Kategorie: SoKo

Vor 25 Jahren: 1998 in Crime Fiction (Teil 1)

Vor 25 Jahren: 1998 in Crime Fiction (Teil 1)

Wir öffnen wieder die Asservatenkammer und werfen einen Blick auf die Kriminalliteratur und den Kriminalfilm im Jahr 1998. Wo fängt man da am besten an? Vielleicht bei den Bestsellerlisten? Die Spiegel-Bestsellerliste bringt für das Jahr Erstaunliches zu Tage. Nur vier Bücher waren in diesem Jahr ganz oben auf der Verkaufsliste – und mit der Ausnahme von Marianne Fredriksson waren es nur Kriminalautor:innen. Alle bis heute sehr erfolgreich, wenngleich es für John Grisham (1998 mit „Der Partner“) und Ingrid Noll (mit „Röslein rot“) die vermutlich erfolgreichste Phase ihrer Karriere war. Für Donna Leon mit „Sanft entschlafen“, dem sechsten Fall von Commissario Brunetti, war es hingegen die erste Nummer Eins der Liste, der allerdings noch eine Menge folgen sollten.

Ein weiterer Trend im Genre, der ab Ende der 1990er langsam aufkam, ist der sogenannte „Nordic Noir“, früher salopp und unpräzise „Schwedenkrimi“ getauft. 1998 markiert dabei einen Meilenstein, denn erstmal erschien ein Roman Henning Mankells in einem großem Publikumsverlag („Die weiße Löwin“ bei dtv). Zuvor war Mankell beim kleinen Berliner Verlag edition q erschienen, einem Imprint des Quintessenz Verlags, der eigentlich auf Fachliteratur zur Zahnheilkunde spezialisiert ist. Damit stieg Mankell mit seinen Wallander-Krimis in den Folgejahren zum meistverkauften Krimiautor in Deutschland auf. Interessant zum Jahr 1998 ist außerdem des Erscheinen weiterer nordischer Krimis, etwa der Debütromane von Arne Dahl oder Liza Marklund sowie von „Kakerlaken“, des zweiten Harry-Hole-Romans von Jo Nesbø.

Kommen wir zu weiteren markanten Autoren, die die Kriminalliteratur 1990er mit ihren Werken dominierten (teils bis heute). Dazu zählt neben John Grisham, Tom Clancy (1998 mit „Rainbow Six“ Nr. 1 der NYT-Bestsellerliste), Stephen King (1998 erschien „Bag of Bones“, in deutscher Übersetzung später „Sara“ ) und James Lee Burke (gewann 1998 sowohl den Edgar als auch den Dagger mit zwei unterschiedlichen Büchern) auch Michael Connelly, der ab 1992 mit seiner Harry-Bosch-Serie große Erfolge feierte. Neben Bosch etablierte Connelly weitere Hauptfiguren, etwa den Journalisten Jack McEvoy ab 1996 und später den Anwalt Mickey Haller. In seinem Roman 1998 erschienenen 7. Roman „Blood Work“ ist der FBI-Profiler Terry McCaleb der Protagonist.

Michael Connelly | Blood Work (Deutscher Titel: Das zweite Herz)

Nach einer Herztransplantation lebt der einst ausgesprochen erfolgreiche FBI-Agent Terry McCaleb auf einem Boot im Hafen von Los Angeles. Als Graciela Rivers ihn bittet, den Mord an ihrer Schwester Gloria Torres zu untersuchen, die bei einem Raubüberfall erschossen wurde, lehnt er das rundweg ab. Erst als er erfährt, dass in seiner Brust das Herz der ermordeten Gloria schlägt, ändert er seine Meinung. Die ermittelnden Polizisten vom LAPD sind alles andere als begeistert, dass sich ein Privatschnüffler einmischt. Einzig Jaye Winston vom County-Sheriff-Büro ist Terry noch was schuldig und besorgt ihm alle Unterlagen sowie Videos des Falls. Durch mühselige Aktendurchsicht findet McCaleb tatsächlich Verbindungen zu ähnlich gelagerten Fällen und glaubt nicht an einen schlichten Raubüberfall. Seine Vermutung, dass ein Serienkiller am Werk ist, bringt wiederum das FBI auf den Plan und auch die wollen McCaleb nur ausbooten.

Den Thriller habe ich vor Jahren gelesen, konnte mich aber nicht mehr so richtig daran erinnern. Also habe ich mir noch mal das Hörbuch vorgenommen. Blood Work ist durchgehend spannend inszeniert, zu Beginn haben wir richtig emotionale Momente, wenn Terry den kleinen Sohn der ermordeten Gloria kennenlernt, ihn und Graciela auf sein Boot einlädt und ihm Angeln beibringt. Der Mittelteil verfängt sich ein bisschen in dem Dienstgerangel zwischen LAPD, Sheriff und FBI. Wir begleiten Terry bei der Spurensuche und Verfolgung der einzelnen Indizien. Terry, der durch die schwere Operation noch gehandicapt ist, lässt sich dabei von seinem Nachbarn und gutem Freund Buddy zu den einzelnen Zeugen fahren, um die Hinweise zusammen zu setzen. Die Auflösung ist dann wieder eine große Überraschung. Richtige Old-school-Vibes entstehen, wenn McCaleb in Telefonzellen telefoniert oder wichtige Anrufe verpasst, weil er vergisst, den Anrufbeantworter abzuhören. Überrascht wurde ich durch den Einsatz von Hypnose bei der Vernehmung, die ausführlich beschrieben wurde. Meiner Meinung nach schreibt Connelly inzwischen authentischer mit mehr Gewicht auf der glaubwürdigen Beschreibung des Polizeialltages, aber unterhaltsam war Blood Work allemal.

2002 wurde der Stoff unter der Regie von Clint Eastwood verfilmt, der auch die Hauptrolle übernahm, allerdings in wichtigen Teilen vom Roman abweicht.

Apropos Film, unser Rückblick soll sich ausdrücklich auch auf Crime Fiction auf der Leinwand erstrecken. Hier fällt auf, dass der Trend zu Krimi-/Actionkomödien gerade wohl auf dem Höhepunkt war. „Rush Hour“ und „Lethal Weapon 4“ zählten zu den meistgesehensten Filmen des Jahres. Einziger Genrefilm, der bei den Oscars 1998 etwas Zählbares mitnahm (mehr war gegen „Titanic“ nicht drin), war „L.A.Confidential“ aus dem Vorjahr (Kim Basinger als beste weibliche Nebenrolle und Curtis Hanson und Brian Helgeland für das beste adatierte Drehbuch nach dem Roman von James Ellroy).

Bemerkenswert bei den deutschen Filmen waren aus unserer Sicht vor allem zwei Werke. Zum einen Hans-Christian Schmids Film „23 – Nicht ist so wie es scheint“ um einen Gruppe westdeutscher Hacker, die irgendwann Spionage für den KGB betreiben. Herausragend das Spiel von August Diehl in der Figur des zunehmend paranioden Karl Koch. Zum anderen der wahrscheinlich auch internation bekannteste deutsche Film des Jahres: „Lola rennt“ von Tom Tykwer.

Lola rennt

In dem spannenden Film muss Lola drei Mal durch die Straßen von Berlin rennen, um ihrem Freund Manni aus der Patsche zu helfen. Der Kleinganove, gespielt von Moritz Bleibtreu sollte als Geldkurier für einen Autoschieber jobben, doch nach der Geldübergabe hatte er die Plastiktüte mit den 100.000 DM in der U-Bahn liegen gelassen. Verzweifelt ruft er aus einer Telefonzelle Lola an, denn sein Chef will in 20 Minuten das Geld abholen. Und mit Gangsterboss Ronny, gespielt von Heino Ferch, ist nicht zu spaßen. Zwecks Geldbeschaffung will der verzweifelte Manni einen Supermarkt überfallen. Lola hat 20 Minuten Zeit, das Geld anderweitig zu besorgen und das Leben ihres Geliebten zu retten. Ein Lauf gegen die Zeit um Leben und Tod.

Das Filmplakat mit der rennenden Franka Potente als rothaarige Lola habe ich immer noch vor Augen. Als der Thriller vor 25 Jahren in die Kinos kam, überraschte er durch seine Originalität sowie innovativen Ideen. Ähnlich einer Zeitschleife wird dreimal dieselbe Zeitspanne von 20 Minuten gezeigt, jedes Mal mit minimalen Unterschieden, die zu alternativen Abläufen führt. Schmetterlingseffekt sozusagen! Dabei ändert sich nicht nur Lolas eigene, sondern auch die Zukunft aller Personen, auf die sie während ihres Laufs trifft. Deren Zukunft wird in sekundenkurzen Sequenzen von Fotostrecken in den verschiedenen Varianten wiedergegeben.

Der kommerziell äußerst erfolgreiche Film wurde auch im Ausland extrem gefeiert und bedeutete für Regisseur und Produzent Tom Tykwer den großen Durchbruch. Der Film ist gespickt mit visuellen Spielereien, die man so zu dieser Zeit noch nicht gesehen hatte. Realfilmszenen wechseln sich mit kurzen Zeichentrickpassagen ab. Rasante Schnitte im Stakkato-Rhythmus und die dazu passende treibende Techno-Musik geben dem Film ein ungeheures Tempo. Und grade mit dieser Dynamik fängt der Film das Lebensgefühl der damaligen Zeit ein. Dazu die ausdruckstarke Franka Potente in der Titelrolle, die auch für sie der Durchbruch zum Star bedeutete.

Ein actiongeladener Thriller und eine Gangsterballade, in der es um die Macht des Schicksals und um die Liebe geht.

 

Fotos, Rezensionen und Begleittext von Andy Ruhr und Gunnar Wolters.

Das zweite Herz | Im Original erschienen 1998 bei Little, Brown and Company
Das Hörbuch erschien am 01. April 2008 im audio media verlag | Gekürzte Lesung von Engelbert von Nordhausen
ISBN 978-3-86804-471-3
6 Audio-CDs (Gesamtspielzeit: ca. 473 Minuten) | 7,98 €
Originaltitel: Blood Work | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Sepp Leeb

Lola rennt | Kinostart am 20. August 1998
Die Blue-Ray erschien am 27. Mai 2011
Laufzeit 1 Std. 19 Min. | FSK 12 | 6,22 €

Abgehakt | Kurzrezensionen März 2023

Abgehakt | Kurzrezensionen März 2023

Kurzrezensionen März 2023

 

Friedrich Ani | Bullauge

Kay Oleander ist Polizist bei der Schutzpolizei in München. Bei einer Demonstration von „besorgten Bürgern“ eskaliert die Lage leicht, er wird von einer Glasflasche am Kopf getroffen, in der Folge verliert er ein Auge. Immer noch krank geschrieben, traumatisiert, allein stehend, verschafft er sich Zugang zu den Ermittlungsakten. Ein Täter wurde bislang nicht ermittelt, allerdings einige Zeugen vernommen, die sich verdächtig verhalten haben. Eine davon ist Silvia Glaser, auf die Oleander vor ihrem Haus trifft. Beide kommen ins Gespräch. Glaser offenbart ihm, dass sie in den Dunstkreis einer extremen Partei geraten ist, und bittet ihn, ihr dort herauszuhelfen.

Friedrich Ani ist der Mann der leisen Zwischentöne, der psychologischen Profile. Das zelebriert er hier auch ausgiebig. Sowohl Oleander als auch Glaser verbindet einiges, beide sind nach einem Unfall versehrt, noch etwas traumatisiert, ähnlich einsam und vom Leben enttäuscht. Das ist ohne Frage gut geschrieben, erschien mir von der Figurenkonstellation zu konstruiert und war mir auch irgendwie deutlich zu langatmig und spannungsarm. Doch im letzten Drittel bringt Ani dann einen Drive in die Story und am Ende noch einen bösen Twist, der den Leser nicht kalt lässt. Das hat mich dann doch überzeugt. Insofern ein Roman, bei dem man trotz der wenigen Seiten ein wenig dranbleiben muss, das Ende entschädigt dann aber für vieles.

 

Bullauge | Erschienen am 28.10.2022 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-7857-2811-6
366 Seiten | 16,99 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,5 von 5
Genre: Krimi

 

Kim Young-ha | Aufzeichnungen eines Serienmörders

Byongsu Kim ist pensionierter Tierarzt, verbringt seine Zeit inzwischen mit Literatur, schreibt selbst gerne Gedichte. Der Siebzigjährige hat allerdings auch eine Vergangenheit als Serienmörder. Bis zum Alter von 45 Jahren hat er gemordet und wurde nie gefasst. Seit einem schweren Verkehrsunfall hat er dies beendet und die kleine Tochter seines letzten Opfers adoptiert und großgezogen. Zuletzt wurde bei ihm Demenz diagnostiziert, die stetig voranschreitet. Bei einer zufälligen Begegnung trifft Kim auf einen Mann, in dem er ebenfalls einen Serienmörder erkennt. Kurz danach kommt seine Tochter ausgerechnet mit diesem Mann als Verlobtem nach Hause. Kim versucht nun fieberhaft bei fortschreitender Demenz seine Tochter zu beschützen und wenn er bei diesem Mann nochmal selbst zum Mörder werden muss.

„Aufzeichnungen eines Serienmörders“ war in Korea ein Bestseller, auch die Verfilmung war erfolgreich und auch in der deutschen Übersetzung für den auf ostasiatische, insbesondere japanische Literatur spezialisierten Cass Verlag ein großer Erfolg. Der Titel ist dabei wörtlich zu nehmen. Byongsu Kim erzählt aus der Ich-Perspektive in kurzen, knappen Absätzen, in denen sich aktuelle Ereignisse, Erinnerungen aus naher oder ferner Vergangenheit und philosophische und lyrische Einschübe abwechseln. Dabei bringt der Erzähler auch immer blitzlichthaft wieder Einsichten in die koreanische Gesellschaft, vor allem der Vergangenheit. Der Reiz des Romans liegt zum großen Teil in der Person des Byongsu Kim, dem man zunehmend mitleidvoll beim „Verschwinden“ zusieht. Das Thema Demenz ausgerechnet bei einem ein Serienmörder ohne Reue durchzuspielen, ist eine ungemein pfiffige Idee, sehr virtuos umgesetzt. Aber Vorsicht an die Leser: Ob ein dementer Siebzigjähriger ein so zuverlässiger Erzähler ist? Mit weniger als 200 Seiten ein ziemlich schmaler, aber dafür aber umso feiner und nachhallender Roman.

 

Aufzeichnungen eines Serienmörders | Erschienen am 27.09.2020 im Cass Verlag
ISBN 978-3-944751-22-1
152 Seiten | 20,- €
Die gelesene Ausgabe erschien 2022 bei der Büchergilde Gutenberg
Originaltitel: Sakinja-ui gieok-beob | Übersetzung aus dem Koreanischen von Inwon Park
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 4,5 von 5,0
Genre: Spannungsroman

 

 

Peter Papathanasiou | Steinigung

Cobb ist eine vergessene, heruntergekommene Kleinstadt im heißen Outback Australiens. Landflucht, Alkohol, Drogen, Armut nagen am Gemeinwohl, die Installierung eines Internierungslagers für Asylsuchende hat zudem auch nicht wirklich neue Jobs gebracht, stattdessen zusätzliche Probleme. Da wird Cobb von einer brutalen Gewalttat erschüttert. Molly Abbott, beliebte Grundschullehrerin, wird brutal gesteinigt aufgefunden. Aus der Großstadt kommt der Detective George Manolis, um die Dorfpolizisten zu unterstützen. Manolis ist selbst in Cobb aufgewachsen, ehe seine Familie überstürzt den Ort verlassen hat. Manolis sieht sich einer widerwilligen, feindseligen Atmosphäre ausgesetzt. Für viele Bewohner steht fest: Der Mörder kommt aus dem Internierungslager, dem „Braunenhaus“, in dem die Tote Englischunterricht gegeben hat – was vielen allerdings nicht gefallen hat.

Der Debütroman des australischen Autors Peter Papathanasiou führt den Leser tief in die gesellschaftlichen Probleme Australiens. Sehr spannend konstruiert er ein Setting, in dem Nachfolger der Ureinwohner (Constable Sparrow), der ersten Siedler (man erinnert sich: Das waren vor allem Strafgefangene), der Einwanderer im 20.Jahrhundert (Detective Manolis) und die Flüchtlinge von heute aufeinander treffen. Dabei kreiert der Autor eine Reihe interessanter Figuren.

Manolis muss gegen eine Reihe von Widerständen ankämpfen, ihm begegnet Hass, Aggression, verhüllter und offener Rassismus. Am Erschütterndsten erscheint aber der bürokratisch-unterdrückende Umgang des Staates mit den Asylsuchenden, denen keine echte Perspektive geboten wird und die im Lager von Wachpersonal umgeben sind, die allzu gerne ihre Macht missbrauchen. Insgesamt ein lohnendes Debüt mit stark gesellschaftskritischem Unterton aus Australien.

 

Steinigung | Erschienen am 15.03.2023 im Polar Verlag
ISBN 978-3-492-06345-6
304 Seiten | 17,- €
Als E-Book: ISBN 978-3-498392-70-3 | 12,99 €
Originaltitel: The Stoning | Übersetzung aus dem Englischen von Sven Koch
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,5 von 5
Genre: Gesellschaftskritischer Krimi

Rezensionen 1-3 und Fotos von Gunnar Wolters.

 

Kathleen Kent | Der Weg ins Feuer

„Der Weg ins Feuer“ ist der zweite Thriller um die junge Polizistin Betty Rhyzyk vom Dallas Police Department und schließt einige Monate nach den traumatischen Erlebnissen aus dem ersten Band an. Betty, die immer noch unter den körperlichen wie psychischen Verletzungen leidet, darf endlich wieder ihren Dienst im Drogendezernat aufnehmen, wird von ihrem neuen Chef, dem ehemaligen Mordermittler Marshall Maclin erst mal in den Innendienst gesetzt. Auf die Straße darf sie erst wieder, wenn sie einige Therapiestunden beim Polizeipsychiater abgesessen hat. Doch Betty will sich keine Schwäche eingestehen, dabei hat sie auch den Freitod ihres Bruders noch nicht wirklich verarbeitet. Mit ihrer schroffen Art, die man schon aus dem ersten Band kennt, stößt sie auch ihrer geliebten Frau Jackie immer wieder vor den Kopf.

Im Fokus des ganzen Buches steht Betty und die Kriminalgeschichte gerät fast in den Hintergrund. In Dallas rivalisieren Drogenkartelle mitaneinander und Dealer werden auf offener Straße erschossen. Als ein Informant und Junkie ermordet wird und Gerüchte auftauchen, ein Cop wäre involviert, beginnt Betty auf eigene Faust zu ermitteln. Als Leser*in sind wir immer dicht bei ihr, wenn sie sich in die einschlägigen Clubs der Szene oder auch in den Untergrund und damit erneut in große Gefahr begibt. Ihre Kollegen werden von ihr genau beobachtet und es ist ausgerechnet ihr Freund und Kollege Seth, der scheinbar etwas zu verbergen hat. Wenn Betty wiederholt Maclins Anordnungen missachtet und Verdachtsmomente vorenthält, Sitzungen beim Psychologen absagt oder einen Tatort betritt, ohne Verstärkung anzufordern, ist das teilweise schwer zu ertragen. Dabei zeigt sie auch oft ihr weiches Herz, mischt sich in Fällen häuslicher Gewalt ein und nimmt Obdachlose auf.

Man kann diesen zweiten Teil ohne Vorkenntnisse des ersten Teils lesen, ich würde aber dazu raten, sie in der richtigen Reihenfolge zu lesen. Trotz einiger Thriller-Klischees, die bedient werden, ist der Autorin ein spannender und temporeicher Thriller um eine außergewöhnliche Ermittlerin gelungen, der einen Blick in die Abgründe der Drogenkriminalität bietet. „Der Weg ins Feuer“ wird von den starken Charakterisierungen seiner Figuren getragen und zieht seine Intensität aus dem Drama in Bettys Leben, die zum Vorgänger eine glaubhafte Entwicklung durchmacht.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Der Weg ins Feuer | Erschienen am 13.02.2023 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-47296-5
359 Seiten | 16,95 €
Originaltitel: The Burn | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Andrea O’Brien
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 4 von 5
Genre: Thriller

 

 

Vor 10 Jahren: Krimibestenliste Februar 2013 & Reginald Hill | Rache verjährt nicht

Vor 10 Jahren: Krimibestenliste Februar 2013 & Reginald Hill | Rache verjährt nicht

Eine neue Rubrik möchten wir dieses Jahr auf dem Blog einführen. Unter dem Motto „Asservatenkammer“ holen wir in unregelmäßigen Abständen bestimmte Momente in Bereich „Crime fiction“ hervor, öffnen die Box und schauen mal was drin. Zum Anfang schaue ich auf eine Institution in der deutschen Krimilandschaft. Seit nunmehr fast zwanzig Jahren stellt eine Riege von Krimikriteriker:innen unter der Leitung von Tobias Gohlis ihre monatliche Bestenliste zusammen. Die Liste weicht dabei wohltuend von den Bestsellerlisten ab und stellt – abweichende Meinungen zu einzelnen Titeln eingeschlossen – sicherlich für den anspruchsvollen Krimileser eine Referenz dar. Nun werfen wir aber mal einen Blick zurück auf eine konkrete Liste, nämlich auf die Februarliste vor genau zehn Jahren.

KrimiZeitBestenliste Februar 2013:

Platz 1 | Reginald Hill | Rache verjährt nicht
Platz 2 | Friedrich Ani | Süden und das heimliche Leben
Platz 3 | Mike Nicol | Killer Country
Platz 4 | Åsa Larsson | Denn die Gier wird euch verderben
Platz 5 | Nick Stone | Todesritual
Platz 6 | Roger Smith | Stiller Tod
Platz 7 | Merle Kröger | Grenzfall
Platz 8 | Håkan Nesser | Am Abend des Mordes
Platz 9 | Rick DeMarinis | Götterdämmerung in El Paso
Platz 10 | Nicci French | Eisiger Dienstag

Ich musste feststellen, dass ich von dieser Liste lediglich Platz 7 gelesen habe. „Grenzfall“ von Merle Kröger ist aber auch heute noch unbedingt eine Empfehlung wert, ist dieser Kriminalroman (und Road Movie) um Flüchtlinge und speziell Roma immer noch aktuell und politisch relevant.

Ansonsten eine interessante Liste mit einigen Autoren, die auch in letzter Zeit noch auf der Krimibestenliste standen. Åsa Larssons Rebecka-Martinsson-Reihe reicht bis heute, genauso Inspektor Gunnar Barbarotti von Håkan Nesser. Friedrich Ani ist nach wie vor eine Referenz im deutschen Krimi, auch wenn man von Tabor Süden schon ein paar Jahre nichts mehr gelesen hat. Neben Schweden bildet auch der Schauplatz Südafrika mit Mike Nicol und Roger Smith einen kleinen Schwerpunkt. Während letzterer zuletzt unter seinem Pseudonym James Rayburn veröffentlichte, hat man von Nick Stone nach diesem letzten Band der Voodoo-Trilogie um Max Mingus nicht mehr allzuviel gehört. Das Autoren-Duo Nicci Gerrard und Sean French sind nach wie vor produktiv. „Eisiger Dienstag“ war der zweite Band der erfolgreichen achtbändigen Reihe um die Psychotherapeutin Frieda Klein.

Zwei Autoren sind inzwischen verstorben. Im Juni 2019 verstarb Rick DeMarinis. Bereits vor dieser Liste war zudem Reginald Hill im Januar 2012 verstorben. Bekannt vor allem durch seine Reihe um den griesgrämigen Detective Superintendant Dalziel war „Rache verjährt nicht“ ein Stand Alone. Hill war für mich bislang ein weißer Fleck in meiner Leseliste, sodass ich aus diesem Anlass mir die Nr.1 der Februarliste aus 2013 auch vorgenommen habe.

 

Reginald Hill | Rache verjährt nicht

Wilfried, genannt Wolf, Hadda hat es geschafft. Der Mann aus einfachen Verhältnissen, Sohn eines Forstverwalters im nordenglischen Cumbria, hat die attraktive Tochter des lokalen Lords geheiratet, ist Vater einer inzwschen Teenagertochter, hat eine äußerst erfolgreiche Investmentfirma aufgebaut und ist sogar zum „Sir“ geadelt worden. Doch eines frühen Morgens steht die Polizei mit einem Durchsuchungsbeschluss vor der Tür. Zu Haddas großem Entsetzen sind sie nicht nur auf der Spur nach nicht ganz sauberen Finanztransaktionen, sondern findet umfangreiches kinderpornografisches Material, scheinbar mit Hadda als Akteur. Dieser ist außer sich, beteuert seine Unschuld, flieht vor einem Haftprüfungstermin aus dem Gericht – und wird vor der Tür vom einem Bus angefahren. Er erwacht neun Monate später als Krüppel und im Gesicht entstellt wieder auf. Die Würfel sind inzwischen längst gefallen. Er wird zu einer langen Haftstrafe verurteilt, wenig später lässt sich seine Frau vor ihm scheiden und heiratet seinen Anwalt.

Im Gefängnis isoliert er sich zunehmend, doch irgendwann akzeptiert Hadda die Besuche der jungen Psychologin Dr. Alva Ozigbo. Hadda besteht weiterhin auf seine Unschuld, versucht darzulegen, dass er das Opfer eines Komplotts wurde. Doch Dr. Ozigbo glaubt, dass er sich nicht mit seinen Taten auseinandersetzen will. Hadda ist aber vollkommen klar: Eine positive Einschätzung der Psychologin ist essentiell für eine vorzeitige Haftentlassung.

Alva machte eine Notiz, dem nachzugehen, und nahm dann den Rest der Zelle in Augenschein. Nur ihre Leere sagte etwas über die Persönlichkeit ihres Bewohners aus. Er war, als hätte Hadda beschlossen, keine Spur seines Daseins zu hinterlassen. Sie entdeckte allerdings ein einziges Buch, eine zerlesene Taschenbuchausgabe von Der Graf von Monte Christo. Als Proctor sah, dass sie das Buch musterte, sagte er sarkastisch: „Keine Sorge, Miss. Wir suchen regelmäßig alles nach Tunneln ab.“ (Auszug S.102)

Ohne zu viel zu spoilern, kann ich verraten, Hadda kommt irgendwann frei und natürlich will er wissen, wer ihn ins Gefängnis gebracht und sein Leben zerstört hat. Der Graf von Monte Christo lässt grüßen. Überhaupt lässt Reginald Hill immer wieder Verweise auf Dumas, Dickens und andere Literaturgrößen aufblitzen. Die Geschichte ist also ganz klassisch verwurzelt mit den großen Themen Freundschaft, Liebe, Verrat, Schuld, Rache sowie als Mantra immer wieder die „grimmige Notwendigkeit“ unliebsame Dinge unsentimental zu erledigen.

Der Autor erweist sich als sehr versierter Erzähler, beginnend im Prolog mit drei kurzen Episoden, die einige Hintergründe einzelner Figuren beleuchten, ohne dem Leser vorweg zu viel zu verraten, und im Weiteren in verschiedenen Erzählebenen vor, während und nach Haddas Haft. Besonders reizvoll dabei das Aufeinandertreffen Haddas mit seiner Psychologin, wie überhaupt für mich die Dialoge aus dem Roman herausstechen. Hervorzuheben ist natürlich die Skizzierung der Figur Wulf Hadda, ein impulsiver, sehr intelligenter Mann, ein Wolf of the Wall Street, aber ein liebender Ehemann und Vater. Oder doch nicht? Der Leser kann sich nie ganz sicher sein. Dass ihm übel mitgespielt wurde, deutet sich an, aber Wolf scheint kein Kind von Traurigkeit zu sein. Wie weit wird seine Rache gehen, was ist ehrlich gemeint und was täuscht er nur vor?

Der Roman, im Original „The Woodcutter“, war tatsächlich der letzte zu Lebzeiten veröffentlichte Roman Reginald Hills. Seine vierzigjährige Karriere als Krimiautor war äußerst erfolgreich, vor allem mit der Serie um Andrew Dalziel und Peter Pescoe aus Yorkshire. Mit „Rache verjährt nicht“ schrieb er zuletzt nochmal einen, trotz seiner Länge sehr süffig zu lesenden und niemals langweiligen klassischen Stand Alone, der immer hin zwei Monate auf der Nummer 1 der Krimibestenliste stand.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Rache verjährt nicht | Erschienen am 21.01.2013 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-46473-1
686 Seiten | 9,99 €
Originaltitel: The Woodcutter | Übersetzung aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Jahreshighlights 2022

Jahreshighlights 2022

Andys Top 3 in 2022

 

Ich liebe es, am Ende des Jahres einen Blick zurückzuwerfen und zu schauen, was habe ich gelesen, was hat mir gefallen, was nicht so. Obwohl es genauso viele Besprechungen wie vergangenes Jahr waren, hätten es noch mehr sein können, hätten mir Netflix und Amazon Prime nicht dazwischen gegrätscht. Aber die sieben Staffeln Bosch wollten halt auch gesehen werden. Viele gute Bücher, einige Abbrüche und drei Mal die Höchstwertung, Bücher, die mir auch nach der Lektüre lange im Gedächtnis bleiben werden. Und hier sind meine Top 3 des Jahres 2022 (Link in der Überschrift führt zur ausführlichen Rezension):

Elizabeth Wetmore | Wir sind dieser Staub

Elizabeth Wetmores Debüt führt uns ins ländliche Texas der 70er Jahre, ein raues Setting, in dem Männer auf Ölfeldern arbeiten und Frauen zusehen müssen, wie sie ohne jede Perspektive auf Veränderung klarkommen. Es geht brutal und sexistisch zu. Als eine minderjährige Mexikanerin in einem kleinen Kaff brutal vergewaltigt wird, kann sie sich am anderen Morgen schwer misshandelt und mehr tot als lebendig durch die unwirtliche Wüste zu einer Ranch flüchten. Die hochschwangere Besitzerin hilft ihr, wird danach von allen schikaniert und zieht traumatisiert in die Stadt. Fernab von allen Genreschubladen erkundet Wetmore eine trostlose Landschaft, die vom Ölboom bestimmt wird, empathisch erkundigt sie die Menschen, erzählt aus der Perspektive verschiedener Frauen und ihrem hilflosen Ausgeliefertsein, aber auch vom erstmaligen Aufbegehren gegen den Sexismus und Rassismus. Der poetische aber auch drastische Sprachstil hat mich mitgerissen und ich kann diesen großartigen, eindrücklichen Roman unbedingt empfehlen.

Don Winslow | City on Fire

Der erste Teil einer geplanten Trilogie ist eine nostalgische Reise in die 80er. Es geht um einen Bandenkrieg zwischen der italienischen Mafia und dem irischen Mob in Winslows Heimatstadt Providence. Wegen einer schönen Frau bekommt die fragile Koexistenz der beiden Familienclans Risse und löst eine Lawine der Gewalt aus. Der kluge, umsichtige Danny Ryan, Hauptfigur in Winslows neuem Thriller, der schon lange davon träumt, das Business zu verlassen, muss widerwillig das Zepter übernehmen. Wie Danny vom Handlanger zum Anführer aufsteigt, ist tempo- und wendungsreich mit großer visueller Sogkraft erzählt. Eine gut konstruierte, ganz klassische Geschichte, in der Macht, Loyalität, Familie, Freundschaft und Verrat eine große Rolle spielen. Inspiration holte Winslow sich bei den großen Klassikern, denn City on Fire ist auch Epos und Drama. Ein Thriller, wie er sein muss, ein Pageturner im besten Sinne, extremspannend, emotional mit ambivalenten Helden. Dieses Jahr konnte ich den charismatischen Ausnahmeschriftsteller auch bei einer Lesung kennen lernen. Deshalb hoffe ich, dass die Trilogie nicht wie geplant, das Ende seiner Karriere einläutet.

Rumaan Alam | Inmitten der Nacht

Eine ganz typische New Yorker Familie des weißen Mittelstandes hat ein luxuriöses, allerdings ziemlich abgelegenes Ferienhaus auf Long Island gemietet, um mit den beiden pubertierenden Kindern eine unbeschwerte Woche zu verbringen. Die Idylle wird schon in der ersten Nacht gestört, als ein älteres, schwarzes Ehepaar um Einlass bittet. Sie stellen sich als die Besitzer des Domizils vor und erzählen von einem großflächigen Blackout in New York. Aus dieser Ausgangssituation entwickelt sich ein immer bedrohlicher werdendes Szenario. Unaufhaltsam verdichten sich die Hinweise darauf, dass sich eine Katastrophe unbekannten Ausmaßes ereignet hat. Die anspruchsvolle Lektüre hat mich von der ersten Seite mitgenommen und nicht mehr losgelassen. Das lag zum einen an der Sprachgewalt des Autors, der genüsslich jedoch mit feinem Humor seine Figuren seziert und ihre Charaktere und teilweise irrationalen Verhaltensweisen ambivalent aber durchaus menschlich zeichnet. Zum anderen wird durch die dystopischen Andeutungen eine permanent unterschwellige Spannung generiert. Für mich eine verstörende Lesereise, die mich gefesselt hat und sich schwer einem bestimmten Genre zuordnen lässt. Ein Psycho- und Katastrophenthriller, Kammerspiel und Sozialsatire, in dem der Autor wie nebenbei soziale Themen wie Klimawandel, Alltagsrassismus und Konsumgesellschaft einbindet.

 

Gunnars Top 3 in 2022

 

82 Bücher mit knapp 30.000 Seiten habe ich in 2022 gelesen, sagt zumindest meine Goodreads-Statistik. Die große Mehrzahl waren natürlich Krimis, dabei habe ich viele ordentliche und gute Krimis gelesen, mit Höchstnoten war ich aber sparsam. Bei den älteren Krimis war mein absolutes Highlight „Wahrheit“ von Peter Temple. Bei den aktuellen Titeln hätte ich zusätzlich ebenfalls wie Andy auf Don Winslows „City on Fire“ verwiesen, sehr stark finde auch meine aktuelle Lektüre: Attica Locke mit „Pleasantville“. Aber letztlich habe ich mich für diese drei Titel entscheiden:

Oliver Bottini | Einmal noch sterben

„Curveball“ war der legendäre Informant des BND, der den USA den Vorwand für den Irakkrieg lieferte. Wie sich später herausstellte, waren die Information falsch. Was aber, wenn dem BND (und den Amerikanern) das durchaus bewusst war? Oliver Bottini ist der Meister des deutschen Politthrillers und liefert hier ein realistisches Szenario unter der Prämisse, dass Curveball bewusst als falsche Quelle aufgebaut wurde und das Ganze von einer geheimen Gruppe, einem Staat im Staate, gedeckt und zur Not auch gegen offizielle Ermittler der deutschen Sicherheitsbehörden verteidigt wird. Ein faszinierender und zugleich beklemmender Plot, gepaart mit Bottinis üblichem literarischem Anspruch.

Garry Disher | Stunde der Flut

Was wäre ein Rückblick auf meine Jahreshighlights ohne Garry Disher? Ich durfte den sympathischen, bodenständigen Australier im Herbst beim Krimifestival „Mord am Hellweg“ auch live erleben. Als Krimiautor spielt er weltweit in der absolut obersten Liga mit und das mit einer eindrucksvollen Konstanz. „Stunde der Flut“ ist diesmal ein Stand-Alone mit dem suspendierten Polizistin Charlie Deravin, der immer noch dem Verschwinden seiner Mutter von vor zwanzig Jahren nachspürt. Eine sehr komplizierte Familiensituation, denn Hauptverdächtiger ist nach wie vor sein eigener Vater, was Charlie allerdings nicht glaubt. Der Plot hat noch weitere Stränge, es geht um toxische Männlichkeit damals wie heute und wie immer bringt Disher alles gewohnt routiniert auf den Punkt zusammen. Ich hatte es schon in der ausführlichen Besprechung erwähnt: Garry Disher bleibt Goldstandard der Kriminalliteratur.

Ann-Helén Laestadius | Das Leuchten der Rentiere

Ein Roman, der für mein Empfinden noch mehr Aufmerksamkeit verdient gehabt hätte. Den deutschen Titel hat der Verlag möglicherweise mit einem Hintergedanken auf „Der Gesang der Flusskrebse“ gewählt. Dieser Titel war für mich echt enttäuschend, aber bei den Rentieren war ich wirklich begeistert. Im Zentrum steht die Sámi Elsa, ihre Familie betreibt die traditionelle Rentierwirtschaft. Als Neunjährige beobachtet sie einen Wilderer, der sie bedroht, sodass sie über den Vorfall schweigt. Zehn Jahre später als junge Erwachsene findet Elsa endlich den Mut, ihr Schweigen zu durchbrechen, und bringt sich damit in starke Gefahr. Der Roman handelt von Fragen der Identität, von Zukunftsängsten der Samen, von der Ignoranz und dem Rassismus der schwedischen Mehrheitsgesellschaft, aber auch von den internen Problemen der samischen Gemeinschaft. Er verbindet sehr eindrucksvoll verschiedene Elemente wie Familiendrama, Gesellschaftsroman und Krimi. Ein echtes Jahreshighlight.

 

Weiterlesen I: Die Gewinner des Deutschen Krimipreises 2022

Weiterlesen II: Die Jahres-Top Ten 2022 der Jury der Krimibestenliste

Abgehakt | Kurzrezensionen Dezember 2022

Abgehakt | Kurzrezensionen Dezember 2022

Kurzrezensionen Dezember 2022

Arttu Tuominen | Was wir verbergen

Ende des letzten Jahres erschien „Was wir verschweigen“ von Arttu Tuominen, der erste Band mit Kommissaren der Kriminalpolizei aus Pori in Nordwestfinnland. Damals stand Jari Paloviita im Fokus, als er einem mordverdächtigen Jugendfreund zu Hilfe kommt und die Ermittlungen beeinflusst. Für mich ein überzeugender Krimi.

Nun gibt es Band 2 aus Pori und diesmal steht Jaris Kollege Henrik Oksman im Fokus des Romans. Er ist ein stiller Einzelgänger im Präsidium. Was niemand weiß: Henrik ist homosexuell und verkleidet sich gern als Frau. Er verbringt einen Abend in einem queeren Nachtklub in Pori, findet dort Anschluss und verlässt mit seinem Begleiter den Club in ein nahegelegenes Hotel. Kurz darauf wirft ein Attentäter zwei Granaten in den Eingangsbereich des Clubs, fünf Menschen sterben. Ein Bekennervideo zeigt einen fanatischen Mann, der weitere Taten ankündigt und andere aufruft, ebenfalls in seinen Kampf gegen Schwule und vermeintlich Andersartige zu ziehen. Es folgen hektische Ermittlungen nach dem Täter, währenddessen Henrik verschweigt, dass er kurz vor dem Attentat im Club war und mit aller Macht versucht, sein Geheimnis zu bewahren.

Eine sehr interessante Idee des Autors, die Prämisse des ersten Romans – ein Ermittler, der in einem aktuellen Fall etwas zu verbergen hat – wieder aufzugreifen. Das funktioniert auch, denn obwohl man annehmen könnte, dass Homosexualität im modernen Finnland unproblematisch wäre, stehen der private Hintergrund Henrik Oksmans als Gegenbeispiel. Erzkonservative, homophobe und rassistische Gegenbewegungen gibt es offenbar auch in Finnland. Der Roman überzeugt am meisten bei der komplexen Figur Oksman und am wenigsten bei der etwas schematischen Figur des Attentäters. Insgesamt aber eine ordentliche Fortsetzung des starken ersten Bands.

 

Was wir verbergen | Erschienen am 28.10.2022 bei Bastei Lübbe
ISBN 978-3-7857-2811-6
366 Seiten | 16,99 €
Als E-Book: ISBN 978-3-7517-2811-9 | 11,99 €
Originaltitel: Hyvitys | Übersetzung aus dem Finnischen von Anke Michler-Janhunen
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,5 von 5
Genre: Krimi

 

Michael Mann & Meg Gardiner | Heat 2

Um Regisseur Michael Mann ist es ein wenig still geworden, seine letzter Kinofilm „Blackhat“ von 2015 war ein veritabler Flop. Kein Wunder, dass er sich nun seines größten Erfolgs erinnert hat: „Heat“ von 1995 ist ein sowohl actionreiches als auch tief melancholisches Heist-Drama, ein Klassiker des Genres, mit großartigen Schauspilern wie Robert de Niro und Al Pacino. Zusammen mit der Kriminalautorin Meg Gardiner hat Michael Mann nun „Heat 2“ geschrieben, dass sowohl Prequel als auch Sequel von „Heat“ ist. Die Verfilmung soll angeblich bereits in den Startlöchern stehen.

Die Cineasten unter uns werden es wissen (Zur Not erläutern die Autoren etwas umständlich im Prolog auch nochmal den Schluss von Heat): Beim Showdown am Ende überlebt Chris Shiherlis (gespielt von Val Kilmer) schwer verletzt und entkommt der Polizei um Vincent Hanna. Aus dieser Ausgangsposition wird erzählt, wie Chris in Paraguay in der rauen Schmugglerstadt Cuidad del Este bei einer taiwanesischen Mafiafamilie unterkommt und sich dort hocharbeitet, vor allem in der Gunst der Tochter des Clanchefs, die obwohl deutlich cleverer als ihr Bruder, nicht an die Spitze des Clans aufrücken soll. Währenddessen wird die Vorgeschichte erzählt: Nach einem Coup in Chicago 1988 geraten Neil McCauley und seine Crew mit Chris ins Visier eines soziopathischen Kriminellen, der ihnen den nächsten Coup streitig machen will. Zum Ende werden alle Fäden wieder in L.A. Im Jahr 2000 zusammenführen.

Jetzt kann man natürlich etwas streiten, ob es unbedingt einer Fortsetzung bedurft hätte. Ästhetisch und inhaltlich knüpfen Mann & Gardiner an Bestehendem an, haben wenig Neues zu bieten, geben den bekannten Figuren keine wesentlichen neuen Attribute. Andererseits ist das Ganze auch auf einem respektablem Niveau. Der Spannungsbogen überzeugt, man bleibt bis zum Schluss dran und fühlte sich gut unterhalten. Insofern nicht übel, man sehen, was der Film kann.

 

Heat 2 | Erschienen am 27.09.2022 bei HarperCollins
ISBN 978-3-3650-0228-5
688 Seiten | 14,- €
Als E-Book: ISBN 978-3-7499-0516-4 | 9,99 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,5 von 5,0
Genre: Krimi

 

Michelle Paver | Schneegrab

April 1935: Von Darjeeling aus bricht eine Gruppe britischer Bergsteiger zum Kangchenjunga auf, dem dritthöchsten Berg der Welt. Sie bewegen sich auf der Route einer Expedition um den Leiter Edmund Lyell knapp dreißig Jahre zuvor, die im Desaster endete, wobei Lyell dank eines von ihm veröffentlichten heroischen Expeditionsberichts zum Bergsteigerhelden wurde. Doch ging es damals so zu, wie von ihm berichtet? Stephen Pearce, Arzt der neuen Expedition, kam erst spät ins Team, will sich unbedingt beweisen – und doch beschleicht ihn ein merkwürdiges Gefühl, auch aufgrund des Aberglaubens der einheimischen Träger. Als die Gruppe schließlich den Berg erreicht, hat Stephen Erscheinungen. Irgendjemand scheint die Gruppe zu begleiten und zu beobachten.

Autorin Michelle Paver begibt sich mit „Schneegrab“ in den Himalaya und hat eine Mischung aus historischem Bergsteigerroman und Mysterythriller vorgelegt. Der Schauplatz ist interessant gewählt, ihre Recherchen scheint die Autorin auch gemacht zu haben, allerdings habe ich schon packendene Bergsteigergeschichten gelesen. Das Ganze ist weniger eine Horror als eine Schauergeschichte. Nicht schlecht, vor allem die Auflösung fand ich durchaus clever. Allerdings plätscherte es für mich zwischendurch auch so ein wenig dahin. Die Entscheidung, die Story von Stephen als Ich-Erzähler erzählen zu lassen, macht zwar Sinn, aber ich fand die übrigen Figuren dadurch etwas blass vom Profil. So fand ich „Schneegrab“ ganz ordentlich für zwischendurch, aber da wäre aus meiner Sicht noch mehr drin gewesen.

 

Schneegrab | Erschienen am 01.12.2021 im Piper Verlag
ISBN 978-3-492-06345-6
304 Seiten | 17,- €
Als E-Book: ISBN 978-3-492-60178-8 | 12,99 €
Originaltitel: Thin Air | Übersetzung aus dem Englischen von Karin Dufner
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3 von 5
Genre: Mysterythriller

 

Graham Moore | Verweigerung

Ein Geschworenenprozess in Los Angeles: Die 15jährige Jessica Silver, Tochter eines Immobilienmoguls, verschwindet. Wegen Mordes wird ihr Lehrer Bobby Nock angeklagt, der offenbar ein Verhältnis mit Jessica hatte und in dessen Auto Blutspuren von Jessica gefunden wurden. Die Geschworenen tendieren zunächst zu einem Schuldspruch, entscheiden aber letztlich nach längerer Beratung und Intervention hauptsächlich einer Geschworenen auf „nicht schuldig“ und stehen fortan unter scharfer Kritik. Im Mittelpunkt der Kritik steht Maya Seale, die anschließend selbst Jura studiert und Anwältin wird. Zehn Jahre später trommelt eine TV-Produktionsfirma die Geschworenen wieder zusammen. Einer von ihnen, Rick, behauptet, hieb- und stichfeste Beweise für die Täterschaft Bobby Nocks gefunden zu haben. Maya bezweifelt dies, streitet sich mit Rick und findet diesen kurz danach ermordet in ihrem Hotelzimmer. Plötzlich wird Maya zur Hauptverdächtigen.

Justizthriller waren durch John Grisham in der 1990ern auf einmal sehr populär. Das amerikanische Rechtssystem mit Geschworenenurteilen lädt natürlich auch immer wieder zu interessanten Plots ein. Hier erzählt Autor Graham Moore sehr versiert auf zwei Zeitebenen: Zum einen beleuchtet er den Prozess von damals, nach und nach erfährt der Leser, was damals in den Beratungen der Geschworenen geschehen ist und was zum Freispruch von Bobby Nocks geführt hat. Zum Anderen verfolgen wir Maya in der Gegenwart, die nur widerwillig an dem TV-Event teilnimmt, plötzlich mordverdächtig ist und nun selbst ermittelt, um sich zu entlasten. Insgesamt ein clever erzählter Justizthriller mit einigen interessanten Wendungen und einigen bissigen Spitzen gegen das amerikanische Justizsystem.

 

Verweigerung | Erschienen am 21.12.2020 im Eichborn Verlag
ISBN 978-3-8479-0053-5
400 Seiten | 22,- €
Als Taschenbuch: ISBN 978-3-8479-0108-2 | 12,- €
Originaltitel: | Übersetzung aus dem Englischen von André Mumot
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 4 von 5
Genre: Spannungsroman

 

Rezensionen und Fotos von Gunnar Wolters.