Monat: Oktober 2021

Ronald Malfi | December Park

Ronald Malfi | December Park

Es war lang und weiß. Es war ein Tuch. Es war ein Tuch, das etwas bedeckte. Mir wurde flau im Magen. Ich hatte genug ferngesehen, um zu erkennen, was ich da vor Augen hatte. (Auszug E-Book, Position 155).

Im Herbst 1993 verschwinden mehrere Kinder in der beschaulichen Kleinstadt Harting Farms in Maryland, eine Küstenstadt an der Chesepeake Bay. Offiziell sind die Kinder nur vermisst, die Polizei hält es für denkbar, dass sie einfach nur von zuhause ausgerissen sind. Hinter vergehaltener Hand raunen die Menschen aber dennoch vom „Piper“, dem Rattenfänger, der die Kinder entführt.

Angelo Mazzone und seine Freunde Peter, Scott und Michael sind typische 15-16jährige Jungs, die heimlich rauchen, nach der Schule mit ihren Rädern die Gegend unsicher machen, gerne Schabernack treiben und versuchen, die Schule halbwegs zu überstehen (nur mit den Mädels haben sie es noch nicht so). Zufällig sind die Jungen mit ihren Rädern eines Oktobernachmittags in der Nähe des Waldrands am December Park und werden Zeuge eines großen Polizeiaufgebots. Die Polizisten bergen einen Körper aus dem Wald und als der Wind das Tuch verweht, stellen die entsetzten Jungen fest, dass es die Leiche eines vor kurzem verschwundenen Mädchens ist. Damit ist klar, die Kinder sind nicht einfach weggelaufen, sondern wurden ermordet. Weitere Leichen tauchen aber vorerst nicht auf.

Dafür erhält Angelo neue Nachbarn, eine seltsame Frau mit ihrem Sohn Adrian, in Angelos Alter. Adrian ist in sich gekehrt und eigenbrötlerisch, dennoch freunden sich Angelo und er an und Adrian wird nach und nach Teil von Angelos Clique. Adrian entwickelt eine große Faszination für die Fälle der verschwundenen Kinder, spätestens als er feststellt, dass das von ihm zufällig in der Nähe des Fundorts gefundene Medaillon dem toten Mädchen gehörte. Er steckt die anderen mit seinem Eifer an und bald geben sich die Jungen das Versprechen, dass sie den Piper aufspüren werden. Derweil verschwinden weitere Kinder und die Polizei tappt immer noch im Dunkeln. Tatsächlich finden die Jungen kleinere Spuren und Indizien, behalten dies aber für sich, selbst Angelos spricht nicht mit seinem Vater, immerhin einer der ermittelnden Detectives. Doch aus dem Detektivspiel wird irgendwann bitterer Ernst.

Ich steckte meinen Daumennagel zwischen die beiden Hälften und ds herzförmige Medaillon öffnete sich. Meine Großmutter besaß ei ähnliches Medaillon mit einem winzigen Foto von mir in der einen Seite und eines von Charles in der anderen – doch dieses hier war leer […]
„Okay“, entgegnete ich und verstand nicht recht, weshalb das alles für ihn so eine große Sache war.
„Es gehört ihr“, sprach er.
„Wem?“
„Dem toten Mädchen“, antwortete Adrian. „Courtney Cole“. (Auszug E-Book, Position 2904)

Autor Ronald Malfi lebt mit seiner Familie selbst an der Chesepeake Bay und ist vor allem auch durch seine Romane im Horror- und Mysterygenre bekannt. Auf Übernatürliches verzichtet er in dieser Geschichte allerdings, zum Schaudern gibt es allerdings durchaus etwas an einigen Passagen. Nach eigenen Angaben sind in diesen Roman auch Kindheitserinnerungen des Autors eingeflossen, vermutlich in der Figur des Ich-Erzählers Angelo Mazzone. Angelo ist ein durchaus cleverer Junge mit den üblichen Flausen im Kopf, er liebt es zu schreiben, will später einmal Schriftsteller werden. Er lebt mit seinem Vater und seinen Großeltern zusammen, seine Mutter ist früh verstorben. Als schwerer Schatten liegt der Tod seines Bruders Charles im Golfkrieg auf der Familie, insbesondere auf dem Verhältnis zwischen Angelo und seinem Vater. Auch auf seinem neuen Freund Adrian lastet eine schwere Vergangenheit: Seine Mutter und er sind überstürzt aus Chicago verzogen, nachdem Adrians Vater sich mit Autoabgasen umbrachte und Adrian mit in den Tod nehmen wollte.

„December Park“ steht natürlich in der Tradition anderer schauriger Coming-of-Age-Geschichten, auf dem obersten Sockel steht hier sicherlich Stephen King. Und tatsächlich erinnert man sich zwangsmäßig an „Es“ oder „Die Leiche“. Malfi macht seine Sache in Bezug auf Angelo, seine Clique, ihre Freundschaft, ihre Ängste und Konflikte auch nicht schlecht – die Tiefe von Kings Figuren erreicht er freilich nicht. Was schade ist, ist der Roman doch lang genug. Aber leider, muss man sagen, auch etwas zu lang, denn die Spannungsmomente lassen zwischendurch doch sehr auf sich warten. Überhaupt gibt es in der Genrewertung für einen Thriller da doch einige Abzüge. Neben der eher langsam erzählten Story (Die Jungs fahren verdammt viel Fahrrad im Buch) gab es für mich auch einige Unplausibilitäten, auch die Aufklärung am Ende fand ich wenig überzeugend. So muss ich letztendlich konstatieren: Solide bis ordentlich als Coming-of-Age, eher unterdurchschnittlich als Thriller.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

December Park | Erschienen am 28.02.2018 im Luzifer Verlag
ISBN 978-3-95835-317-6
616 Seiten | 14,95 €
als E-Book: ISBN 987-3-95835-033-5 | 7,99 €
Originaltitel: December Park (Übersetzung aus dem Englischen von Ilona Stangl)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Jennifer Clement | Gun Love

Jennifer Clement | Gun Love

Ich wuchs in einem Auto auf, und wenn man im Auto lebt, hat man keine Angst vor Blitz und Donner, das Einzige, wovor man Angst hat, ist der Abschleppwagen. (Auszug Seite 10)

Die Heldin dieses Romans ist die 14-jährige Pearl, die aus ihrer Perspektive von ihrem Leben und Aufwachsen in einer Schrottkarre erzählt. Ihre Mutter Margot kommt eigentlich aus wohlhabendem Hause, aber dann wird sie mit 16 Jahren von ihrem Klavierlehrer schwanger. Sie bekommt das Baby heimlich zu Hause und verschwindet direkt nach der Geburt mit ihrem 94er Ford Mercury, den sie kurz vorher zum Geburtstag geschenkt bekommen hat. Sie landet mit dem kleinen Säugling auf dem Besucherparkplatz einer Wohnwagensiedlung im Süden von Florida, will sich nur kurz zurechtfinden und eine Wohnung suchen.

Idylle im Trailerpark
Diese Übergangslösung ist jetzt 14 Jahre her und die beiden leben immer noch am Rande des Trailerparks. In dieser verwahrlosten Umgebung zwischen zwei Highways, einer stinkenden Müllkippe und einem kleinen verseuchten Fluss voller Alligatoren haben sich Mutter und Tochter eingerichtet und kommen irgendwie zurecht. Margot verdient ein bisschen Geld als Putzkraft in einem Veteranenkrankenhaus und Pearl geht dank gefälschter Papiere sogar zur Schule. Das Autowrack wird ihr Zuhause, Margot bewohnt die Rückbank des Wagens, für Pearl werden die beiden Vordersitze zum Kinderzimmer. Während der Trailerpark Wasser und Toiletten bietet, wird das Essen ungekühlt aus dem Kofferraum verzehrt. Aber immerhin werden die Sandwiches gesittet von feinen, französischen Porzellantellern gegessen, ein Überbleibsel aus Margots vornehmer Herkunft. Ihre gute Erziehung versucht sie an Pearl weiterzugeben. Trotz der widrigen Umstände haben die beiden eine innige Beziehung zueinander. Ungeachtet der permanenten Angst vor dem Jugendamt wirkt das Leben der beiden fast idyllisch und märchenhaft harmonisch. Diese illusorische Idealisierung ist sicherlich der Erzählsicht einer 14-Jährigen geschuldet. Es ist ein trostloses Leben, aber Pearl kennt es ja nicht anders.

Meine Mutter und ich hätten ihm jederzeit eine Ecke in unserem Auto eingerichtet. Sie hätte ihm ein paar Plastiktüten für seine Sachen gegeben. Wir hätten die Tür aufgemacht und gefragt, Wann wollen Sie einziehen? (Auszug Seite 147)

Die zauberhafte Atmosphäre im Wagen mit phantasievollen Geschichten, Musik und Gedichten, verstärkt durch einen blumigen Erzählstil steht im starken Kontrast zur Außenwelt. Durch Pearls Augen und ihre genaue Beobachtungsgabe lernen wir die anderen Bewohner des Trailerparks kennen, allesamt gescheiterte Existenzen, die ums Überleben kämpfen, den waffendealenden Pastor Rex, das mexikanische Schmugglerpärchen Corazón und Ray, die pensionierte Highschool-Lehrerin Roberta Young, die nach dem Tod ihres Mannes von der Sozialhilfe lebt. Ihre Freundin April May mit ihren Eltern Rose und Sergeant Bob, einem traumatisierten Kriegsversehrten. Ein bunter Haufen, gemein ist ihnen nur die unbedingte Waffenliebe. Waffen sind allgegenwärtig und sonntägliche Schießübungen auf die Alligatoren gehören zur Tagesordnung. Und manchmal landet ein verirrtes Projektil auch schon mal in der Beifahrertür.

Barbiepuppen und Alligatorzwillinge
Das ändert sich, als eines Tages Eli Redmond auftaucht, ein Freund des dubiosen Pastors Rex und Margot sich Hals über Kopf in den attraktiven Waffenschmuggler verliebt. Pearl steht hilflos daneben, als Eli sich zwischen sie und ihre Mutter drängt und diese immer weniger Zeit für sie hat. Mit Eli ziehen auch Waffenschmuggel, Gewalt und Eskalation auf dem heruntergekommenen Gelände ein. Die Story rast jetzt unaufhaltsam auf den Abgrund zu. Man ahnt, dass es zu einer Katastrophe kommt und Pearls sowieso schon schwieriges Leben von einem Tag auf den anderen radikal verändern wird. Die Figuren stehen ohnmächtig daneben.

Das Thema ihres gesellschaftskritischen Romans ist die amerikanische Waffenliebe und die Gefahr, die von den Waffen ausgeht. Bewegend und sehr beeindruckend portraitiert sie die amerikanische Unterschicht, schildert den Alltag der Abgehängten und Ausgestoßenen ohne zu moralisieren. Die lyrische Sprache bildet dabei einen faszinierenden Kontrast zu den harten Gewaltaktionen in der Realität. Clements Sprache ist sehr poetisch mit vielen fast philosophisch angehauchten Zitaten, während die Dialoge ohne Anführungszeichen geführt werden, was trotzdem sehr lesbar ist. Ihre Sprache strotzt vor lebensklugen und betörenden Sätzen und sie kreiert einige originelle Bilder, zum Beispiel die 63 Barbiepuppen, von einer Trailerbewohnerin zum Schutz in den Boden gepflanzt oder die siamesischen Alligatorzwillinge. Zum Ende hin fand ich es fast ein bisschen überladen. Eine kurze aber fesselnde Coming-of-Age-Geschichte mit einem offenen Ende, das Raum für eigene Gedanken lässt.

Gebete für die Vermissten
Jennifer Clement ist eine US-amerikanische Autorin, die 1960 in Connecticut geboren und in Mexiko aufgewachsen ist, wo sie heute noch lebt und arbeitet. Sie studierte Literaturwissenschaften und Anthropologie an der New Yorker University sowie französische Literatur in Paris. Clement, die neben Romanen auch Lyrik schreibt, war von 2009 bis 2012 Präsidentin des mexikanischen PEN. Ein internationaler Erfolg wurde ihr Roman „Prayers for the Stolen“ (deutsch: Gebete für die Vermissten) über den von Drogenkartellen organisierten Menschenhandel, für den sie im mexikanischen Guerro recherchierte.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Gun Love | Das Taschenbuch erschien am 17. Februar 2020 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-5184-7030-5
251 Seiten | 11,00 Euro
Originaltitel: Gun Love (Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Nicolai von Schweder-Schreiner)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Hannelore Cayre | Reichtum verpflichtet

Hannelore Cayre | Reichtum verpflichtet

Die Sorte Teufelsbraten, die stets in das aktuelle Riesending verwickelt ist. Wenn eine Zweitwohnung durchwühlt wird oder eine Karre brennt… […] Kurz und gut, in der Generation der in den Achtzigern Geborenen bin die epochemachende Unruhestifterin ich: Blanche de Rigby. (Auszug S.34)

Blanche de Rigby ist durch einen Unfall gehandicapt und lebt mit ihrer Tochter in Paris. Sie stammt eigentlich von einer bretonischen Insel. Bei einem der seltenen Besuche dort bei ihrem Vater bekommt sie durch einen Zufall einen Hinweis auf einen ihr nicht bekannten Teil der Familiengeschichte. Offensichtlich gibt es eine Verbindung zur stinkreichen Unternehmerfamilie de Rigby. Blanche beginnt zu recherchieren und findet tatsächlich heraus, dass ihr Urgroßvater Renan, geboren 1871, das Kind eines Auguste de Rigby war.

Die de Rigbys waren schon damals reiche Unternehmer und sind es bis heute geblieben. Eine Dynastie der Kapitalisten, deren Gedanken vorwiegend um sich selbst und dem Ziel der Geldvermehrung kreist. Durch ihre Arbeit in der Gerichtsreprografie kommt sie an sehr interessante Unterlagen, die dokumentieren, wie ein Sprößling der de Rigbys mit üblen Machenschaften auf Kosten von Umwelt und Menschen in Afrika Kohle machen wollte und nun dank staatlicher Protektion aus Frankreich aus ivorischer Haft frei und ungeschoren davon kommen soll. Blanche leakt entsprechende Dokumente und löst damit einen folgenschweren Shitstorm aus. Nach diesem Coup beginnt Blanche weitere Ideen zu entwickeln, wie man das Geld der de Rigbys nachhaltiger und gerechter einsetzen kann. Doch dazu muss man sich in der Erbfolge nach oben arbeiten.

Wie schon in ihrem zuletzt erschienenen Roman „Die Alte“ setzt Hannelore Cayre auf eine Außenseiterin, die aber über gewisse Mittel verfügt, den großen Tieren in die Suppe zu spucken. Blanche hat, durch einen Autounfall in jungen Jahren versehrt, kein einfaches und barrierefreies Leben in Paris. Dennoch bildet sie mit ihrer zehnjährigen Tochter Juliette und ihrer besten, ebenfalls gehandicapten Freundin Hildegard ein schlagkräftiges Team. Blanche weiß sich zu behaupten und interessante Informationen in den Akten, die sie reproduziert (beispielsweise Kontaktdaten von Drogendealern), zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen. Daneben ist sie Unruhestifterin geblieben, sei es für den Tierschutz oder in Sachen sozialer Gerechtigkeit bzw. Antikapitalismus. Und da bieten die de Rigbys eine große Angriffsfläche.

„Weißt du zum Beispiel, was das Schlimmste auf einer Baustelle ist? Nein? Ich werde es dir sagen: ein Arbeiter, der lesen kann. Er schnappt hier und dort kleine Häppchen Wissen auf, das ihm zu Kopf steigt, bis er glaubt, dass ihm alles zusteht.“ (Auszug S.137)

Cayre erzählt in zwei Ebenen, in der Jetztzeit und 1870, als die de Rigbys im Angesicht des deutsch-französischen Krieges einen jungen Bretonen kaufen, damit dieser anstelle des Auguste de Rigby den Wehrdienst leistet. Eine damals gängige menschenverachtende Praxis, mit der sich die Wohlhabenden zumeist immer vor den unangenehmen staatsbürgerlichen Pflichten drücken konnte. Die Familie de Rigby setzt alle Hebel in Bewegung, um Auguste vor dem drohenden Kriegseinsatz zu bewahren und sucht bis hin zu den rauen bretonischen Inseln nach einem Einstandsmann. Das bringt Auguste in arger Gewissenskonflikte, denn er ist doch der Liberale und Aufgeschlossene der Familie, liest Marx und verbringt seine Zeit in sozialistischen Gruppierungen. Doch in den Krieg mag Auguste natürlich auch nicht.

So wechselt die Geschichte zwischen zwei Außenseitern: Auguste, der dem Volk zu wirklicher Gleichheit und Gerechtigkeit verhelfen will und der sich aus Schuldgefühlen zu einer generösen Tat hinreißen lässt, die gut 150 Jahre später Blanche dazu verhilft, als Laus im Pelz der Familie de Rigby einzuheizen. Hannelore Cayre zeigt in diesem Roman auf, dass Ausbeutung und Korruption nicht nur im 19.Jahrhundert, sondern auch im 21. Jahrhundert hervorragend funktionieren und die Machtpositionen sich nicht wesentlich verändert haben. Immer noch liegt die wahre Macht nicht beim Volk, sondern in den Händen weniger und Reichtum verpflichtet nur zu weiterem Reichtum. Und es braucht die Wut einer Anarchin, um diese Verhältnisse mit zugegeben zweifelhaften Mitteln auf den Kopf zu stellen. „Reichtum verpflichtet“ ist eine gelungene Mischung aus Groteske, historischem Roman und Krimi, dabei hintergründig, schwarzhumorig und kapitalismuskritisch. Und definitiv lesenswert.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Reichtum verpflichtet | Erschienen am 30.08.2021 im Argument Verlag
ISBN 978-3-86754-252-4
256 Seiten | 20,- €
Originaltitel: Richesse oblige (Übersetzung aus dem Französischen von Iris Konopik)
Bibliografische Angaben

Weiterlesen: Gunnars Rezension zu „Die Alte“ von Hannelore Cayre

Stephen King | Billy Summers ♬

Stephen King | Billy Summers ♬

In Stephen Kings aktuellem Roman, der ganz ohne übersinnliche- und Horrorelemente auskommt, geht es um Billy Summers, einen intelligenten und empathischen Mittvierziger. In der Vergangenheit war er bei den Marines und profilierte sich als exzellenter Scharfschütze. Aktuell verdient er sein Geld als Auftragskiller. Allerdings ein Auftragskiller mit Moralkodex, denn er liquidiert nur „schlechte“ Menschen.

Der letzte große Coup
Jetzt will er nach einem letzten großen Coup aus dem Geschäft aussteigen. Für diesen Auftrag nimmt er eine Scheinidentität als Schriftsteller an. Erst als Tarnung gedacht, entwickelt der Ex-Marine immer mehr Leidenschaft für die Tätigkeit und schreibt tatsächlich an einer Autobiografie. In dieser Parallelerzählung erfahren wir mehr über seine traumatische Kindheit und die Zeit im Irakkrieg, besonders über die schrecklichen Erlebnisse im Kriegsgebiet Falludscha. Dieses Stilmittel, die Geschichte in der Geschichte, nutzt King, um uns die Figur Summers in aller Ausführlichkeit näher zu bringen, lähmt damit aber auch immer wieder den Erzählfluss. Der Kriegsveteran ist ein komplexer vielschichtiger Charakter, der sich und sein Handeln oft kritisch reflektiert. Obwohl er vor seinen Auftraggebern stets den Simpel mimt, ist er doch sehr belesen und weiß aus Literatur und Film, dass letzte große Coups ja oft in die Hose gehen. Aber die große Geldsumme von 2 Millionen US-Dollar lockt und die Aufgabe, einen angeklagten Doppelmörder und Vergewaltiger per Kopfschuss zu erledigen, bevor dieser vor Gericht einen Deal aushandeln kann, scheint machbar.

King nimmt sich sehr viel Zeit, um zu erzählen, wie Billy den Auftrag akribisch vorbereitet. Wir begleiten ihn über etliche Stunden im Hörbuch und erfahren, wie er sich zur Tarnung in dem kleinen Örtchen einlebt, Freundschaften schließt und ein Bestandteil der Nachbarschaft wird. Dieser Teil hat mich an ein anderes Werk von King erinnert, und zwar an ‚Der Anschlag‘ aber während ich dieses großartig fand, war ich bei ‚Billy Summers‘ wirklich irgendwann latent genervt und wollte nicht noch mal über Grillabende oder Monopolyspielen mit den Nachbarskindern hören. Ich war gut unterhalten, aber es entstand nicht der große Sog, um unbedingt wissen zu wollen, wie es weitergeht.

Der Rache-Road-Trip
Der Auftrag wird dann auch ziemlich schnell sowie unspektakulär erledigt, jedoch wie schon von Summers befürchtet, wollen ihn seine Auftraggeber reinlegen. Er ist schlau genug und hält sich nicht an den vorgegebenen Fluchtplan und es gelingt ihm, unterzutauchen. Auf seiner Flucht trifft er zufällig auf ein junges Mädchen, das bewusstlos auf der Straße liegt. Die junge Alice Maxwell wurde von drei Männern schwer misshandelt und vergewaltigt. Billy stellt seine eigenen Interessen zurück und rettet ihr das Leben. Im letzten Drittel schließen die beiden sich zusammen und gehen auf einen mörderischen Rachepfad. Summers will herausfinden, wer ihn ausschalten will und warum. Die Motivation von Alice blieb für mich weitestgehend unklar.

Die Geschichte nimmt hier nicht nur eine enorme Wendung und wird rasant und actiongeladen mit einem spannenden Showdown. Mir schien dieser Teil völlig losgelöst vom ersten Teil. Wie zwei unterschiedliche Geschichten, die nicht homogen zueinanderpassen.

Der gute Killer
Trotz seiner detaillierten, fast betulichen Ausführlichkeit im ersten Drittel, in der wir tiefe Einblicke in das Leben und die Gedankenwelt eines Killers bekommen, trotz einer fast treuherzigen, naiven Weltanschauung bezüglich der Moral eines Auftragskillers beeindruckt Stephen King mich wieder mit seiner hohen Erzählkunst sowie seinen tiefgehenden Charakterzeichnungen. Er kann einfach unheimlich gut Figuren zum Leben erwecken und ihre Beziehungen zueinander darstellen. Man kann sich gut in Summers einfühlen und hofft und bangt mit ihm und Alice mit. Wobei der Protagonist Summers als Außenseiter mit maximaler Traurigkeit dargestellt wird. Es zog sich eine große Melancholie durch den ganzen Roman und King hat hier mal ein gutes sowie passendes Ende geschrieben.

Wie in anderen King-Werken befasst sich auch ‚Billy Summers‘ mit dem Schreiben an sich und man spürt Kings große Liebe zur Literatur. Nicht verbergen kann der amerikanische Autor allerdings seine Aversion gegen den ehemaligen republikanischen US-Präsidenten, denn einige Spitzen gegen Trump und an der amerikanischen Politik konnte er sich mal wieder nicht verkneifen. Ich fand es aber ganz amüsant, wenn Summers sich bei einer gewaltvollen Aktion eine Melanie-Trump-Maske aufsetzt. Mehr gestört hat mich, dass hier Selbstjustiz unreflektiert gefeiert wird. Natürlich dürfen auch seine Querverweise zu früheren Werken nicht fehlen, ich habe zumindest einen erkannt.
Billy Summers ist ein Spiel mit den unterschiedlichen Identitäten, es geht um die Macht der Literatur, um Freundschaften und immer wieder um Gut und Böse. Und wie schön gestaltet ist eigentlich dieses Cover?

Der Sprecher
Ich kann mir kaum einen besseren Hörbuch-Sprecher als David Nathan vorstellen. Seine Interpretationen der King-Stoffe lassen meine Wertungen immer ein halbes Pünktchen erhöhen. Mit viel Feingefühl setzt er die dramatischen, tragischen aber auch die komischen Akzente an die richtigen Stellen, lässt die Figuren nahezu real werden und den Hörer in die Geschichte eintauchen.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Billy Summers | Erschienen am 09.08.2021 bei Random House Audio
ISBN 978-3- 8371-5718-5
ungekürzte Lesung von David Nathan  | Gesamtspielzeit: ca. 19 Stunden 32 Minuten
3 MP3-CD | 20,45 Euro
Originaltitel: Billy Summers (Übersetzung aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt)
Bibliografische Angaben und Hörprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu Stephen King bei krimirezensionen.de

Max Bronski | Halder

Max Bronski | Halder

Er streichelte das Rindsleder. Vor dieser Zusammenkunft galt es noch, die Pflichten zu bewältigen. Die für das Gespräch wesentlichen Akten hatte er sich von Lieberwitz, seinem Assistenten, zusammenheften und in Schnellhefter binden lassen. Er zog das voluminöse Konvolut hervor.
Der Fall Nordring. (Auszug E-Book Pos.134)

Ein ziemlich lange Autofahrt hat er vor sich: Der Präsident des Bundesverfassungsschutz Kurt Halder. Unterwegs von Köln nach München zu einer Besprechung der sogenannten SOKO Nordring. Und vorweg zu einem privaten Termin. Doch unterwegs widmet sich Halder im Heck des Dienstwagens nochmal ausgiebig der Akte Nordring.

Die Münchener Polizei observiert mit einem Wagen einen weitläufigen Parkplatz im Euro-Industriepark. Dort waren in der jüngsten Vergangenheit zahlreiche Einbrüche in parkende Autos vorgefallen. Am zweiten Observationsabend verlässt einer der beiden Polizisten den Wagen, um im nahegelegenen Fastfood-Restaurant etwas zu essen zu holen. Als er wiederkehrt, steht der Dienstwagen in hellen Flammen, sein Kollege ist tot. Von der Masche des Fahrzeuganzündens her eine typische Tat Linksautonomer. Der tote Polizist starb nicht versehentlich im Fahrzeug, sondern wurde mit einem Schlag auf den Kopf gezielt angegriffen und anschließend durch das Feuer getötet wurde. Es könnten sich möglicherweise noch andere Ermittlungsansätze ergeben, aber für das LKA und den Verfassungsschutz ist der Fall klar: Ein Mord an einem Polizisten durch eine linksterroristische Zelle. Ein Motiv ergibt sich auch, war der tote Polizist doch ein erklärter Gegner der linken Szene und Mitglied einer rechten Gruppierung innerhalb der Polizei. Für Verfassungsschutz-Chef Halder ein gefundenes Fressen mit der linksradikalen Szene in München endlich aufzuräumen, dort hat er noch alte Rechnungen offen. Es ergeben sich auch zwei Verdächtige: Zwei Altlinke, Ex-RAF-Sympathisanten, inzwischen eher Silver Agers, aber für den Verfassungsschutz mit immer noch genügend terroristischem Potenzial. Zumal sie bei der weiteren Überwachung in einem Baumarkt verdächtig viel Spiritus und weiteres entzündliches Material gekauft haben.

Für Halder steht fest: Die beiden sind die Täter und planen einen weiteren Anschlag. Somit werden erhebliche Ressourcen auf sie angesetzt. Während Halders Autofahrt ergibt sich etwas: Die Verdächtigen verlassen mit vollem Kofferraum die Stadt, ziemlich sicher zum nächsten Anschlagsziel. Dort sollen sie auf frischer Tat ertappt und festgenommen werden. Währenddessen tut sich im eigenen Hause aber ein lästiger Nebenschauplatz auf: Halders unzufriedener und gedemütigter Stellvertreter Rohleder schickt sich an, im Fall Nordring eigene Ermittlungen vorzunehmen und hinterfragt als erstes die Hypothesen seines Chefs.

Das Buch ist recht schmal und die Handlung dauert auch kaum länger als die Autofahrt. Es gibt einige Perspektivwechsel nach München und in die Zentrale des Verfassungsschutzes. In Rückblenden sowie in Halders Aktenstudium und seinen weiteren Gedanken erfährt man die weiteren Hintergründe der Geschichte, seinen persönlichen Hintergrund und seine erzkonservative Einstellung. Halder beklagt den Untergang der europäischen Kultur und macht dafür vor allem negativen Einfluss durch Einwanderer verantwortlich. Eine Vermischung von Kulturen sei Fiktion, Kulturen einander wesensfremd. Halder ist erklärter Anhänger des Philosophen Oswald Spengler und dessen Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes“. Zwar hält Halder auch Rechtsradikale für Feinde des Staates, allerdings ließen sich diese unter einer politischen Führung zähmen und in geordnete Bahnen lenken. Für ihn steht der wahre Feind, den es zu bekämpfen gilt, immer links.

Der Linksradikale war hingegen per se ein unbelehrbarer Feind, weil sich seine Bestrebungen nie in den Dienst einer übergeordneten politischen Strategie stellen ließen, die eine konservative Revolution herbeizuführen trachtete. (Auszug E-Book Pos.1274)

Komme ich zuerst mal zu dem Punkt, der mir nicht so gefallen hat. Halders Rückblicke auf sein Privatleben kamen mir etwas uninspiriert und klischeebehaftet vor. Vater SS-Mann, im Krieg schwer verwundet, nachher in der Justiz erfolgreich, ein Mann eiserner Disziplin. Schwache Mutterfigur, die aber früh stirbt. Er selbst weitgehend beziehungsunfähig, mit seinem Beruf verheiratet, Liebhaber klassischer Musik. Nun tut sich ein Fenster in die Vergangenheit auf: Eine alte Schulfreundin Lena hat sich bei ihm gemeldet, sie will er am Abend vor dem dienstlichen Termin am nächsten Tag treffen. Wie Halder diese Begegnung romantisiert und glaubt, sie vor zig Jahren bei einem Abiturienten-Nachtreffen geschwängert zu haben, zeugt von erheblicher Unsicherheit. Im Beruf und in der Politik erweist er sich hingegen als gewiefter Stratege. Die Charaktisierung des Mannes ist natürlich nicht gänzlich unschlüssig, aber wirkt wie ein typisches Abziehbild und in seinem Schwarz-Weiß-Schema unoriginell.

Autor Max Bronski verfolgt in „Halder“ einen klaren Ansatz. Er stellt die Figur des Präsidenten des Verfassungsschutz in den Mittelpunkt. Einen Mann mit mindestens rechtskonservativen, wenn nicht gar nicht radikaleren Ansichten. Ein Mann, der eigentlich die Verfassung verteidigen soll, der diese allerdings als „Märchenerzählung freiheitlich gesinnter Gutmenschen“ verspottet. Halder steht dabei nicht allein, er weiß um Unterstützer für eine konservative Revolution, zu offen darf man dies jedoch nicht postulieren. Er ist nicht die Spinne im Netz, keine Führungsperson der Bewegung, aber ein Wegbereiter an prominenter Stelle. Aber vor allem im Verfassungsschutz und Polizeiapparat gibt es genügend Gleichgesinnte, die hier auch vorkommen. Rechte Chatgruppen, LKA-Beamte mit Kontakten zu Rechtsrockbands oder NSU-Terror-Relativierer. Interessant auch die Ränkespiele innerhalb und zwischen den Behörden. Das alles wird gekonnt und präzise vom Autor erzählt, natürlich fiktiv, aber mit realistischer Note. Und irgendwie erinnert mich dieser Halder an wen, vielleicht komme ich noch drauf.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Halder | Erschienen am 01.09.2021 bei Edition Nautilus
ISBN 978-3-96054-264-3
160 Seiten | 16,- €
als E-Book: ISBN 978-3-96054-265-0 | 12,99 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe