Simon Beckett | Die Verlorenen (Band 1)
Als Jonah das Blut roch, war ihm klar, dass er in Schwierigkeiten steckte. (Auszug Anfang)
Jonah Colley ist Mitglied einer bewaffneten Eliteeinheit der Londoner Polizei. In einem Pub trinkt er noch ein Bier mit seinen Kollegen, als er überraschend einen Anruf von seinem ehemals besten Freund und Kollegen Gavin erhält, von dem er zehn Jahre nichts gehört hat. Gavin bittet ihn um ein Treffen in einem leerstehenden Lagerhaus am Kai, sieht Jonah als den Einzigen, dem er noch trauen kann. Als Jonah am vereinbarten Treffpunkt am Slaughter Quai ankommt, findet er nur noch Gavins Leiche sowie drei weitere Tote in Plastikfolien verschnürt vor. Eines der Opfer lebt noch, doch bevor Jonah die Frau befreien kann, wird er niedergeschlagen. Schwer verletzt mit einem zertrümmerten Knie wacht er im Krankenhaus auf, von Gavins Leiche keine Spur und so gerät er selbst ins Visier der ermittelnden Beamten.
Colley kämpft seit zehn Jahren mit seinen inneren Dämonen, denn da verschwand sein vierjähriger Sohn Theo spurlos von einem Spielplatz. Er leidet schwer an seiner Mitschuld, seine Ehe zerbrach daran, auch die Freundschaft mit Gavin endete. Damals wurde kurzzeitig ein Obdachloser namens Owen Stokes verdächtig, aber wieder auf freien Fuß gesetzt. Als jetzt in den aktuellen Ermittlungen wieder der Name Stokes auftaucht und Hinweise auftauchen, die einen Bezug zu dem Verschwinden seines Sohnes haben, stellt er auf eigene Faust Nachforschungen an. Jonah Colley setzt alles daran, das Verschwinden Theos im Alleingang aufzuklären.
Der englische Bestseller-Autor kommt mit dem Auftakt einer neuen Krimi-Serie. Ich war sehr gespannt, fand ich seine gerade in Deutschland sehr erfolgreiche Serie um den forensischen Anthropologen David Hunter doch mittlerweile ein wenig ermüdend und ausgelaugt. Das düstere Schwarz-Weiß-Cover und der Titel lassen auf eine bedrohliche und beklemmende Geschichte schließen. Und gleich mit den ersten Sätzen gelingt es dem Autor im gewohnt flüssigen Schreibstil und zügigem Tempo den Leser in den Bann zu ziehen. Mit allem was bei einem Simon Beckett-Thriller dazugehört und alptraumhafte Bilder im Kopf entstehen lässt: Ein stockfinsteres Schlachter-Kai mitten in der Nacht am Hafen, der Geruch nach Blut, grauenhafte Todesfälle und einem sympathischen aber schwer traumatisierten Helden. Neben dem atmosphärischen Setting ist auch wieder der Schreibstil gewohnt einfach gehalten und flüssig zu lesen. Spannung oder zumindest Neugierde entsteht auch, weil man erst nach und nach über die traurigen Umstände von Theos Verschwinden informiert wird.
Leider erfüllen Becketts Charaktere gängige Stereotypen, besonders die zentrale Figur des Polizisten Jonah Colley entspricht dem Klischee des schwer gebeutelten, alleine kämpfenden Wolfes. Dass die Hauptfigur einen persönlichen Verlust erlitten hat, an dem er aufgrund seiner Schuldgefühle fast zerbricht, habe ich jetzt auch schon zu oft gelesen. Beckett gönnt ihm, ähnlich David Hunter auch keine Verschnaufspausen, lässt den Schwerverletzten auf Krücken in viele physisch gefährliche sowie emotionale Extremsituationen geraten. Was mich jedoch am meisten enttäuscht hat, ist die Tatsache, dass Colley ja laut Klappentext einer bewaffneten Spezialeinheit angehört. Das hatte mich sehr angefixt, kommt aber gar nicht zum Tragen. Er hätte jeden beliebigen Beruf angehören können! Außer im Pub am Anfang des Thrillers tauchen seine Kollegen nie wieder auf. Auch benimmt Colley sich oft sehr unprofessionell, agiert naiv, vernichtet Spuren, bemerkt nicht, dass er verfolgt wird, bringt sich ständig in offensichtlich gefährliche Situationen, in dem er nachts alleine in verlassenen, schangeligen Gegenden herumirrt. Alleine, aber auf Krücken!
Auch die diversen Nebenfiguren – eher Knallchargen – agieren voreingenommen und wenig nachvollziehbar. Die angedeutete Romanze mit der charmanten Journalistin ist unnötig und lächerlich.
Zum Schluss kommt es zu einem actiongeladenen Showdown, in dem alle Fäden zusammen geführt werden. Die Motivation hinter den Taten wirkt dabei ziemlich abstrus und wenig glaubhaft, um nicht hanebüchen zu sagen. Nach einem wirklich fesselnden Beginn glänzt Becket mit vielen überraschenden Wendungen, manches wirkt doch sehr konstruiert. Einiges bleibt auch für weitere Fortsetzungen offen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass sich das Trauma des verschwunden Kindes durch die noch folgenden Bände zieht. Auch alles schon mal dagewesen.
Foto & Rezension von Andy Ruhr.
Die Verlorenen | Erschienen am 08. Juli 2021 bei Wunderlich im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-8052-0052-3
416 Seiten | 24,00 Euro
Originaltitel: The Lost (Übersetzung aus dem Englischen von Karen Witthuhn und Sabine Längsfeld)
Bibliografische Angaben & Leseprobe
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