Monat: September 2021

Abgehakt | Kurzrezensionen September 2021

Abgehakt | Kurzrezensionen September 2021

Unsere Kurzrezensionen zum Ende September 2021

 

 

Liam McIlvanney | Ein frommer Mörder

Glasgow 1968/69: Ein Serienmörder hat bereits drei junge Frauen ermordet, alle offenbar im selben Tanzlokal abgeschleppt und auf dem Nachhauseweg erdrosselt. Aufgrund einiger religiöser Zitate, die eine Zeugin von ihm gehört hat, wird er der „Quäker“ genannt. Trotz Phantombilder und einiger Zeugenaussagen tappt die Sondereinheit der Polizei Monate nach dem dritten Mord immer noch im Dunkeln. Detective Inspector Duncan McCormack wird der Sondereinheit als eine Art Revisor zugeteilt. Die Polizeispitze ist nach so vielen Monaten der Meinung, dass die Ermittlungen zu viele Ressourcen binden, McCormack soll einen Bericht liefern, der diese Ansicht bestätigt. Dementsprechend willkommen ist er in der Sondereinheit, er gilt als Nestbeschmutzer. Doch McCormack will nicht nur belehren, er macht nach und nach deutlich, dass auch er das Ziel verfolgt, den Täter zu ermitteln. Und McCormack ist bereit, ausgetretene Ermittlungspfade zu verlassen.

Zeitgleich kommt Alex Paton wieder in die Stadt. In Glasgow aufgewachsen, hat er es in den letzten Jahren in London zu einem gefragten Spezialisten in Sachen Safeknacken gebracht. In der alten Heimat wird ihm ein lukrativer Job, der Einbruch in ein Auktionshaus, angeboten. Die Suche nach dem Quäker lässt ihn kalt. Noch ahnt Paton nicht, dass er in die Quäker-Sache unmittelbar verwickelt wird.

Der Name McIlvanney hat einen großen Klang in der schottischen Kriminalliteratur. Und tatsächlich ist Liam McIlvanneys Vater der große William, Schöpfer des legendären Inspektor Laidlaw. Liam lebt inzwischen in Neuseeland, doch für den Schauplatz seines dritten Romans bleibt er der alten Heimat treu. Wie einst auch Ian Rankin in „Black and Blue“ bedient sich McIlvanney eines alten großen, bis heute ungelösten Kriminalfalls: Der „Bible John“ getaufte Täter brachte damals drei junge Frauen um. Aber der hier „Quäker“ getaufte Mörder ist in diesem Roman im Grunde nur eine Randfigur, denn McIlvanney bleibt der Tradition des schottischen Krimis treu und stellt neben der zwar starken, aber auch angreifbaren Ermittlerfigur gesellschaftliche Aspekte in den Mittelpunkt. Das Ende der 1960er als Aufbruch in der Moderne ist nämlich auch durch tiefe Brüche (beispielsweise in der Glasgower Stadtentwicklung) und düstere Auswüchse (Kriminalität, Polizeigewalt und Korruption) gekennzeichnet. Das macht den Roman zu einem echten Leseerlebnis und verdienten Sieger des schottischen Krimipreises 2018.

 

Ein frommer Mörder | Erschienen am 12.07.2021 im Heyne Verlag
ISBN 978-3-453-44093-7
344 Seiten | 14,99 €
Originaltitel: The Quaker (Übersetzung aus dem Englischen von Sabine Lohmann)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 4,5 von 5,0
Genre: Noir/Hardboiled

 

Chris Offutt | Unbarmherziges Land

Militärpolizist Mick ist wegen Eheproblemen in der Heimat in den Bergen Kentuckys. Seine Schwester Linda ist Sheriff und bittet ihn um Mithilfe in einem vermeintlichen Mordfall. Ein alter Mann hat beim Pflanzenpflücken die Leiche einer Frau entdeckt. Mick hängt sich ohne eigene Zuständigkeiten rein, aber alte Familienbande, überkommene Traditionen sowie eine angeborene Zurückhaltung gegenüber den Ermittlungsbehörden erschweren die Aufklärung. Hinzu kommen andere kriminelle Aktivitäten, die unentdeckt bleiben sollen.

Chris Offutt war mir bis dato noch nicht bekannt, obwohl „Unbarmherziges Land“ nicht das erste übersetzte Werk von ihm ist. In seiner Heimat ist Offutt vor allem durch seine Short Stories bekannt, ist aber auch erfolgreich im Non-Fiction-Bereich. Aber dieser Roman ist ein waschechter Country Noir aus den ländlichen Bergen des Bundesstaats Kentucky. Leider hebt sich das Werk nicht so recht von anderen Büchern des Genres ab – man hat so hin und wieder das Gefühl, die Typen oder Teile des Plots schon so ähnlich mal gelesen zu haben. So ist das Ganze ein solider, aber relativ unspektakulärer Country Noir. Für zwischendurch ganz ok.

 

Unbarmherziges Land | Erschienen am 24.07.2021 im Tropen Verlag
ISBN 978-3-608-50512-2
250 Seiten | 15,- €
als E-Book: ISBN 978-3-608-11714-1 | 11,99 €
Originaltitel: The Killing Hills (Übersetzung aus dem Englischen von Anke Caroline Burger)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3 von 5;
Genre: Noir/Hardboiled

 

Garry Disher | Moder

Wyatt hält sich in Sydney auf und erhält für seine Raubzüge und Einbrüche Information durch Sam Kramer, der ein umfassendes Informantennetz auch aus dem Gefängnis betreibt. Im Gegenzug verwaltet Wyatt Kramers Provisionen und kümmert sich um dessen Familie. Doch das macht Wyatt angreifbar. Denn sowohl die Polizei als auch Nick Lazar, zwielichtiger Chef einer Sicherheitsfirma, werden auf Wyatt aufmerksam. Dieser hingegen hat einen neuen Job im Visier: Nick Tramayne hat mit Finanztransaktionen nach dem Ponzi-Schema (eine Art Schneeballsystem) Anleger um Millionen betrogen. Er kann sich bislang noch vor einer Verhaftung bewahren, aber die Schlinge zieht sich zu. Man vermutet, dass er sich bald absetzen will – mit einem großen Batzen veruntreuten Geldes. Hierauf hat es Wyatt abgesehen – aber nicht nur er.

Garry Disher setzt mit „Moder“ seine Reihe um den vornamenlosen australischen Gangster fort. Dabei bleibt sich Disher bei den Zutaten treu: Ein höchstprofessioneller Outlaw als Hauptfigur, skrupellose Gangster (auch in Nadelstreifen), die ihm in die Quere kommen, eine schnörkellose Story, ein lakonischer Stil. So bleibt auch bei diesem Roman kaum Leerlauf, sondern das Tempo und die Spannung bleiben hoch. Nebenbei karikiert Disher die hohle Welt (betrügerischer) Investoren, Anlageberater und Anwälte, die sich hier gegenseitig um ihren Reichtum bringen wollen. Wie immer eine vergnügliche Lektüre.

 

Moder | Erschienen am 01.09.2021 bei Pulp Master
ISBN 978-3-946582-06-9
300 Seiten | 14,80 €
Originaltitel: Kill Shot (Übersetzung aus dem Englischen von Ango Laina und Angelika Müller)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 4 von 5;
Genre: Noir/Hardboiled

 

Garry Disher | Barrier Highway

Constable Hirschhausen ist inzwischen ein wenig heimisch geworden im beschaulichen Tiverton im dünnbesiedelten Norden des Bundesstaats South Australia. Er macht wie üblich seine Routinefahrten, seine kleinen Ermittlungen, doch dieses Mal braut sich wieder etwas zusammen. Ein wohlhabender Unternehmer bezahlt seine Rechnungen bzw. versprochene Renditen nicht mehr, was bei einem seiner Gläubiger zu einer Kurzschlussreaktion führt. Gleichzeitig vermisst eine alte Dame einen beträchtlichen Teil ihres Ersparten und kommt kurz darauf bei einem Brand ums Leben. Ein Unfall oder hat da jemand nachgeholfen?

Nochmal Garry Disher? Na ja, ich habe so oft Lobeshymnen an den Australier verteilt, da dachte ich mir, diesmal reicht das auch im Kurzformat. Erstaunlich auch, wie Disher beim dritten Band der Reihe um Paul Hirschhausen, genannt Hirsch, im Vergleich zu wahrlich guten Wyatt-Band nochmal eine Schippe drauf legt. Bei aller Raffinesse wirkt der Wyatt wie eine lässige Fingerübung für Zwischendurch, aber hier lässt Disher wieder seine ganzen Fähigkeiten aufblitzen. Wie immer in Tiverton fängt es betulich an, ein Schlüpferdieb wird gesucht, dann folgt eine Kindesvernächlässigung, Hirsch wird gestalkt, weitere Straftaten folgen – aber alles zu seiner Zeit: Die erste Leiche kommt erst nach der Hälfte des Buches. Vielmehr spinnt der Autor hier ein feines Netz und erzählt von den Menschen und ihren Beziehungen in dieser australischen Kleinstadt und wie eines zum anderen und schließlich zu Todesfällen führt. Hauptfigur in diesem Soziogramm ist dieser Constable Hirschhausen, nicht mehr fremd, aber auch noch nicht heimisch, der mit einer feinen Sensibilität möglichst alles zum Guten wenden will, aber längst auch nicht alles richtig macht. Disher ist und bleibt die Champions League der Krimiszene.

Barrier Highway | Erschienen am 12.07.2021 im Unionsverlag
ISBN 978-3-293-00572-3
345 Seiten | 22,- €
Originaltitel: Consolation (Übersetzung aus dem Englischen von Peter Torberg)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 4,5 von 5;
Genre: Krimi

 

Fotos und Rezensionen von Gunnar Wolters.

Erskine Childers | Das Rätsel der Sandbank

Erskine Childers | Das Rätsel der Sandbank

Heutzutage gibt es ja noch selten Romane, die ein politisches Erdbeben auslösen. Dafür sind die Zeiten und die Nachrichten inzwischen einfach zu schnell und eng getaktet. Doch vor mehr als hundert Jahren war dies durchaus noch möglich. Erskine Childers schrieb seinen einzigen Roman „The Riddle of the Sands“ kurz nach der Jahrhundertwende und traf damit einen politischen Nerv. England und Deutschland befanden sich damals im Wettrüsten. Two-Power-Standard hieß damals die Devise der Briten und damit wollte man seine uneingeschränkte Herrschaft auf den Weltmeeren festigen. Und dann kam dieser Roman, in dem dem Empire seine Verwundbarkeit mal eben vor Augen geführt wurde. Doch der Reihe nach.

Der Roman beginnt mit einem Vorwort des Autors, der hier behauptet, die Geschichte eines Abenteuers eines Freundes zu erzählen, das ihm dieser im Vertrauen auf Geheimhaltung geschildert habe und nun doch eine Veröffentlichung wünsche. Dieser Freund namens Carruthers ist ein Beamte im Außenministerium. Er hat den ganzen Sommer über die Stellung im Büro gehalten und ist inzwischen urlaubsreif, als ihm im September ein Brief eines alten Bekannten erreicht. Arthur Davies ist mit einer Jacht in der Ostsee unterwegs und fragt bei Carruthers an, ob dieser nicht ein wenig mitsegeln und auf Entenjagd gehen möchte. Carruthers ziert sich etwas, so dicke war er mit Davies früher auch nicht, aber mangels Alternativen sagt er doch zu und begibt sich per Schiff und Zug nach Flensburg.

Dort angekommen hebt sich Carruthers Laune nicht, denn die Jacht mit dem wohlklingenden Namen „Dulcibella“ entpuppt sich als relativ kleines, schmuckloses Boot. Personal gibt es auch keins, vielmehr ist Davies bislang allein bis in die Ostsee gesegelt. Und die richtige Zeit zum Entenjagen ist gerade auch nicht. Davies und Carruthers segeln einige Tage eher missmutig durch die Ostseeförden, bis Davies endlich mit der Sprache herausrückt.

Wieder wurde ich von seiner Umbestimmtheit unangenehm berührt; zwischen uns schien es eine Schranke zu geben, unsichtbar und unüberwindbar. Und überhaupt, was wollte ich hier? Ich quälte mich ab, in einer schäbigen kleinen Yacht, völlig außerhalb meines Elements, zusammen mit einem Mann, der mir vor einer Woche noch nichts bedeutete und jetzt ein ermüdendes Rätsel war. (Auszug S.67)

Auf der Hinfahrt ist Davies ausgiebig entlang der ostfriesischen Küste gesegelt und hat dann vor Norderney die Bekanntschaft eines gewissen Dollmann gemacht, der dort mit seiner Jacht ankerte. Dollmann wirkte erst abweisend, aber zeigte mehr und mehr Interesse an Davies und bot ihm schließlich an, gemeinsam weiter bis zur Elbmündung zu segeln. In einem Sturm hat Dollmann ihn dann in ein schwieriges Seegebiet mit vielen Sandbänken gelenkt. Dollmanns Jacht verschwand, die Dulcibella lief auf und Davies überlebte nur mit Glück und dank der Hilfe eines weiteren Bootes. Nun ist Davies sicher, dass Dollmann ihn absichtlich ins Verderben lenken wollte und zwar wegen irgendeines Geheimnisses bei den Ostfriesischen Inseln, dem er zu nahe gekommen sei. Carruthers sagt zwar seine Unterstützung zu, doch er bleibt weiterhin ein wenig skeptisch, denn als Davies auch noch Dollmanns Tochter erwähnt, befürchtet er, vielleicht doch nur in eine seltsame Liebesgeschichte geraten zu sein. Doch schließlich begeben die beiden sich über den Kaiser-Wilhelm-Kanal (heute Nord-Ostsee-Kanal) wieder in die Nordsee und beginnen mit den Nachforschungen, denn Davies hat seine ganz eigene Theorie. Er hält Dollmann für einen Spion in deutschen Diensten, der irgendein militärisches Geheimnis um jeden Preis schützen wollte.

Der Roman beginnt zunächst etwas schleppend und zäh, wie auch das Verhältnis zwischen Davies und Carruthers. Carruthers ist der etwas versnobte Beamte, eher eine Landratte, der sich von diesem Urlaub zwar nicht so richtig etwas versprochen hatte, aber der das Vorgefundene dennoch missbilligt. Davies hingegen ist zurückhaltend und bescheiden. Er ist aber voller Tatendrang und ein passionierter Segler, der es aber nie zur Navy geschafft hat und gerade deshalb diese Spionagesache aufdecken will. Die beiden raufen sich aber nach und nach immer weiter zusammen und werden schließlich auch erhebliche Risiken zusammen eingehen.

„Das Rätsel der Sandbank“ gilt heute als einer der ersten modernen Spionageromane und wie bereits angedeutet, hatte er in Großbritannien einige Wirkung, denn ohne viel über den weiteren Verlauf der Geschichte anzudeuten, hielt man in politischen und militärischen Kreisen die Fiktion dieses Werks für so realitätsnah, dass es einige verteidigungspolitische Maßnahmen nach sich zog. Erskine Childers war selbst passionierter Hochseesegler und kannte sich in den beschriebenen Segelrevieren hervorragend aus. Childers war in Irland geboren, diente bei der Royal Navy im ersten Weltkrieg und wurde dann glühender Anhänger der irischen Unabhängigkeitsbewegung. Im Irischen Bürgerkieg wurde er schließlich im November 1922 gefangen genommen und exekutiert.

Der Roman wurde 1979 zunächst von den Briten verfilmt. Dann gab es 1987 die hierzulande sicherlich bekanntere Verfilmung als zehnteilige ARD-Serie mit Burghardt Klaußner, Peter Sattmann, Gunnar Möller und Isabell Varell in den Hauptrollen. Beide Verfilmungen weichen aber teilweise von der Vorlage ab.

Ich wartete an Deck und beobachtete den Todeskampf der erstickenden Sände unter dem erbarmungslosen Ansturm der See. Die letzten Bollwerke wurden zerschmettert, gestürmt und überwältigt; der Aufruhr der Geräusche ließ nach und festigte sich, die See fegte siegreich über die ganze Weite. (Auszug S.128)

Der Roman ist ein Abenteuerroman und ein Spionagethriller. Er braucht ein wenig, bis er auf Touren kommt, die Spannung stellt sich erst spät ein. Die Spionageabschnitte wirken heutzutage etwas altmodisch, Davies und Carruthers etwas linkisch als Spione. Aber was den Reiz dieses Romans aus meiner Sicht immer noch ausmacht, sind die Passagen auf See. Selbst ich als Landratte muss konstatieren: Dieses Buch riecht und schmeckt nach Salzwasser, Wind und Sand. Das Buch enthält mehrere Karten, auf denen man die Fahrt der Dulcibella verfolgen kann – und es automatisch tut und quasi mitsegelt. Eric Ambler sagte über den Roman: „Eines der schönsten Bücher über Segelboote, die je geschrieben wurden.“ Wer wollte dem wiedersprechen? Als Spionageroman etwas old-fashioned, als Abenteuer- und Segelroman immer noch großartig.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Das Rätsel der Sandbank | Erstmals erschienen 1903
Die gelesene Ausgabe erschien 1975 im Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-20211-3
336 Seiten | 13,- €
Originaltitel: The Riddle of the Sands (Übersetzung aus dem Englischen von Hubert Deymann)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Simon Beckett | Die Verlorenen (Band 1)

Simon Beckett | Die Verlorenen (Band 1)

Als Jonah das Blut roch, war ihm klar, dass er in Schwierigkeiten steckte. (Auszug Anfang)

Jonah Colley ist Mitglied einer bewaffneten Eliteeinheit der Londoner Polizei. In einem Pub trinkt er noch ein Bier mit seinen Kollegen, als er überraschend einen Anruf von seinem ehemals besten Freund und Kollegen Gavin erhält, von dem er zehn Jahre nichts gehört hat. Gavin bittet ihn um ein Treffen in einem leerstehenden Lagerhaus am Kai, sieht Jonah als den Einzigen, dem er noch trauen kann. Als Jonah am vereinbarten Treffpunkt am Slaughter Quai ankommt, findet er nur noch Gavins Leiche sowie drei weitere Tote in Plastikfolien verschnürt vor. Eines der Opfer lebt noch, doch bevor Jonah die Frau befreien kann, wird er niedergeschlagen. Schwer verletzt mit einem zertrümmerten Knie wacht er im Krankenhaus auf, von Gavins Leiche keine Spur und so gerät er selbst ins Visier der ermittelnden Beamten.

Colley kämpft seit zehn Jahren mit seinen inneren Dämonen, denn da verschwand sein vierjähriger Sohn Theo spurlos von einem Spielplatz. Er leidet schwer an seiner Mitschuld, seine Ehe zerbrach daran, auch die Freundschaft mit Gavin endete. Damals wurde kurzzeitig ein Obdachloser namens Owen Stokes verdächtig, aber wieder auf freien Fuß gesetzt. Als jetzt in den aktuellen Ermittlungen wieder der Name Stokes auftaucht und Hinweise auftauchen, die einen Bezug zu dem Verschwinden seines Sohnes haben, stellt er auf eigene Faust Nachforschungen an. Jonah Colley setzt alles daran, das Verschwinden Theos im Alleingang aufzuklären.

Der englische Bestseller-Autor kommt mit dem Auftakt einer neuen Krimi-Serie. Ich war sehr gespannt, fand ich seine gerade in Deutschland sehr erfolgreiche Serie um den forensischen Anthropologen David Hunter doch mittlerweile ein wenig ermüdend und ausgelaugt. Das düstere Schwarz-Weiß-Cover und der Titel lassen auf eine bedrohliche und beklemmende Geschichte schließen. Und gleich mit den ersten Sätzen gelingt es dem Autor im gewohnt flüssigen Schreibstil und zügigem Tempo den Leser in den Bann zu ziehen. Mit allem was bei einem Simon Beckett-Thriller dazugehört und alptraumhafte Bilder im Kopf entstehen lässt: Ein stockfinsteres Schlachter-Kai mitten in der Nacht am Hafen, der Geruch nach Blut, grauenhafte Todesfälle und einem sympathischen aber schwer traumatisierten Helden. Neben dem atmosphärischen Setting ist auch wieder der Schreibstil gewohnt einfach gehalten und flüssig zu lesen. Spannung oder zumindest Neugierde entsteht auch, weil man erst nach und nach über die traurigen Umstände von Theos Verschwinden informiert wird.

Leider erfüllen Becketts Charaktere gängige Stereotypen, besonders die zentrale Figur des Polizisten Jonah Colley entspricht dem Klischee des schwer gebeutelten, alleine kämpfenden Wolfes. Dass die Hauptfigur einen persönlichen Verlust erlitten hat, an dem er aufgrund seiner Schuldgefühle fast zerbricht, habe ich jetzt auch schon zu oft gelesen. Beckett gönnt ihm, ähnlich David Hunter auch keine Verschnaufspausen, lässt den Schwerverletzten auf Krücken in viele physisch gefährliche sowie emotionale Extremsituationen geraten. Was mich jedoch am meisten enttäuscht hat, ist die Tatsache, dass Colley ja laut Klappentext einer bewaffneten Spezialeinheit angehört. Das hatte mich sehr angefixt, kommt aber gar nicht zum Tragen. Er hätte jeden beliebigen Beruf angehören können! Außer im Pub am Anfang des Thrillers tauchen seine Kollegen nie wieder auf. Auch benimmt Colley sich oft sehr unprofessionell, agiert naiv, vernichtet Spuren, bemerkt nicht, dass er verfolgt wird, bringt sich ständig in offensichtlich gefährliche Situationen, in dem er nachts alleine in verlassenen, schangeligen Gegenden herumirrt. Alleine, aber auf Krücken!

Auch die diversen Nebenfiguren – eher Knallchargen – agieren voreingenommen und wenig nachvollziehbar. Die angedeutete Romanze mit der charmanten Journalistin ist unnötig und lächerlich.

Zum Schluss kommt es zu einem actiongeladenen Showdown, in dem alle Fäden zusammen geführt werden. Die Motivation hinter den Taten wirkt dabei ziemlich abstrus und wenig glaubhaft, um nicht hanebüchen zu sagen. Nach einem wirklich fesselnden Beginn glänzt Becket mit vielen überraschenden Wendungen, manches wirkt doch sehr konstruiert. Einiges bleibt auch für weitere Fortsetzungen offen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass sich das Trauma des verschwunden Kindes durch die noch folgenden Bände zieht. Auch alles schon mal dagewesen.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Die Verlorenen | Erschienen am 08. Juli 2021 bei Wunderlich im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-8052-0052-3
416 Seiten | 24,00 Euro
Originaltitel: The Lost (Übersetzung aus dem Englischen von Karen Witthuhn und Sabine Längsfeld)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu Romanen von David Beckett

Yassin Musharbash | Russische Botschaften

Yassin Musharbash | Russische Botschaften

„Doch, wir entscheiden das. Hier und jetzt. Ich hab das genau genommen schon entschieden. Und das Dritte Geschlecht entscheidet in dieser Sache gar nichts.“
„Sagen Sie mal, haben Sie … ein Drogenproblem, von dem ich nichts weiß? Haben Sie Fieber? Sie sie eventuell…“
„…Erlinger!!“
„Ja?“
„Erlinger, das Dritte Geschlecht steht auch auf dieser Liste!“. (Auszug E-Book Pos.1426)

Die Journalistin Merle Schwalb von Nachrichtenmagazin „Globus“ steht vor einem großen Karrieresprung. Sie ist mit Arno Erlinger verabredet, renommierter Investigativjournalist, Chef der kleinen, aber feinen Recherche-Einheit „Die drei Fragezeichen“ innerhalb der „Globus“-Redaktion, der ihr einen vakanten Platz bei den „Drei Fragezeichen“ anbietet. Mitten in der Verabredung in einem arabischen Restaurant in Neukölln, fällt ein Mann von einem Balkon oberhalb des Restaurants und bleibt tot auf dem Asphalt liegen. Damit hat Merle Schwalb bereits ihren ersten Recherchefall. Denn im Polizeibericht wird nur ein Unfall ohne Fremdverschulden mit einem Schwerverletzten vermerkt. Doch Schwalb ist sich sicher, dass der Mann tot war und ziemlich bald findet sie heraus, dass der Mann Anatoli Nowikow hieß, Russe – Mitarbeiter der russischen Botschaft und V-Mann des Verfassungsschutzes.

Kurze Zeit später beginnt Schwalb eine Affäre mit Timur Zossen, ein Kollege bei der „Norddeutschen Zeitung“. Er erzählt ihr im Vertrauen, dass er über einen Mittelsmann von einem Mitarbeiter der russischen Botschaft eine Liste mit 25 Deutschen erhalten hat, die von den Russen bezahlt werden, um in Deutschland russische Position zu unterstützen. Ein Großteil der Liste ist allerdings noch verschlüsselt. Merle Schwalb ist schnell klar, dass diese Liste von ihrem ominösen Toten stammt. Timur Zossen hat allerdings noch ein weiteres Problem: Einer der Namen ist ein Kollege in der „Norddeutschen Zeitung“. Und der Hammer: Die Herausgeberin des „Globus“, Adela von Steinwald, genannt „Das Dritte Geschlecht“, ist ebenfalls darauf. Zossen und Schwalb schlagen eine Kooperation beider Redaktionen vor und tatsächlich finden sich sieben Journalisten beider Häuser in einem kleinen brandenburgischen Ort zu einer geheimen gemeinsamen Recherche zusammen.

Autor Yassin Musharbash ist erfahrener Journalist, aktuell bei der „Zeit“, und ein ausgewiesener Experte für den arabischen Raum und Terrorismus. Thematisch waren seine ersten beiden Romane „Radikal“ und „Jenseits“ auch in dieser Richtung ausgerichtet. Immer gut in der Vita eines Thrillerautors macht sich auch die Tatsache, dass Musharbash eine Zeitlang als Rechercheur für den großen John le Carré gearbeitet hat. Ein Zitat aus le Carrés „Eine Art Held“ stellt er seinem neuen Thriller „Russische Botschaften“ auch voran. Thematisch bewegt der Autor sich weg von Islamismus und Terrorismus hin zu Fake News, Desinformation und dem zunehmend schwierigen Geschäft des politischen Journalismus in den aktuellen Zeiten.

Das gemeinsame Rechercheteam findet nämlich einige Ungereimtheiten auf der ominösen Liste heraus: Einige Daten auf der Liste führen ins Nichts, andere sind offenbar Ablenkung, wiederum andere scheinen zu stimmen. Über einen Informanten erfahren die Journalisten auch von den Absichten des russischen Geheimdienstes GRU, bei dem Nowikow offenbar angestellt war, und anderer Kreml-naher Player. Je länger die Recherchen dauern, umso mehr geraten die Journalisten selbst in den Strom der Desinformation und Gegenkampagnen. Denn ihre Gegner sind extrem gut aufgestellt.

„Russische Botschaften“ ist ein spannender und sehr informativer Thrilller, bei dem die Leser von einem ausgewiesenen Experten in die Abläufe des Investigativjournalismus eingeführt werden. Wir dürfen Redaktionssitzungen und mühsamer Recherche beiwohnen. Und man merkt schnell, dass eine Story auch für den Journalisten selbst schnell zu Sprengstoff für die eigene Karriere werden kann. Die Wahl der Hauptperson bringt nochmal eine zusätzliche Ebene hinein. Merle Schwalb ist keine unerfahrene Journalistin mehr, trotzdem wird sie von den Kollegen tendenziell unterschätzt, wird von der Herausgeberin aufgefordert, „sich Eier wachsen zu lassen“. Sie wird aber die treibende Kraft dieser Recherche, die die Journalisten an ihre Grenzen und zunehmend in Gefahr bringt. Insgesamt ist dieser Thriller ein wirklich kluger und spannender Roman, der viel Informatives über die aktuelle Situation des politischen Journalismus bereithält.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Russische Botschaften | Erschienen am 19.08.2021 im Verlag Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-00096-2
400 Seiten | 16,- €
als E-Book: ISBN 978-3-462-30261-5 | 12,99 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Inga Vesper | In Aufruhr

Inga Vesper | In Aufruhr

„Ich meine“, fährt der Detective fort, „wir haben keine Leiche gefunden, und so viel Blut war da nicht. Sie könnte noch am Leben sein. Es könnte eine Entführung oder ein Raubüberfall sein, aber ansonsten war das Haus ja unangetastet. Vielleicht war es ein Irrer, aber selbst Irre sind normalerweise nicht so dumm. Wer würde eine Hausfrau am helllichten Tag entführen?“ Komm du mal nach South Central, dann weißt du, wer so etwas tun würde. (Auszug E-Book Pos. 522)

Inga Vesper führt uns in ihrem Krimidebüt ins sonnige Kalifornien Ende der 50er Jahre. In einen fiktiven Vorort von Los Angeles namens Sunnylakes wohnen weiße, gutsituierte Mittelstandsfamilien in makellosen, fast identisch aussehenden Einfamilienhäusern mit adretten Gärten samt Pool und perfekt getrimmten Gärten.

Die junge Ruby Wright fährt täglich mit dem Bus von South Central nach Sunnylakes, um sich ein paar Dollar als Haushaltshilfe zu verdienen. Als sie an einem sehr heißen Augusttag bei den Haneys ihren Putzjob antritt, stolpert sie fast in den blutigen Schauplatz eines Verbrechens. Neben einer Blutlache in der Küche findet sie nur die beiden kleinen Kinder weinend und total verstört vor, von der Hausherrin Joyce Haney keine Spur. Die herbeigerufene Polizei nimmt Ruby vorübergehend fest. Denn diese ist als Schwarze zunächst einmal verdächtig. Zwar gilt seit Mitte der 1950er Jahre die politische und soziale Gleichberechtigung der schwarzen Bevölkerung, doch in den Köpfen der Amerikaner ist das noch nicht so richtig angekommen und in der Praxis werden Schwarze weiter systematisch benachteiligt. Gewöhnlicher Rassismus, Polizeigewalt und Misogynie sind an der Tagesordnung. Alles Themen, die bis heute nichts an Aktualität verloren haben.

Schwarze Putzfrau und weißer Cop
Nach einer Nacht im Gefängnis wird die verängstigte Ruby vom ermittelnden Detective Mick Blanke vom Santa Monica Police Department aus der Zelle geholt. Blanke wurde erst vor kurzem aus Brooklyn an die Westküste strafversetzt. Er kämpft mit dem ungewohnten Klima und gilt im Dezernat auch aufgrund seiner ungewöhnlichen Ermittlungsmethoden als Außenseiter. Erste Recherchen führen ihn in die Nachbarschaft, aber bei den Frauen stößt er auf eine Mauer des Schweigens. Nach einem weiteren Mord bittet der Cop Ruby um Unterstützung, denn er erkennt ihr Potential. Als Putzhilfe hat sie auch Zugang zu den anderen Häusern und da sie praktisch unsichtbar für die weiße Mittelschicht ist, erhofft er sich wertvolle Informationen. Nach einigem Zögern sagt sie zu. Dabei lockt sie auch die ausgesetzte Belohnung. Denn Ruby möchte aufs College gehen und spart darauf jeden Cent. Trotz der Warnungen ihrer Familie kann sie unbemerkt einige Geheimnisse im gar nicht so idyllischen Sunnylakes aufdecken und begibt sich dabei in große Gefahr.

Die Menschen in Sunnylakes kreisen nur um sich selbst, sie haben keine Ahnung von dem Leben in dem nur wenige Kilometer entfernten South Central, in dem die schwarze Community in heruntergekommenen Wohnblöcken lebt. Die Atmosphäre wird durch die täglichen Ungerechtigkeiten, Diskriminierungen, Armut und Polizeigewalt aufgeheizt und es formieren sich Widerstände gegen die weiße Oberschicht.

Es gibt drei Erzählperspektiven, neben Mick und Ruby gibt es auch Passagen aus der Vergangenheit Joyce.

„Und deshalb müssen wir weiterkämpfen. Die Sklaverei ist abgeschafft, sagen sie, die Rassentrennung auch. Aber bekommst du einen Krankenwagen für deine Mutter? Gibt es hier gemischte Schulen? Siehst du schwarze Männer mit Krawatten und Karrieren ins Büro gehen? Hä? Siehst du das?“ (Auszug E-Book Pos. 724)

Inga Vesper ist es wirklich gut gelungen, die Zeit Ender der 50er Jahre in den USA einzufangen und ich habe es wirklich sehr gerne gelesen. Dabei stört es wenig, dass die deutsche Autorin sich Stereotypen bedient, denn sie beschreibt sie mit großer Empathie. Die unterdrückte schwarze Frau und ihr persönlicher Kampf um höhere Bildung und Freiheit. Der altmodisch wirkende Cop, der zwischen allen Stühlen sitzt, das Herz aber am rechten Fleck hat. In ihrem Bestreben, die Zeit, in der schwarze Frauen doppelte Diskriminierung erfahren und die Rassenunruhen und Konflikte, die in dieser Zeit zum Alltag gehörten sowie die verlogene Vorstadtidylle, in der die Ehefrauen nur schmückendes Beiwerk ihrer Ehemänner sind, uns nahezubringen, hat sie nicht so viel Sorgfalt beim Krimiplot angewandt. Er scheint ihr in erster Linie nur dazu zu dienen, ein Gesellschafts- und Zeitporträt Kaliforniens in den fünfziger Jahren zu zeigen. Aber das macht sie hervorragend in einer lebendigen, bildreichen Sprache mit einigen fast lyrischen Beschreibungen und erfrischenden Dialogen.

Die Journalistin Inga Vesper arbeitete in Syrien und Tansania, kehrte aber immer wieder nach London zurück, weil es für sie keinen besseren Ort als das Oberdeck eines Omnibusses gibt, um gute Geschichten zu erfinden. Und ich kann mir richtig gut vorstellen, wie sie hier einige Ideen für ihren ersten Roman entwickelt hat. Denn nirgendwo wurde die Rassentrennung und Diskriminierung so deutlich sichtbar wie in den Bussen.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

In Aufruhr | Erschienen am 21. April 2021 bei Kindler im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-463-00022-0
384 Seiten | 22,-€
Originaltitel: The long, long afternoon (Übersetzung aus dem Englischen von Katharina Naumann und Silke Jellinghaus)
Bibliografische Angaben & Leseprobe