Tag: 29. Oktober 2021

Jennifer Clement | Gun Love

Jennifer Clement | Gun Love

Ich wuchs in einem Auto auf, und wenn man im Auto lebt, hat man keine Angst vor Blitz und Donner, das Einzige, wovor man Angst hat, ist der Abschleppwagen. (Auszug Seite 10)

Die Heldin dieses Romans ist die 14-jährige Pearl, die aus ihrer Perspektive von ihrem Leben und Aufwachsen in einer Schrottkarre erzählt. Ihre Mutter Margot kommt eigentlich aus wohlhabendem Hause, aber dann wird sie mit 16 Jahren von ihrem Klavierlehrer schwanger. Sie bekommt das Baby heimlich zu Hause und verschwindet direkt nach der Geburt mit ihrem 94er Ford Mercury, den sie kurz vorher zum Geburtstag geschenkt bekommen hat. Sie landet mit dem kleinen Säugling auf dem Besucherparkplatz einer Wohnwagensiedlung im Süden von Florida, will sich nur kurz zurechtfinden und eine Wohnung suchen.

Idylle im Trailerpark
Diese Übergangslösung ist jetzt 14 Jahre her und die beiden leben immer noch am Rande des Trailerparks. In dieser verwahrlosten Umgebung zwischen zwei Highways, einer stinkenden Müllkippe und einem kleinen verseuchten Fluss voller Alligatoren haben sich Mutter und Tochter eingerichtet und kommen irgendwie zurecht. Margot verdient ein bisschen Geld als Putzkraft in einem Veteranenkrankenhaus und Pearl geht dank gefälschter Papiere sogar zur Schule. Das Autowrack wird ihr Zuhause, Margot bewohnt die Rückbank des Wagens, für Pearl werden die beiden Vordersitze zum Kinderzimmer. Während der Trailerpark Wasser und Toiletten bietet, wird das Essen ungekühlt aus dem Kofferraum verzehrt. Aber immerhin werden die Sandwiches gesittet von feinen, französischen Porzellantellern gegessen, ein Überbleibsel aus Margots vornehmer Herkunft. Ihre gute Erziehung versucht sie an Pearl weiterzugeben. Trotz der widrigen Umstände haben die beiden eine innige Beziehung zueinander. Ungeachtet der permanenten Angst vor dem Jugendamt wirkt das Leben der beiden fast idyllisch und märchenhaft harmonisch. Diese illusorische Idealisierung ist sicherlich der Erzählsicht einer 14-Jährigen geschuldet. Es ist ein trostloses Leben, aber Pearl kennt es ja nicht anders.

Meine Mutter und ich hätten ihm jederzeit eine Ecke in unserem Auto eingerichtet. Sie hätte ihm ein paar Plastiktüten für seine Sachen gegeben. Wir hätten die Tür aufgemacht und gefragt, Wann wollen Sie einziehen? (Auszug Seite 147)

Die zauberhafte Atmosphäre im Wagen mit phantasievollen Geschichten, Musik und Gedichten, verstärkt durch einen blumigen Erzählstil steht im starken Kontrast zur Außenwelt. Durch Pearls Augen und ihre genaue Beobachtungsgabe lernen wir die anderen Bewohner des Trailerparks kennen, allesamt gescheiterte Existenzen, die ums Überleben kämpfen, den waffendealenden Pastor Rex, das mexikanische Schmugglerpärchen Corazón und Ray, die pensionierte Highschool-Lehrerin Roberta Young, die nach dem Tod ihres Mannes von der Sozialhilfe lebt. Ihre Freundin April May mit ihren Eltern Rose und Sergeant Bob, einem traumatisierten Kriegsversehrten. Ein bunter Haufen, gemein ist ihnen nur die unbedingte Waffenliebe. Waffen sind allgegenwärtig und sonntägliche Schießübungen auf die Alligatoren gehören zur Tagesordnung. Und manchmal landet ein verirrtes Projektil auch schon mal in der Beifahrertür.

Barbiepuppen und Alligatorzwillinge
Das ändert sich, als eines Tages Eli Redmond auftaucht, ein Freund des dubiosen Pastors Rex und Margot sich Hals über Kopf in den attraktiven Waffenschmuggler verliebt. Pearl steht hilflos daneben, als Eli sich zwischen sie und ihre Mutter drängt und diese immer weniger Zeit für sie hat. Mit Eli ziehen auch Waffenschmuggel, Gewalt und Eskalation auf dem heruntergekommenen Gelände ein. Die Story rast jetzt unaufhaltsam auf den Abgrund zu. Man ahnt, dass es zu einer Katastrophe kommt und Pearls sowieso schon schwieriges Leben von einem Tag auf den anderen radikal verändern wird. Die Figuren stehen ohnmächtig daneben.

Das Thema ihres gesellschaftskritischen Romans ist die amerikanische Waffenliebe und die Gefahr, die von den Waffen ausgeht. Bewegend und sehr beeindruckend portraitiert sie die amerikanische Unterschicht, schildert den Alltag der Abgehängten und Ausgestoßenen ohne zu moralisieren. Die lyrische Sprache bildet dabei einen faszinierenden Kontrast zu den harten Gewaltaktionen in der Realität. Clements Sprache ist sehr poetisch mit vielen fast philosophisch angehauchten Zitaten, während die Dialoge ohne Anführungszeichen geführt werden, was trotzdem sehr lesbar ist. Ihre Sprache strotzt vor lebensklugen und betörenden Sätzen und sie kreiert einige originelle Bilder, zum Beispiel die 63 Barbiepuppen, von einer Trailerbewohnerin zum Schutz in den Boden gepflanzt oder die siamesischen Alligatorzwillinge. Zum Ende hin fand ich es fast ein bisschen überladen. Eine kurze aber fesselnde Coming-of-Age-Geschichte mit einem offenen Ende, das Raum für eigene Gedanken lässt.

Gebete für die Vermissten
Jennifer Clement ist eine US-amerikanische Autorin, die 1960 in Connecticut geboren und in Mexiko aufgewachsen ist, wo sie heute noch lebt und arbeitet. Sie studierte Literaturwissenschaften und Anthropologie an der New Yorker University sowie französische Literatur in Paris. Clement, die neben Romanen auch Lyrik schreibt, war von 2009 bis 2012 Präsidentin des mexikanischen PEN. Ein internationaler Erfolg wurde ihr Roman „Prayers for the Stolen“ (deutsch: Gebete für die Vermissten) über den von Drogenkartellen organisierten Menschenhandel, für den sie im mexikanischen Guerro recherchierte.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Gun Love | Das Taschenbuch erschien am 17. Februar 2020 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-5184-7030-5
251 Seiten | 11,00 Euro
Originaltitel: Gun Love (Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Nicolai von Schweder-Schreiner)
Bibliografische Angaben & Leseprobe