Land geht. Und zuerst läuft es auch gut für ihn, er findet Arbeit, Freunde und gründet eine Familie. Aber dann gerät er an die falschen Leute und wird zum Mittelsmann eines kolumbianischen Drogenbosses. Nachdem er jahrelang jede Menge nicht ganz saubere Kohle verdient hat, kommt es unwiderruflich zur Katastrophe.

Wo die jungen Leute sich hier treffen? Am Strand. Wo er Arbeit finden könnte? Am Strand. Wo er günstig essen könnte? Am Strand. Worauf er achten müsste, wegen Gefahren und so? Auf das Treiben am Strand. (Seite 36)

Während erst nach und nach klar wird, wie die dramatische Schicksalsgeschichte von Henning mit der Geiselnahme zusammenhängt, überlegt sich Ivo Stepanovic einen waghalsigen Befreiungsversuch. Er gesellt sich vor dem Hotel zu den versammelten Einsatzkräften und wird kurzerhand zu den Verhandlern gesteckt.

In Hotel Cartagena spielen die bekannten Charaktere fast nur eine Nebenrolle, denn die Geschichte, die Simone Buchholz hier auf etwas mehr als 200 Seiten aufblättert, ist eher eine 80er Jahre Koksgeschichte. Und mein einziger kleiner Kritikpunkt ist dann auch folgender: Dass sich unter den Geiseln zufälligerweise ein eingespieltes Team von Kriminalbeamten befindet, oder LKA-Mann Ivo Stepanovic von außen operieren kann, spielt für den Krimi-Plot überhaupt keine Rolle. Dieser ist raffiniert und klug inszeniert, die bedrohliche Situation wird immer verfahrener und langsam läuft es in beiden Erzählsträngen auf eine Eskalation raus. Aber Chastity kann ihren inneren John McClane gar nicht aktivieren, wie im Klappentext vollmundig versprochen wird, da sie das Geschehen durch die Blutvergiftung in einem Fiebertraum fast handlungsunfähig miterlebt.

Nur ein kleiner Kritikpunkt denn ich rauschte nur so durch die kurzen Kapiteln bis zum großen Showdown. Buchholz besticht wieder mit messerscharfen, schnoddrigen Dialogen, die auf den Punkt geschrieben sind. Fasziniert hat mich die Mischung aus Ironie, stakkatohaftem Schreibstil und dann wieder Melancholie und poetische, fantasievolle Sprachbilder, die sie kreiert.

Vermutlich ist er der einzige im Raum, der mit jeder Faser seines Herzens weiß, wie unübersichtlich nicht nur ich bin, sondern wir alle sind, ja sogar alle Menschen auf der ganzen verdammten Welt. Der Faller weiß um den großen Knoten, den wir bilden und den ich manchmal nur erahnen kann, wenn ich an jemandem vorbeistolpere und dabei eine Hand zu fassen kriege und die kleinen Risse, die Beschädigungen in der Oberfläche spüre und denke: wow, du auch? (Seite 17)

Die Autorin pfeift auf alle Krimiregeln und zieht ihren eigenwilligen, lässigen Erzählstil kompromisslos durch. Es geht hier nicht um das klassische Falllösen. Es finden keine Ermittlungen statt und die Aktionen der Polizei sind auch eher Nebenschauplätze. Simone Buchholz interessiert sich sehr viel mehr für ihre Charaktere mit ihren Ecken und Kanten und hat einen ganzen Haufen ambivalenter Figuren – ja Freaks – am Start, wobei der Fokus auf der sperrigen Staatsanwältin liegt. Viele ihrer Ideen habe ich gefeiert, wie um mal beispielhaft das Kapitel Columbohaftigkeit zu nennen, in dem Stepanovic auf einen der Verhandler trifft und die beiden sich erst mal wie Westernhelden abtaxieren. Fast schon zu cool!

Ich finde Simone Buchholz läuft hier zur Hochform auf, und ich habe diesen Kriminalroman abseits des Mainstreams sehr genossen.  Das Coverbild ist wieder von ihrem Freund Achim Multhaupt dem Retro-Look der 80er Jahre nachempfunden und reiht sich stilistisch perfekt in die Reihe der letzten vier im Suhrkamp-Verlag erschienen Bände ein.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Hotel Cartagena | Erschienen am 29. September 2019 bei Suhrkamp
ISBN 978-3-518-47003-9
228 Seiten | 15.95 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Auch bei uns: Rezensionen zu den Romanen Blaue Nacht und Mexikoring (Bd. 8) von Simone Buchholz.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert