Ivy Pochoda | Diese Frauen

Ivy Pochoda | Diese Frauen

Es ist hart da draußen. Es gibt Regeln. Es gibt Dinge die man tun kann, und Dinge, die man nicht tun darf. Wenn du mitspielen willst, musst du immer den Preis dafür zahlen….. Und du brauchst Glück…. Wenn du viel Glück hast, fahren sie mit dir sogar in ein Hotel. Und mit richtig viel Glück bringen sie dich in einem Stück zurück. (Auszug Seite 10)

Südlich vom Santa Monica Boulevard liegt West Adams, ein heruntergekommener, hauptsächlich von Latinos und Afroamerikanern bewohnter Stadtteil. Hier hat es vor 15 Jahren eine grausame Verbrechensserie gegeben, bei der 13 Frauen brutal ermordet wurden. Alle Opfer wurden entlang der Western Avenue mit durchgeschnittener Kehle und Plastiktüte über dem Kopf in der Gosse gefunden. Der Täter wurde nie gefasst, großes Engagement bei der Aufklärung kann man dem LAPD nicht unbedingt vorwerfen, es ging ja nur um „Diese Frauen“. Und das düster in Rot-Grüntonen gestaltete Cover deutet bereits an, welche Personen mit „Diese Frauen“ gemeint sind. Es sind Frauen am Rande der Gesellschaft, die in Bars arbeiten, die nachts auf der Straße zu Freiern ins Auto steigen, die ihre Körper für Drogen verkaufen, die sich prostituieren und damit einer Arbeit nachgehen, die von vielen in der Gesellschaft verachtet wird. Und bei denen man es offenbar als Berufsrisiko ansieht, wenn sie getötet werden.

Ivy Pochoda rollt die spannende Geschichte multiperspektivisch auf. Durch die verschiedenen, durch die Mordserie miteinander verbundenen weiblichen Erzählstimmen erfahren wir von mehreren Schicksalen und lernen unterschiedliche Lebensentwürfe kennen. Dorians Tochter Lecia war vor 15 Jahren das letzte Opfer des Täters, bevor die Mordserie abbrach. Das Mädchen war keine Prostituierte, aber das interessierte weder die Polizei noch die Medien. Wie viele Hinterbliebenen fand auch Dorian kein Gehör. Sie betreibt einen Fischimbiss und ist Anlaufstelle für viele Frauen von der Straße. Dorians Leid interessiert niemanden, aber er ist jederzeit durch die Zeilen spürbar. In Julianna, einer Striptease-Tänzerin sieht sie ihre Tochter und versucht diese zu beschützen. Doch die Latina aus einer sozialschwachen Familie will davon nichts wissen, betäubt sich mit Drogen, um die Männer in den Bars überhaupt ertragen zu können. Mit ihrem Smartphone schießt sie ständig Fotos von den Frauen in ihrer Umgebung und dokumentiert damit das Nachtleben hinter den Kulissen. Viel bessere Voraussetzungen hat ihre Nachbarin Marella aus einer weißen Mittelstandsfamilie, die sich als Performancekünstlerin verwirklicht. Sie eröffnet ihre erste Ausstellung mit Installationen, die die alltägliche Angst der weiblichen Opfer vor physischer und sexueller Gewalt thematisieren. Ihre Mutter Anneke, eine bürgerlich verklemmte Hausfrau mit eisernen Prinzipien tut alles, um Marella von der Straße fernzuhalten. Feelia war die einzige, die den Mordanschlag überlebte. Sie stieg vor 15 Jahren zu einem vermeintlichen Freier ins Auto und wurde später schwer verletzt aufgefunden und gerettet. Noch immer erinnert eine riesige Narbe an ihrem Hals an den Mordanschlag. Auch ihren Hinweisen ist die Polizei nie nachgegangen.

Da hat er mich geschlagen. Und für einen Augenblick dachte ich mir, hey du hast kein Recht dazu, weil ich gar nicht im Dienst bin. Das war mein abgefuckter Gedanke, bevor alles schwarz wurde. (Auszug Seite 15)

Als der Täter jetzt erneut zuschlägt und zwei Frauen brutal ermordet werden, ist Esmeralda Perry, ein Detective der Sitte, die einzige, die die Zusammenhänge erkennt. Die kleine, zierliche Latina ist erst vor kurzem von der Mordkommission zur Sitte versetzt worden und wird aufgrund ihrer unkonventionellen Art und ihrer Physis von ihren Kollegen nicht ernst genommen. Essie Perry analysiert die Beweisdaten und erkennt gegen alle Widerstände ein Muster und dass ein Serienmörder am Werk ist. Sie stellt sich die Frage, warum der Täter so lange pausiert hat. Zum Schluss kommt es zur überraschenden aber schlüssigen Aufklärung, wobei die Lorbeeren die männlichen Kollegen ernten.

Pochoda leuchtet das Innenleben der Figuren aus und beschreibt die Beziehungen untereinander, die Probleme und Sehnsüchte und dadurch ist man ganz nah an den Charakteren. Sie sind in ihren unterschiedlichen Lebenssituationen vielschichtig angelegt und wirken auch durch die teils vulgäre Sprache absolut authentisch. Wie man sich den Ton auf den rauen Straßen Los Angeles eben vorstellt. Dabei ist der Erzählstil nie melodramatisch, sondern eher unterkühlt, klar und präzise und entwickelt eine große Tiefe. Die Frauen bewegen sich meistens zu Fuß durch die Großstadt, die eigentlich für den Autoverkehr geschaffen wurde und dadurch entsteht ein lebendiges Portrait einer Großstadt fernab vom Glamour.

Die Mütter. Die Mütter erheben ihre Stimmen. Die Mütter stören die Polizei mit Zwischenrufen. Die Mütter fordern Gerechtigkeit. Die Mütter halten Fotos ihrer Töchter hoch. Eine Mutter tritt nach vorne. Dorian. (Auszug Seite 337)

Diese kunstvolle Konstruktion ist ein intelligenter Mix aus Krimi, Gesellschaftskritik und Milieustudie, hochspannend und entwickelt eine große Intensität. Dabei hat Ivy Pochoda für einen Kriminalroman einen ungewöhnlichen Ansatz gewählt. Es geht primär nicht um die Ermittlungsarbeit, es geht nicht um den Täter oder die Auflösung der Mordfälle. Wir befinden uns nicht im Kopf eines Serientäters, was ich sehr genossen habe, da ich diese Sichtweise als sehr ausgelutscht empfinde. Im Mittelpunkt stehen stattdessen die Opfer und die Hinterbliebenen, die mit ihrer Verzweiflung und ihrer Ohnmacht sehr nahbar dargestellt werden. Es geht aber auch um die, die Angst haben, die gejagt werden, die zum Opfer werden und sich als Beute sehen. Ein feministisches Manifest, dass eine düstere Welt zeigt, die in großen Teilen die traurige Realität abbildet. Es geht um Vorverurteilung, um Gleichgültigkeit, Frauenhass und um Gewalt.

Die amerikanische Schriftstellerin Ivy Pochoda war professionelle Squash-Spielerin, bevor sie 2009 ihren ersten Roman veröffentlichte. Sie wuchs in Brooklyn auf, studierte in Harvard und lebt mittlerweile in Los Angeles. „Diese Frauen“ war für den Edgar Award 2021 nominiert und soll demnächst als Fernsehserie verfilmt werden.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Diese Frauen | Erschienen am 07. September 2021 im Ars Vivendi Verlag
ISBN 978-3-7472-0218-0
356 Seiten | 23,00 Euro
Originaltitel: These Women (Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Sigrun Arenz)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Besprechung zu „Diese Frauen“ auf dem Blog „buch-haltung“

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