Eric Ambler | Ungewöhnliche Gefahr

Eric Ambler | Ungewöhnliche Gefahr

Seine Uhr zeigte halb elf. Nach seiner Schätzung war es noch eine Stunde bis Passau. Er drückte seine Zigarette aus und bemerkte in diesem Moment, dass er nicht mehr alleine im Korridor stand. Ein paar Abteile weiter lehnte ein Mann am Fenster und schaute hinaus zu den fernen Lichtern eines Dorfes. Kenton war, als hätte der Mann ihn beobachtet und in diesem Moment weggeschaut. Jetzt kam er näher. […] Aus den Augenwinkeln sah er, dass der Mann in das Abteil schaute, wo der schlafende Mitreisende saß, dann „Verzeihung“ murmelte, wieder umkehrte und im nächsten Wagen verschwand. Kenton dachte nicht weiter darüber nach und setzte sich wieder auf seinen Platz.
Die Zeitung war dem kleinen Mann vom Kopf gerutscht. Seine Augen waren geschlossen. Er schien fest zu schlafen. Doch im Vorbeigehen sah Kenton, dass Schweißtropfen auf seiner Stirn standen. (Auszug Seite 28-29)

1936: Der englische Journalist Kenton berichtet aus Nürnberg von einem Nazi-Kongress und hat beim Würfeln sein ganzes Geld verzockt. Nun will er mit dem Zug nach Wien, um dort einen Bekannten anzupumpen. Im Zug begegnet er einem Mitreisenden, der sich als Sachs vorstellt. Dieser fühlt sich verfolgt und macht Kenton ein reizvolles Angebot: Kenton soll Wertpapiere, die Sachs bei sich trägt, an sich nehmen und über den Zoll nach Österreich bringen. In einem Hotel in Linz soll Sachs die Papiere dann wieder bekommen. Dafür soll Kenton insgesamt 600 Mark erhalten. Obwohl Kenton ahnt, dass hier mehr dahintersteckt, nimmt er das Angebot an. Als er Sachs in dem Hotel aufsucht, liegt dieser ermordet in seinem Zimmer und Kenton wird unversehens zum Spielball in einer brisanten Spionageaffäre.

Europa steuert in den Jahren 1936/37 klar auf den zweiten Weltkrieg zu. Allerdings wird die direkte Konfrontation noch gescheut. Stattdessen richtet sich die Aufmerksamkeit auf die kleineren europäischen Staaten, in welche Richtung sie im heraufziehenden Konflikt tendieren werden. Den „Anschluss“ Österreichs pfeifen bereits die Spatzen von den Dächern. Und obwohl dieser Thriller vorwiegend in Österreich und der Tschechoslowakei spielt, richtet sich das Augenmerk auf Rumänien. Dort gibt es noch eine moderate Regierung, allerdings gibt es eine ernstzunehmende nationalistische Opposition mit guten Beziehungen zu Nazi-Deutschland. Und wo der Krieg sich am Horizont abzeichnet, werden noch ziemlich gute Geschäfte gemacht. In Rumänien geschieht dies mit Erdölfeldern in der Region Bessarabien. Antikapitalist Ambler kreiert die britische „Paneurasische Erdölgesellschaft“ als Katalysator der politischen Ränkespiele. Die Gesellschaft fühlt sich bei den Konzessionen in Bessarabien übergangen. Ein Regierungswechsel in Bukarest würde die Geschäfte beflügeln. Da kommen sowjetische Einmarschpläne für Bessarabien, selbst wenn sie aus dem Jahr 1925 sind, gerade recht, um die Stimmung anzuheizen.

Diese Pläne hat Sachs alias Borowanskij besorgt. Die „Paneurasische Erdölgesellschaft“ schickt ihren Mann fürs Grobe, Colonel Robinson alias Saridza (eine Blaupause für Amblers kommenden großen Schurken Dimitrios). Auf der anderen Seite versucht der sowjetische Agent Zaleshoff, die Fotografien wiederzubeschaffen. Kenton gerät mitten hinein und wird auch noch von der österreichischen Polizei des Mordes an Sachs verdächtigt. Zwar erpresst Zaleshoff Kenton mit den Beweisen, die ihn vom Mordvorwurf entlasten würden, doch letztendlich schlägt sich Kenton auch freiwillig auf die sowjetische Seite. Ein Fingerzeig Amblers in seiner linksradikalen Phase.

Eine Schlüsselstelle des Romans ist die Begegnung Kentons mit Mr. Hodgkin, Landsmann und Handelsvertreter, der ihm bei seiner Flucht von Österreich in die Tschechoslowakei hilft, obwohl er in Kenton den von der Polizei gesuchten Mörder erkannt hat. Er will Kentons Dank nicht, sagt, dass er ihn in England direkt zur nächsten Wache bringen würde. Aber mit den Kontinentaleuropäern hat er noch eine Rechnung offen:

„Sie sehen nicht die wahren Verhältnisse. Sie schauen nicht hinter die Kulissen. Sie erleben nicht, wenn die Volksseele kocht. Ich habe es erlebt. Ich war 1925 im sonnigen Italien, als die Faschisten Jagd auf die Freimaurer gemacht haben. In Florenz. Nacht für Nacht Schießereien, Schlägereien und Schreie, bis einem schlecht wurde. Vierunddreißig war ich in Wien, als eine ganze Arbeitersiedlung mit Frauen und Kindern beschossen wurde. Die Männer, die sie anschließend aufknüpften, mussten zum Galgen getragen werden, weil sie wegen ihre schweren Verletzungen nicht laufen konnten. Ich habe die Unruhen in Paris gesehen, bei denen die Bereitschaftspolizei in die Menge schoss und alle ‚Mort aus vaches!‘ brüllten. In Frankfurt habe ich gesehen, wie ein Mann von den Nazis totgetrampelt wurde. Nach dem ersten Tritt gab er keinen Laut von sich. Ich wurde in derselben Nacht verhaftet, weil ich die Szene beobachtet hatte. Aber sie mussten mich laufen lassen. In Spanien haben sie Menschen angeblich mit Benzin übergossen und dann angesteckt.“ (Seite 204-205)

Ungewöhnliche Gefahr ist ein Agententhriller mit all den bekannten Zutaten wie Beschattungen, Schießereien, Verfolgungsjagden, Gefangennahmen und Befreiungen in letzter Sekunde. Gewisse Stereotypen in Plot und einigen Figuren verzeiht man Ambler angesichts des flotten Tempos, der spannenden Action und der hintergründigen Darstellung der politischen Verhältnisse der Vorkriegsjahre. Erfreulich, dass dieser Klassiker fast 80 Jahre nach Erstveröffentlichung wieder in einer Neuausgabe erhältlich ist.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

 

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Ungewöhnliche Gefahr | Erstmals erschienen 1937
Die gelesene Ausgabe erschien am 16. April 2016 bei Atlantik im Hoffmann & Campe Verlag
ISBN 978-3-45565-098-3
336 Seiten | 12,- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Diese Rezension erscheint im Rahmen des Mini-Spezials Ein langes Wochenende mit … Eric Ambler.

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