Autor: Nora

Lisa Sandlin | Ein Job für Delpha

Lisa Sandlin | Ein Job für Delpha

„Von den Leuten, mit denen ich seit Neuestem zu tun habe, Mr. Phelan, wissen Sie, Joe Ford, Miss Doris und Calinda Blanchard, dass ich im Gefängnis gewesen bin. … Wenn Sie etwas wissen wollen, in dem ich mich dank meiner Vergangenheit auskenne, fragen Sie mich das bitte direkt. Ich werde es Ihnen sagen. Eiern Sie nicht herum, als wollten Sie mir sagen, dass man meinen Schlüpfer sehen kann.“ (Auszug Seite 136)

Einen Job braucht Delpha Wade unbedingt. Sie ist Anfang 30, als sie in Texas auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen wird. 14 Jahre hat sie wegen Totschlag gesessen und jetzt will sie unbedingt wieder Fuß fassen und ihren Platz in der Gesellschaft finden. Als Leser begleiten wir sie auf ihren ersten, unsicheren Schritten bei der Wohnungs- und Jobsuche. Sie findet ein Zimmer in einem heruntergekommenen Seniorenwohnheim, dass sie kostenlos bewohnen darf, wenn sie sich dafür abends und am Wochenende um die pflegebedürftige Tante der Hotelleiterin kümmert.

Eine neu gegründete Detektei
Ihr Bewährungshelfer verschafft ihr ein Bewerbungsgespräch als Sekretärin in der neu gegründeten Detektei von Tom Phelan. Nachdem der 29-Jährige Phelan bei der Arbeit auf einer Bohrinsel im Golf von Mexiko einen Mittelfinger verloren hat, macht er sich, obwohl total unerfahren als Privatdetektiv selbständig. Tom geht hier nicht besonders strukturiert vor, aber er ist ein gutmütiger Kerl und schnell stellt sich heraus, dass Delpha, der er eine Chance gibt, für ihn ein echter Glücksgriff ist. Mit ihrer Menschenkenntnis, Klugheit und dem ihr eigenen Pragmatismus kümmert sie sich um alles, was so anfällt und macht sich damit in kürzester Zeit unentbehrlich.

Anfänglich hat Phelan Investigations mit Routineaufträgen zu tun. Ein verschwundener Junge, der in schlechte Gesellschaft geraten ist, ein nerviger Hund, der die ganze Nachbarschaft terrorisiert, ein Beinamputierter, dessen Schwester seine Prothese als Geisel genommen hat und auch der Klassiker darf nicht fehlen: Eine betrogene Ehefrau, die Bilder von ihrem Ehemann in Flagranti bestellt. Erst im letzten Drittel der Geschichte verdichten sich die bis dahin scheinbar belanglosen Geschehnisse zu einem brisanten Kriminalfall. Alles hängt irgendwie zusammen und Delpha und Tom haben es auf einmal mit Patentraub, Industriespionage und einem Serienkiller zu tun, der Delpha in tödliche Gefahr bringt. Sie bekommt auch noch die Chance auf Rache, denn sie begegnet dem Mann, der sie einst durch eine Falschaussage ins Gefängnis brachte.

Die 70er Jahre
Es sind die 70er Jahre, Creedence Clearwater Revival klingt aus dem Radio und die Menschen verfolgen Nixons Anhörungen im Watergate Skandal im Fernsehen. Mich hat tatsächlich das wunderschön gestaltete Cover gelockt sowie Delphas interessante Hintergrundgeschichte, mit der das Leben bisher nicht grade fair umgegangen ist, die ich aber hier nicht spoilern möchte. Zu Beginn hatte ich leichte Schwierigkeiten in die Geschichte reinzukommen. Lisa Sandlin hält sich nicht mit großen Erklärungen auf, sondern glänzt durch einen episodenhaften Erzählstil, bei dem mir zumindest anfänglich der umfassende Zusammenhang fehlte. Vieles war mir am Anfang zu unüberschaubar und ich suchte irritiert den roten Faden. Ich musste mich erst an den ambitionierten Schreibstil gewöhnen, der besonders in den Dialogen oft schräg und witzig ist. Aber ich war von den ersten Seiten fasziniert, mitzuerleben, wie Delpha Wade sich in ihr neues, selbstbestimmtes Leben mit den noch ungewohnten Möglichkeiten eingewöhnt.

Meine Meinung
Sandlin beschreibt sehr einfühlsam und mit großer Wärme wie unsere Protagonistin jede neue Erfahrung in Freiheit erlebt und sei es nur ihre Freude über ein eigenes Zimmer zum Abschließen. Sie ist ein ruhiger und zurückhaltender Mensch, will nichts falsch machen oder auffallen und sich an die Bewährungsauflagen halten. Sie ist auch smart und lebenshungrig und man freut sich mit ihr über die Affäre mit einem 20-jährigen College-Studenten. Sandlin hat ein Händchen für die Atmosphäre der 70er Jahre im südöstlichen Beaumont in Texas. Ihre Milieuschilderungen sind sehr stimmig und sie entwirft großartige Sprachbilder. Besonders sinnlich und wunderschön beschrieben fand ich einen Ausflug ans Meer, den Delpha mit ihrem jungen Freund unternimmt.

Die Fälle der Detektei, die ja erst mal unspektakulär sind, werden logischerweise sehr kleinteilig beschrieben, was dem ganzen Roman aber eine große Gelassenheit gibt. Dann werden aber mit überraschender Lässigkeit alle Teile zusammen geknüpft und Tom und Delpha kommen einer großen Verschwörung auf die Spur. Vieles hängt doch noch miteinander zusammen und das ist eigentlich sehr gut konstruiert. Ein ganz besonderer, literarischer Kriminalroman um zwei Außenseiter in Texas.

Die Autorin
Die amerikanische Autorin Lisa Sandlin schrieb ihr Romandebüt mit 64, vorher war sie mit Kurzgeschichten und Essays hervorgetreten. Die Professorin stammt aus Beaumont, Texas und lehrte an der Universität von Omaha/Nebraska Creative Writing. Heute lebt sie in Santa Fe, New Mexico, wo sie Schreiben unterrichtet. „Ein Job für Delpha“ wurde mit dem Hammett Prize und dem Shamus Award 2016 ausgezeichnet. 2020 ist der Folgeband „Family Business“ erschienen und ich würde gerne Delpha und Tom auf ihrem Weg weiter verfolgen.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Ein Job für Delpha | Erschien am 10. Juli 2017 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-5184-6779-4
350 Seiten | 9,95 Euro
Originaltitel: The Do-Right
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Corinna Kastner | Fischland-Lügen

Corinna Kastner | Fischland-Lügen

„In der Ferne erkannte sie auf dem tiefblauen Wasser ein Segelboot und weit dahinter einen großen Frachter. Beide bewegten sich entlang des Horizonts auf die Seebrücke zu, und im Stillen schloss sie eine Wette mit sich selbst ab, wer das Rennen gewinnen, wer zuerst auf Höhe des Brückenkopfes ankommen würde. Trotz seiner Wendigkeit und Schnelligkeit wurde das Segelboot von dem großen, schweren Frachter überholt. So war das im Leben. Die Stärkeren gewannen. Immer.“ (Seite 7)

Im Ostseebad Wustrow, auf dem Fischland, will Immobilienhai Falk Clasen eine Golfanlage mit Hotel bauen, was den Fischländern natürlich nicht gefällt. Zeitgleich sucht Clasens Tochter Miriam in Wustrow nach ihrem Freund Dominik, der bis vor kurzem Sicherheitschef bei Clasens Firma war und nun spurlos verschwunden ist. Das sind für die Pensionswirtin Kassandra Voß schon zwei Gründe, um gegen Falk Clasen zu ermitteln. Durch Zufall erfährt sie, dass ihr Freund und Ex-Polizist Kay Dietrich ebenfalls hinter Clasen her ist und mit vereinten Kräften schleusen sie Kay in Clasens Firma, um so an belastendes Material zu gelangen. Doch das erweist sich als große Gefahr…

Das Gefühl der Ostsee zum Lesen
„Fischland-Lügen“ von Corinna Kastner ist der sechste Fall um Pensionswirtin Kassandra Voß und der achte Krimi der Autorin mit Schauplatz auf dem Fischland. In dieser Geschichte ist ein wesentlicher Handlungsort auch die Hansestadt Stralsund, was mich aber nicht gestört hat, denn der Fokus bleibt auf der Halbinsel. Und diese, speziell Wustrow, wird sehr detailliert beschrieben und man bekommt gleich Lust, sich ebenfalls die Ostseeluft um die Nase wehen zu lassen.

Sehr hoher Spannungsbogen
Am Anfang der Geschichte hatte ich etwas Schwierigkeiten, mir zu merken, welche Person zu welchem Namen gehörte, obwohl es nicht mein erstes Buch mit der Protagonistin war. Im Laufe des Lesens hat es sich für mich allerdings gelichtet und ich hatte damit keine weiteren Probleme. Der Spannungsbogen steigt ab etwa der Hälfte rasant an und fällt bis zum Schluss kaum noch. An manchen Stellen habe ich sogar fast atemlos gelesen, was passiert. Das liegt nicht nur allein an der Handlung, sondern auch daran, wie die Autorin die einzelnen Situationen und Kapitel gliedert.

Bodenständige Protagonistin
Kassandra Voß ist vor einigen Jahren aufs Fischland gezogen, um dort mit einer Pension neu anzufangen. Seitdem zieht sie kriminelle Machenschaften quasi an und ermittelt gern auf eigene Faust mit Hilfe ihrer Freunde, die sie in Wustrow kennengelernt hat. Dabei bleibt sie meiner Meinung nach stets bodenständig, begibt sich in keine waghalsigen oder unüberlegten Aktionen und ist trotzdem spontan, impulsiv und ungeduldig, wenn sie mitten in einem Fall steckt. Ich finde die Protagonistin damit sehr sympathisch.

Nicht erfüllte Versprechung
Auf dem Buchrücken wird damit geworben, dass es sich um „die perfekte Mischung aus packender Krimihandlung und romantischer Liebesgeschichte“ handelt. Mit ersterem gehe ich absolut mit. Bei der Liebesgeschichte habe ich persönlich die wahre große Liebe erwartet, wie man sich das eben in Romanen so vorstellt. Hier ist es aber eher eine Mischung aus Affären, unglücklichen Ehen und gestandenen Beziehungen, bei denen höchstens gedanklich an deren Fortbestehen gezweifelt wird. Hätte mich insgesamt gar nicht gestört, wenn nicht was anderes versprochen worden wäre.

Fazit: Viel Ostsee-Gefühl, noch mehr Spannung und andere Liebe als erwartet.

Corinna Kastner wurde 1965 in Hameln geboren. Sie arbeitet am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung in Hannover und fühlt sich an der Ostsee am wohlsten. Besonders das Fischland inspiriert sie sowohl schriftstellerisch als auch fotografisch. Seit 2005 veröffentlicht sie schauplatzorientierte Spannungsromane und seit sieben Jahren ihre Küsten Krimis, die auf dem Fischland spielen.

 

Foto und Rezension von Andrea Köster.

Fischland-Lügen | Erschienen am 23. Juli 2020 im Emons Verlag
ISBN: 978-3740809157
400 Seiten | 14,00 €
Bibliografische Angaben und Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu Romanen von Corinna Kastner

Adrian McKinty | Alter Hund, neue Tricks (Band 8)

Adrian McKinty | Alter Hund, neue Tricks (Band 8)

„Sie können ruhig schlafen gehen, Sir. Ich bringe das hier zum Abschluss. Alles ziemlich offensichtlich, wie Sie schon sagten, da bin ich mir sicher“, sagte ich.
Da konnte man mal sehen, wie eingerostet ich schon war. So etwas sagte man nicht, wenn die Götter, das böse Omen und das Schicksal zuhörten. Niemals. Was hast du dir dabei gedacht, Duffy? Du Blödmann. (Auszug S.38)

Es ist 1992 und Sean Duffy verbringt eigentlich ein inzwischen beschauliches Leben. Mit Frau (na ja, geheiratet hat er dann doch noch nicht) und inzwischen fünfjähriger Tochter ist er über die Irische See nach Schottland gezogen. Im Polizeidienst ist er nur noch Teilzeitkraft, sechs Tage im Monat, und bis zu den Pensionsansprüchen nach zwanzig Jahren Dienstzeit sind es nur noch zweieinhalb Jahre. So werden er und sein Kumpel John „Crabbie“ McCrabban eher im Innendienst eingesetzt. Doch da der leitende Inspektor Lawson im Teneriffa-Urlaub weilt, soll sich Duffy einen Tötungsfall mal näher anschauen.

Auf den ersten Blick eine klare Sache: Ein Jaguar wurde von einem Landhaus gestohlen. Der Besitzer wollte den Raub verhindern und wurde von dem/den Carjackern erschossen. Doch Duffy fallen spontan ein paar Ungereimtheiten auf, unter anderem ist der Name, mit dem der Tote das Haus gemietet hat, nicht sein richtiger. Der Mann war offenbar Künstler, Landschafts- und Porträtmaler, aber wie konnte er seinen Lebensstil und zwei Radierungen von Picasso im Wohnzimmer finanzieren? In der Telefonliste taucht eine merkwürdige Nummer auf, mit der offenbar sehr regelmäßig telefoniert wurde. Die Nummer gehört zu einer Telefonzelle im irischen Dundalk. In der Nachbarschaft wohnt Brendan O’Roarke, Mitglied des Armeerats der IRA.

Völlig zwecklos, Verstärkung anzufordern. Die würden doch nur alles vermasseln. Die Trottel vom Revier? Vergiss es. Die Schafsköpfe von der Schnellen Eingrifftruppe oder von Special Branch? Amateure. Der Einzige, dem Spiegel-Duffy vertraute, war Crabbie, und den wollte niemand hier reinziehen.
Duffy solo. Wie in alten Zeiten. (Auszug S.216)

Man fürchtete ja schon das Schlimmste, als Adrian McKinty nun dank eines neuen amerikanischen Agenten mit seinem „The Chain“ unter die Bestseller-Autoren gegangen war. Es sei ihm unbedingt gegönnt, aber die einhellige Meinung der Kenner seiner Bücher war, dass „The Chain“ zu sehr dem Mainstream frönte und er damit unter seinen Möglichkeiten blieb. Gefürchtet wurde vor allem um seine Sean-Duffy-Reihe, die er aber zum Glück doch noch (ein bisschen) weitermacht.

Begonnen hatte die Reihe ja 1981 und inzwischen haben in Band 8 die Neunziger erreicht. Alles entwickelt sich weiter, aber Duffy bleibt sich zum Glück treu (auch wenn er die Musik von diesen Typen aus Seattle gar nicht so übel findet). Einen Fall, den er einmal in den Fingern hat, gibt er so einfach nicht ab – auch wenn er von seinen Vorgesetzten dazu aufgefordert wird und es gefährlich werden könnte. Diesmal pfeifen die Spatzen von den Dächern, dass es Bewegung bei den Konfliktparteien der „Troubles“ gibt. Friedensgespräche vielleicht. Doch natürlich gibt es auch die Falken, die auf keinen Fall der anderen Seite entgegenkommen wollen. Und einer dieser Falken ist Brendan O’Roarke.

Mit Sean Duffy bin ich ja nun schon eine Weile unterwegs und werde dieser Reihe nicht müde. Dieser Mischung aus Kriminalfällen voller Finesse und brisanter Action, dem historischen Hintergrund des Nordirland-Konflikts, dem Zeitgeist der 80er und frühen 90er und dem bissig-ironischem Sprachwitz gepaart mit einer lässigen Hauptfigur, kann man sich kaum entziehen. Sehr erfreulich, dass Autor Adrian McKinty und sein Übersetzer Peter Torberg im Laufe der Reihe auch ihre Form nicht verlieren. Somit ist auch „Alter Hund, neue Tricks“ wiederum ein richtig guter Kriminalroman geworden.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Alter Hund, neue Tricks | Erschienen am 29.09.2020 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-47060-2
368 Seiten | 15,95 €
Originaltitel: Hang On St. Christopher
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezensionen von Gunnar zu Band 3 (Die verlorenen Schwestern), Band 4 (Gun Street Girl), Band 5 (Rain Dogs) und Band 6 (Dirty Cops) der Sean-Duffy-Reihe

William Boyle | Eine wahre Freundin

William Boyle | Eine wahre Freundin

Jeder weiß über Vic Bescheid, was er gemacht hat und wie er gestorben ist, aber niemand spricht sie darauf an. Niemand fragt sie, wie es ist, den eigenen Ehemann verbluten zu sehen. Oder wie es ist, mit dem Gartenschlauch getrocknetes Blut von den Stufen zu spritzen, nachdem man gerade den einzigen Mann beerdigt hat, den man je geliebt hat. (Auszug Seite 11)

William Boyle erzählt in seinem Kriminalroman „Eine wahre Freundin“ eine Mafiageschichte und hat dabei, und das ist das Ungewöhnliche, die Frauen in den Mittelpunkt gerückt. Frauen spielen in Geschichten über das organisierte Verbrechen selten eine große Rolle und ihr Leben wird oft als Familienmitglieder oder Geliebte von den Männern an ihrer Seite bestimmt.

Eine dieser Frauenfiguren ist die 60-jährige Rena Ruggiero, Witwe eines Brooklyner Gangsters, der vor neun Jahren vor ihrem Haus erschossen wurde. Der sanfte „Gentle“ Vic hatte für die Mafia sehr erfolgreich Schulden eingetrieben. Aber von dieser schmutzigen Arbeit wollte Rena nie etwas wissen und hatte sich darauf konzentriert, ihrem geliebten Ehemann ein behagliches Heim zu bereiten. Jetzt fühlt sich Rena einsam, denn auch zu ihrer einzigen Tochter hat sie seit einem Streit auf Vics Beerdigung keinen Kontakt mehr. Adrienne, die seit ihrer Teenager-Zeit mit dem Mafiosi Richie Schiavano liiert ist, lebt in der Bronx und hat mir ihrer Mutter gebrochen, selbst die inzwischen 15-jährige Enkelin Lucia hält sie von ihr fern.

Pornoqueen und gewiefte Betrügerin
Renas ruhiges Leben findet ein jähes Ende, als der achtzigjährige Nachbar Enzio ihr an die Wäsche will. Ausgerechnet der schmierige Enzio, der ständig mit blanker Brust in der Einfahrt sein schönes altes Auto wienert und sie beim Vorbeigehen Schätzchen oder Püppchen nennt. Als der alte Lüstling zudringlich wird, zieht sie ihm in ihrer Verzweiflung einen großen Glasaschenbecher über den Kopf. Panisch lässt sie den blutüberströmten Enzio zurück und flüchtet in seinem heißgeliebten schwarzen 62er Chevy Impala. Verzweifelt fährt sie in die Bronx zu ihrer Tochter, in der Hoffnung auf Hilfe in ihrer Not. Doch Adrienne will von Versöhnung nichts wissen und schlägt ihr die Tür vor der Nase zu.

Rena kommt erst mal bei der Nachbarin unter, der locker-lässigen etwa gleichaltrigen Lacey Wolfstein. Der frühere Pornostar hatte nach Karriereende ältere, wohlhabende Männer in Florida ausgenommen, bevor sie sich hier in der Bronx zur Ruhe setzte. Kurz darauf flüchtet auch Lucia hierher. Sie will nicht mit ihrer Mutter und deren Freund Richie nach New York fliehen, weil der seine Mafiakumpel um eine Menge Geld gebracht hat. In Wolfsteins Haus eskaliert die ganze Situation, weil auch noch ein betrogener Lover von Lacey auftaucht und der vermeintlich erschlagene Enzio seinen wertvollen Oldtimer zurück haben will. Nach aberwitzigen Wortgefechten läuft die Situation in Wolfies Haus komplett aus dem Ruder und endet in einem grotesken Blutbad. Rena, Wolfie und Lucia gelingt mit einem Koffer voll Dollar die Flucht in Richies 1982er Cadillac Eldorado, verfolgt von einem hammerschwingendem, irren Mafia-Killer.
Die so unterschiedlichen Frauen kommen sich näher, freunden sich an und halten zusammen. Das erinnert an Thelma und Louise, aber auch auf Mafiafilme a la Scorsese, De Niro und den Sopranos wird oft verwiesen.

Screwball Noir
Screwball Noir nennt der amerikanische Autor seinen Krimi. Dafür sprechen die schrägen Charaktere, die absurden Dialoge, der abgedrehte Plot und das hohe Erzähltempo, die ja typisch für eine Screwball-Komödie sind. Ich mochte den feinen und intelligenten Wortwitz, auch wenn er nicht so philosophisch ist, wie er gerne sein möchte. Unterbrochen wird das ganze immer wieder durch übertriebene Gewaltdarstellungen, die aus chaotischen Situationen entstehen und komödiantisch unterlaufen werden. Die Gewalt ist meistens völlig unangemessen und grenzt oft an sadistische Exzesse. Dadurch bewegt sich der Kriminalroman samt seiner exzentrischen Charaktere oft an der Grenze zur Posse, auch weil die Handlungen der Figuren an einigen Stellen für mich nicht komplett nachvollziehbar waren.
Alles in allem habe ich den harten wie komischen Kriminalroman gerne gelesen und mich gut unterhalten gefühlt und könnte es mir aufgrund der visuellen Situationskomik sehr gut verfilmt vorstellen. Es geht um Familienbande und Freundschaften zwischen Frauen, die über sich hinauswachsen. Männer spielen eine untergeordnete Rolle.

Der Autor
William Boyle ist 1978 im Süden des New Yorker Stadtteils Brooklyn geboren. Man merkt, dass er sich in diesen Vierteln, über die er immer wieder schreibt, gut auskennt. Er wuchs mit der italienischen Seite seiner Familie auf und die Mafiosis haben ihn von klein auf fasziniert und seine Fantasie als Autor beflügelt. Auch in seinem 2018 auf Deutsch erschienenen ersten Roman „Gravesend“ und im Folgeroman „Einsame Zeugin“ spielen diese italienisch-amerikanischen Viertel eine große Rolle. Seit 2012 lehrt er kreatives Schreiben an der University of Mississippi in Oxford, wo er mit Frau und zwei Kindern lebt.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Eine wahre Freundin | Erschienen am 01. Juni 2020 im Polar Verlag
ISBN 987-3-948392-08-6
360 Seiten | 22.- Euro
Originaltitel: A Friend Is A Gift You Give Yourself
Bibliografische Angaben

Eric Berg | Die Mörderinsel (Band 2)

Eric Berg | Die Mörderinsel (Band 2)

„Und genau dort waren binnen eines Jahres sechs Menschen eines gewaltsamen Todes gestorben – zwei hatte man mit durchtrennter Kehle im Wald gefunden, vier waren einem Brandanschlag zum Opfer gefallen. Einige deutsche Medien hatten dem betulichen Usedom daraufhin den Titel „Mörderinsel“ verliehen, was ich ungerecht fand.“ (Auszug Seite 33)

Der Hotelier Holger Simonsmeyer wird wegen Mordes an einer jungen Frau angeklagt, aber freigesprochen. Die Bewohner von Trenthin, dem Dorf auf Usedom, in dem Holger mit seiner Familie lebt, sind aber ganz anderer Meinung als das Gericht, haben Angst und fühlen sich von der Polizei im Stich gelassen. Dann geschieht ein schrecklicher Brand im Haus der Simonsmeyers, der weitere Opfer fordert… Die Journalistin Doro Kagel hat über den Mord und den Prozess geschrieben, die Bitte von Holgers Frau aber abgelehnt, einen weiteren Artikel über die Freilassung zu verfassen. Nun plagen sie nach dem Brand Schuldgefühle und sie beginnt den Fall erneut aufzurollen.

Zweiter Fall für Doro Kagel
„Die Mörderinsel“ von Eric Berg ist der zweite Fall um die Journalistin Doro Kagel. In ihren ersten Ermittlungen in „Das Nebelhaus“ deckt sie ein Geheimnis auf der Ostseeinsel Hiddensee auf, nun verschlägt es die Berlinerin zweitweise nach Usedom. Die Geschichte ist in zwei Zeitebenen aufgebaut. Die erste beginnt nach der Freilassung von Holger Simonsmeyer, es wird die Zeit bis zum Brand aus Sicht einiger Dorfbewohner geschildert. Die zweite Ebene beginnt wenige Tage nach dem Brand, Doro Kagel beschreibt ihre Ermittlungen und Recherchen in Ich-Form.

Keine leichte Aufgabe
Doro Kagel ist Gerichtsreporterin, hat einen Sohn und wohnt mit ihrem Mann Yim, der ein Restaurant leitet, in Berlin Friedenau. Doro hat sich keine leichte Aufgabe gestellt, in dem sie den abgeschlossenen Fall wieder aufnimmt, zumal einige Zeugen zu dem Zeitpunkt nicht mehr leben. Sie entdeckt schnell Ungereimtheiten und setzt alles daran, um diese aufzudecken.

Ungeahntes Ende
Die Handlung liest sich meiner Meinung nach sehr flüssig und spannend. Es werden verhältnismäßig viele Charaktere geschildert, ich kam aber insgesamt gut mit. Der Spannungsbogen ist für mich definitiv vorhanden, auch weil der Autor am Schluss einer Zeitebene oft mit Cliffhangern arbeitet, das Ende hat mich dann aber trotz viel Dramatik nicht so überrascht, wie ich es gehofft hatte. Ich habe mit dieser Auflösung nicht gerechnet, aber irgendwie habe ich etwas Schockierenderes erwartet. Trotzdem bin ich keineswegs enttäuscht. Ich hatte sehr viel Freude beim Miträtseln und Überlegen.

Fazit: Spannender Fall, ehrgeizige Journalistin und wunderschöner Schauplatz. Klare Empfehlung!

Eric Berg zählt seit vielen Jahren zu den erfolgreichsten deutschen Autoren. 2013 verwirklichte er einen lang gehegten schriftstellerischen Traum und veröffentlichte seinen ersten Kriminalroman »Das Nebelhaus«, der 2017 mit Felicitas Woll in der Hauptrolle der Journalistin Doro Kagel verfilmt wurde. Seither begeistert Eric Berg mit jedem seiner Romane Leser und Kritiker aufs Neue und erobert regelmäßig die Bestsellerlisten. (Verlagsinfo)

 

Foto und Rezension von Andrea Köster.

Die Mörderinsel | Erschienen am 16. März 2020 im Limes Verlag
ISBN 978-3-809-02661-7
480 Seiten | 15,00 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Monikas Rezension zu Band 1 der Reihe, „Das Nebelhaus“; außerdem weitere Rezensionen zu Eric Bergs Romanen „So bitter die Rache“, „Die Schattenbucht“ und „Das Küstengrab“