Monat: November 2019

Simone Buchholz | Hotel Cartagena Bd. 9

Simone Buchholz | Hotel Cartagena Bd. 9

Diese Bar hier macht so sehr einen auf Ausblick, dass ich eigentlich keinem Drink, den ich nicht selbst gemixt habe, über den Weg trauen sollte. Zu viel aufdringliche Schönheit, zu viele Sieh-mich-an-Sachen, zu viel Ablenkung. (Auszug Seite 15)

Die Ausgangssituation des 9. Bandes der Chas-Riley-Reihe könnte aufregender und verheißungsvoller nicht sein. Der ehemalige Hauptkommissar Faller feiert seinen 65. Geburtstag ganz groß in einem Nobelhotel am Hamburger Hafen. Und sie sind alle gekommen, die ganze Bagage rund um Staatsanwältin Chastity Riley und sitzen nun beim Cocktail, hoch oben im 20. Stock in der Hotelbar. Auch wenn Chas findet, dass sie hier eigentlich nicht richtig reinpassen. Nur Ivo Stepanovic vom LKA und Chas aktueller Lover verspätet sich etwas.

Es ist mir ein Rätsel, warum der Faller seinen Geburtstag ausgerechnet hier feiern muss, wir passen doch schlechter an so einen Ort als ein Rudel Straßenköter in einer Plastiktüte, warum stehen wir nicht im Silbersack am klebrigen Tresen und trinken Flaschenbier, warum sitzen wir nicht in einer dunklen Pizzeria und sind laut … (Seite 15)

Wir haben hier eine Situation

Dann stürmen ein Dutzend schwerbewaffnete Geiselnehmer die Bar und bringen alle Gäste sowie das Personal in ihre Gewalt. Forderungen werden keine gestellt, so dass das Motiv der Geiselnahme lange Zeit rätselhaft bleibt. Aus der Perspektive von Riley beobachtet der Leser die Geschehnisse, die sich immer mehr zuspitzen. Während unsere Heldin in diesem Ausnahmezustand am Anfang noch versucht, einen Kontakt zu dem charismatischen Anführer aufzubauen, kommt es wegen einer sich entzündenden Schnittverletzung zu einer Blutvergiftung und ihre Wahrnehmungen werden zunehmend getrübter.

In einem zweiten Erzählstrang geht es rückblickend um das Schicksal von Henning Garbarek, der auf St. Pauli in ärmlichen Verhältnissen ohne große Zukunftsperspektiven aufwächst. Henning ist ein kluger Junge und sieht für sich keine Hoffnung auf dem Kiez. Die Sehnsucht nach einem anderen Leben ist so groß, dass er eines Tages Mitte der 80er Jahre ziemlich spontan auf einem Schiff Richtung Südamerika anheuert und wenig später in Cartagena, Kolumbien an Land geht. Und zuerst läuft es auch gut für ihn, er findet Arbeit, Freunde und gründet eine Familie. Aber dann gerät er an die falschen Leute und wird zum Mittelsmann eines kolumbianischen Drogenbosses. Nachdem er jahrelang jede Menge nicht ganz saubere Kohle verdient hat, kommt es unwiderruflich zur Katastrophe.

Wo die jungen Leute sich hier treffen? Am Strand. Wo er Arbeit finden könnte? Am Strand. Wo er günstig essen könnte? Am Strand. Worauf er achten müsste, wegen Gefahren und so? Auf das Treiben am Strand. (Seite 36)

Während erst nach und nach klar wird, wie die dramatische Schicksalsgeschichte von Henning mit der Geiselnahme zusammenhängt, überlegt sich Ivo Stepanovic einen waghalsigen Befreiungsversuch. Er gesellt sich vor dem Hotel zu den versammelten Einsatzkräften und wird kurzerhand zu den Verhandlern gesteckt.

In Hotel Cartagena spielen die bekannten Charaktere fast nur eine Nebenrolle, denn die Geschichte, die Simone Buchholz hier auf etwas mehr als 200 Seiten aufblättert, ist eher eine 80er Jahre Koksgeschichte. Und mein einziger kleiner Kritikpunkt ist dann auch folgender: Dass sich unter den Geiseln zufälligerweise ein eingespieltes Team von Kriminalbeamten befindet, oder LKA-Mann Ivo Stepanovic von außen operieren kann, spielt für den Krimi-Plot überhaupt keine Rolle. Dieser ist raffiniert und klug inszeniert, die bedrohliche Situation wird immer verfahrener und langsam läuft es in beiden Erzählsträngen auf eine Eskalation raus. Aber Chastity kann ihren inneren John McClane gar nicht aktivieren, wie im Klappentext vollmundig versprochen wird, da sie das Geschehen durch die Blutvergiftung in einem Fiebertraum fast handlungsunfähig miterlebt.

Nur ein kleiner Kritikpunkt denn ich rauschte nur so durch die kurzen Kapiteln bis zum großen Showdown. Buchholz besticht wieder mit messerscharfen, schnoddrigen Dialogen, die auf den Punkt geschrieben sind. Fasziniert hat mich die Mischung aus Ironie, stakkatohaftem Schreibstil und dann wieder Melancholie und poetische, fantasievolle Sprachbilder, die sie kreiert.

Vermutlich ist er der einzige im Raum, der mit jeder Faser seines Herzens weiß, wie unübersichtlich nicht nur ich bin, sondern wir alle sind, ja sogar alle Menschen auf der ganzen verdammten Welt. Der Faller weiß um den großen Knoten, den wir bilden und den ich manchmal nur erahnen kann, wenn ich an jemandem vorbeistolpere und dabei eine Hand zu fassen kriege und die kleinen Risse, die Beschädigungen in der Oberfläche spüre und denke: wow, du auch? (Seite 17)

Die Autorin pfeift auf alle Krimiregeln und zieht ihren eigenwilligen, lässigen Erzählstil kompromisslos durch. Es geht hier nicht um das klassische Falllösen. Es finden keine Ermittlungen statt und die Aktionen der Polizei sind auch eher Nebenschauplätze. Simone Buchholz interessiert sich sehr viel mehr für ihre Charaktere mit ihren Ecken und Kanten und hat einen ganzen Haufen ambivalenter Figuren – ja Freaks – am Start, wobei der Fokus auf der sperrigen Staatsanwältin liegt. Viele ihrer Ideen habe ich gefeiert, wie um mal beispielhaft das Kapitel Columbohaftigkeit zu nennen, in dem Stepanovic auf einen der Verhandler trifft und die beiden sich erst mal wie Westernhelden abtaxieren. Fast schon zu cool!

Ich finde Simone Buchholz läuft hier zur Hochform auf, und ich habe diesen Kriminalroman abseits des Mainstreams sehr genossen.  Das Coverbild ist wieder von ihrem Freund Achim Multhaupt dem Retro-Look der 80er Jahre nachempfunden und reiht sich stilistisch perfekt in die Reihe der letzten vier im Suhrkamp-Verlag erschienen Bände ein.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Hotel Cartagena | Erschienen am 29. September 2019 bei Suhrkamp
ISBN 978-3-518-47003-9
228 Seiten | 15.95 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Auch bei uns: Rezensionen zu den Romanen Blaue Nacht und Mexikoring (Bd. 8) von Simone Buchholz.

Rezensions-Doppel: Garry Disher | Hitze & Kaltes Licht

Rezensions-Doppel: Garry Disher | Hitze & Kaltes Licht

Die monatliche Krimibestenliste ist natürlich eine Zusammenstellung ausgewählter Kritiker, unabhängig von tatsächlichen Verkaufszahlen und dementsprechend auch nicht dem Krimimainstream verpflichtet. Für den gut informierten und belesenen Krimifan ist sie natürlich eine gewisse Referenz. Auf eben dieser Krimibestenliste steht nunmehr im vierten Monat in Folge ein Autor, was bei der relativ schnelllebigen Liste äußerst bemerkenswert ist. Garry Disher hat dieses Kunststück mit zwei Büchern geschafft, zunächst mit Kaltes Licht, welches dann von Hitze abgelöst wurde.

Zum Autor selbst: Jahrgang 1949, geboren und aufgewachsen im ländlichen Südaustralien. Er lebt heute auf der Mornington-Halbinsel südlich von Melbourne, dem Schauplatz seiner Kriminalreihe um Inspektor Hal Challis. Mit dieser Reihe und der Serie um den Berufskriminellen Wyatt wurde Disher auch hierzulande bekannt. Er schreibt allerdings nicht nur Krimis, sondern auch Romane, Sachbücher und Kinder- und Jugendbücher. Neben seinen Krimireihen veröffentlicht er auch Stand Alones.

Außerhalb der Heimat ist Disher vor allem in den deutschsprachigen Ländern erfolgreich, womit Disher durchaus kokettiert (In einem Interview meinte er, die Anfangsszene aus Kaltes Licht mit der Schlange habe er für seine deutschen Leser eingebaut, die sich doch bestimmt vor Schlangen fürchten)1. Ich hatte 2016 die Gelegenheit, Disher bei einer Lesung zu erleben. Ein zurückhaltender, bodenständiger, sehr sympathischer Mann. Er selbst meinte unlängst, dass ihn die Buchlesungen hier sehr gefallen (und erzählt von einigen sehr deprimierenden Buchsignierungen in der Heimat). Höfliches Publikum, ein Moderator stellt Fragen, er selbst liest in Englisch, ein bekannter Schauspieler die deutsche Übersetzung und er stellt sich etwas amüsiert die Frage, ob er überhaupt die Hauptperson sei, wegen der alle gekommen sind. In 2020 wird Garry Disher wieder in Deutschland erwartet. Zeit genug, vorher diesen hervorragenden Schriftsteller wieder- oder neu zu entdecken. Zeit für eine Doppelrezension.

Garry Disher | Hitze

Wyatt bräuchte mal wieder etwas Geld. Doch die Not ist nicht so groß, als dass er sich mit einem Haufen unprofessioneller Hitzköpfe zu einem Überfall auf einen Geldtransporter hinreißen ließe. Der Coup findet ohne ihn statt und hat in der Folge unangenehme Nachwirkungen – auch auf ihn. Stattdessen wendet sich Wyatt einem interessanteren Job an der sonnigen Gold Coast im Nordosten Australiens zu.

Ein Vermittler bringt ihn mit der Klientin Hannah Sten zusammen, die ihn engagiert, ein Gemälde aus dem Haus eines Investmentbankers zu stehlen. Angeblich Raubkunst aus der Zeit der Nationalsozialisten, damals im Besitz ihrer Familie. Die Eigentumslage ist aber nicht so eindeutig, so dass der aktuelle Eigentümer die Sache einfach aussitzt. Einiges ist bereits ausgekundschaftet, unter anderem, dass das Haus zum Zeitpunkt des Diebstahls definitiv leer wäre. Wyatt nimmt den Job an und sein Vermittler Minto empfiehlt ihm die Zusammenarbeit mit seiner Nichte Leah Quarrell. Diese ist Immobilienmaklerin und kann das Haus mit dem Gemälde einfacher auskundschaften. Wyatt lässt sich eher widerwillig darauf ein, nicht wissend, dass Leah eigene Pläne schmiedet.

Wyatt neigte nicht zur Selbstreflexion. In ihm regierte nur ein schlichter Antrieb: ein Objekt von Wert auszumachen und es stehlen. (Seite 106)

Dieser Wyatt erinnert natürlich sofort an einen weiteren großen Gangster der Kriminalliteratur: Parker aus der Feder Richard Starks alias Donald E. Westlake. Und das ist auch so gewollt, denn Garry Disher verleugnet gar nicht das große Vorbild. Und tatsächlich ist Wyatt so etwas wie ein australischer Verwandter von Parker. Ein vornamenloser Gangster, der sein eigenes Ding durchzieht und sich, wenn es darauf ankommt, nur auf sich selbst verlässt. Genau wie sein Vorbild strahlt er eine große Abgeklärtheit und Professionalität aus. Gewalt wird nur im Notfall angewendet und ist eigentlich zu vermeiden. Die größte Gefahr für Wyatt geht dann auch in diesem Fall weniger von der Polizei als von der eigenen Zunft aus, für die Loyalität ein Fremdwort geworden ist und die mehr auf Aggression als auf Finesse baut. Und dennoch ist Wyatt nicht einfach ein Abziehbild von Parker. Bei aller Coolness wirkt er eine Spur empathischer und besonders in diesem Roman auch melancholischer.

Collingwood war sein Geburtsort, wo er gekämpft hatte, gelernt hatte, abzuwarten und nachzudenken, bevor er tätig wurde. Wo man ihm nichts gegeben und er es sich deshalb genommen hatte. Aber das war nur eine frühe Phase seines Daseins gewesen, kein Kapitel in einer Geschichte. Er hatte keine Geschichte, es sei denn, man könnte eine hervorzaubern auf Grundlage der Tatsache, dass er jetzt existierte und zuvor nicht existiert hatte. Und eines Tages nicht mehr existieren würde. (Seite 161)

Hitze ist inzwischen der achte Wyatt-Roman (der neunte ist im Original bereits erschienen) und die Reihe hat nun fast dreißig Jahre auf dem Buckel. Dabei hat sich Disher aber einen lakonischen und schnörkellosen Stil erhalten. Die Handlung ist präzise, verzichtet fast völlig auf Nebenstränge und bietet einen intensiven Blick auf Schauplatz und Figuren. Wer auf geradlinige Gangsterromane steht, der kommt an diesem Wyatt definitiv nicht vorbei.

 

Hitze | Erschienen am 30. August 2019 bei Pulp Master
ISBN: 978-3-92773-495-1
278 Seiten | 14.90 Euro
Originaltitel: The Heat
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Genre: Gangsterroman
Wertung: 4.0 von 5.0

 

Garry Disher | Kaltes Licht

Das Buch beginnt mit der oben erwähnten Anfangsszene. Eine Schlange schlängelt sich über die Veranda und den Rasen vor einem Haus in einem Ort in der Nähe von Melbourne. Sie verschwindet unter einer Betonplatte auf dem Grundstück. Der besorgte Familienvater ruft einen Schlangenfänger, der die Platte aufstemmen lässt. Doch unter der Platte kommt nicht nur das Kriechtier zum Vorschein, sondern auch eine skelettierte Leiche eines jungen Mannes. Ein Fall für die Cold-Cases-Einheit.

Sergeant Alan Auhl und seine Kollegin Claire Pascal suchen nach einer vermissten Person, die vorher dort gelebt hat, stoßen bei ihren Nachforschungen aber immer wieder auf Erinnerungslücken, Halbwahrheiten und Lügen. Schließlich ermitteln sie, dass der Ermordete selbst vor knapp zehn Jahren in Verdacht stand, seine Freundin erschossen zu haben und danach spurlos verschwunden war. Nun muss sich damals alles ganz anders abgespielt haben.

Währenddessen beschäftigen Alan Auhl zwei weitere Dinge. Ein weiterer alter Fall ploppt auf: Damals konnte Auhl dem Arzt Alec Neill nichts nachweisen, als zwei seiner Ehefrauen unter mysteriösen Umständen verstarben. Nun beschuldigt Neill plötzlich seine dritte Ehefrau, seine Geliebte getötet zu haben, was bei Auhl tiefes Misstrauen hervorruft und er sich in einen Fall einklinkt, mit dem er eigentlich nichts zu tun hat. Außerdem ist eine von Auhls Mieterinnen in argen Nöten. Neve Fanning lebt mit ihrer Tochter von ihrem gewalttätigen Mann getrennt, angezeigt hat sie ihn allerdings nie. Als sie nun die Besuchszeit ihres Mannes mit der Tochter Pia weiter einschränken will, dreht ihr Mann einfach den Spieß um und zieht vor Gericht alle Register, um Neve zu diskreditieren. Auhl fühlt sich verpflichtet, Neve Fanning zu helfen.

Es wurde immer später, und Auhl brütete vor sich hin. Männer wie Kelso, Fanning -Alec Neill. Ihre Anmaßung, ihre Vetternwirtschaft, ihre Macht, ihr Gefühl, ein Anrecht auf etwas zu haben. Erstschlagsmänner: Sie packten die Gelegenheit beim Schopfe, während der Rest der Welt alles erst durchdachte. (Seite 117)

Vor drei Jahren erschien mit Bitter Wash Road ein erster Stand-Alone-Krimi aus der Feder Garry Dishers. Obwohl hochgelobt, hat Disher relativ schnell betont, dass er daraus keine Serie entwickeln wolle. Wie es nun mit diesem vorliegenden Roman und seinem Protagonisten Alan Auhl aussieht, bleibt abzuwarten. Anknüpfungspunkte zu einer Weiterentwicklung sind auf jeden Fall vorhanden. Seine Hauptfigur ist ein Mann Mitte Fünfzig, von seiner Ehefrau getrennt lebend, wobei man sich aber durchaus noch sieht und auch gelegentlich etwas Intimeres unternimmt. Alan Auhl war lange Jahre Ermittler bei der Mordkommission und hatte sich eigentlich in den Ruhestand verabschiedet. Nun sucht er wieder die Herausforderung und wurde wieder eingestellt, um Cold Cases zu bearbeiten. Die Kollegen reagieren distanziert bis abweisend, behandeln Auhl wie einen Versehrten. Erst nach und nach kann Auhl durch gewissenhafte Arbeit die Ressentiments abschwächen. Vor allem für die Kollegin Claire Pascal wird er zu einem wichtigen Ansprechpartner, sie mietet in einer Ehekrise sogar ein Zimmer in dessen Haus. Auhl besitzt ein großes Haus, in dem er mit seiner erwachsenen Tochter wohnt und die zahlreichen weiteren Zimmer weitervermietet. Dort gibt es so etwas wie ein offenes Haus, man trifft sich ab und zu zum gemeinsamen Essen in der großen Küche. So kommt Auhl in Kontakt mit den Mietern, z.B. mit Neve Fanning. Er ist ein eher zurückhaltender Typ, höflich, freundlich, hilfsbereit. Auf der Arbeit gewissenhaft und ein intelligenter Ermittler, mit einem starken Sinn für Gerechtigkeit. Und dieser Gerechtigkeitssinn ist es auch, was diesen ansonsten anfangs etwas bieder wirkenden Mann im weiteren Verlauf so interessant macht. Auhl kennt genau die Grenzen zwischen Recht und Gerechtigkeit, aber inzwischen ist er an einem Punkt angelangt, an dem er die Grenzen überschreitet, um Gerechtigkeit walten zu lassen. Und im Verlaufe des Buches ist der Leser überrascht, wie weit Auhl diese Grenze übertreten wird.

Kaltes Licht ist ein klassischer Ermittlerkrimi, ein Police Procedural (Polizeiroman) und zwar einer, der die Polizeiarbeit genau betrachtet. Somit wird der Fall mit der Leiche unter der Betonplatte zwischendurch übergelagert von anderen Fällen, von Privatem – und dennoch kehrt der Fall am Ende selbstverständlich zurück und wird zu einem logischen Ende gebracht. Was mich an Garry Disher immer wieder begeistert, ist diese natürliche Leichtigkeit und Authentizität seiner Romane. Sein Stil ist präzise und elegant (auch im Deutschen dank der gewohnt guten Übersetzung durch Peter Torberg), seine Figuren und Milieus tief und glaubwürdig, seine Plots komplex, aber immer durchdacht. Nicht wenige Kritiker halten Disher für einen der besten Kriminalschriftsteller der Welt. Und dieses Champions-League-Niveau kann er auch mit Kaltes Licht bestätigen. Ein rundum überzeugender Roman, ein Jahreshighlight. Und ein bisschen gespannt darf man sein, ob man von diesem Alan Auhl nochmal etwas hört bzw. liest.

 

Kaltes Licht | Erschienen am 15. Juli 2019 im Unionsverlag
ISBN: 978-3-29300-550-1
320 Seiten | 22.- Euro
Originaltitel: Under the Cold Bright Lights
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Genre: Krimi
Wertung: 4.5 von 5.0

 

Rezensionen und Foto von Gunnar Wolters.

Auch bei uns: Rezension zu Bitter Wash Road sowie ein Bericht von der Lesung in Hamm, Rezension zu Drachenmann, außerdem Hommage: Gier von Garry Disher

Weiterlesen: Interview von Alf Mayer mit Garry Disher im Crimemag, zwei Artikel von Garry Disher im Guardian

Camilla Läckberg | Golden Cage

Camilla Läckberg | Golden Cage

„Alice mit den großen Rehaugen und der perfekten Haut. War sie glücklich in ihrem Leben? Brannte sie für irgendetwas? Faye konnte die Heuchelei nicht mehr ertragen. Sie saßen beide in einem goldenen Käfig. Wie zwei Pfauen. Auch wenn Faye sich mittlerweile wie eine der schäbigen Tauben auf dem Hötorg vorkam. Dieser fliegenden Ratten, wie Chris sie abschätzig nannte.“ (Auszug Seite 139)

Faye hat das scheinbar perfekte Leben: Sie ist mit dem Millionär Jack Adelheim verheiratet, beide haben eine kleine Tochter namens Julienne und wohnen in einem luxuriösen Apartment in Stockholm. Faye verbringt ihre Tage mit Shopping und Treffen zum Lunch und braucht sich um nichts sorgen. Aber Faye ist todunglücklich, denn der Schein einer Bilderbuch-Ehe trügt: Jack straft sie mit Gleichgültigkeit und Missachtung. Und dann zerbricht Fayes gesamtes Leben.

Das steht drauf

Der Text auf dem Buchrücken von Golden Cage von Camilla Läckberg suggeriert meiner Meinung nach, dass es sich hier um einen Kriminalroman handelt, denn Jack und Julienne waren auf einem gemeinsamen Bootstrip und plötzlich ist Julienne verschwunden und in der Wohnung in Stockholm findet die Polizei eine Blutlache. Alles deutet also daraufhin, dass Jack seine eigene Tochter getötet hat. Und auf genau diese Handlung habe ich mich gefreut und mit einer Art Thriller gerechnet, wurde allerdings bitter enttäuscht.

Das ist drin

Die Geschichte ist in drei Teile gegliedert. Zu Beginn jedes Teils gibt es ein Kapitel, in dem Faye von einer Polizistin zu dem Verschwinden von Julienne befragt wird. In dem ersten Teil wird berichtet, wie Faye 2001 nach Stockholm zieht, um zu studieren und dann Jack kennenlernt und außerdem gibt es einen Einblick in das aktuelle Leben von Faye, wo die Beziehung mit Jack schon nicht mehr das ist, was sie am Anfang mal war. Dann gibt es im Leben der Protagonistin einen Bruch, der aber nicht, wie man vermuten könnte, das Verschwinden von Julienne ist, und Faye will sich an Jack rächen. Der gesamte zweite Teil gilt also der Ausführung des Racheplanes. Der erste Teil hat sich für mich noch interessant gelesen, doch hier gab es deutliche Längen und mir lief das alles zu glatt ab. Im dritten Teil bekommt der Racheakt dann seinen Höhepunkt und auf den letzten zwanzig (!) Seiten geht es endlich um das eigentliche Thema, nämlich dass Jack seine eigene Tochter getötet haben soll.

Spannung? Fehlanzeige

Im letzten Teil habe immer wieder gedacht, dass doch jetzt hoffentlich etwas Thril“ oder Spannung kommen möge, aber nein, das Gegenteil trat ein: Nach dem Einleitungskapitel konnte ich das Ende bereits erahnen und es ist tatsächlich so eingetreten. Zwischendrin muss man sich auf ziemlich viele Sex-Szenen gefasst machen und meiner Meinung nach ist der Spannungsbogen überhaupt nicht gelungen, es liest sich eher wie ein schlechter Frauenroman. Einzig die Einleitungskapitel und die wenigen Kapitel aus Fayes Kindheit, die es auch noch gibt, bringen etwas Spannung.

Fazit: Ich bin maßlos enttäuscht. Es wurde viel mehr versprochen, als gehalten wurde. Sehr Schade!

Camilla Läckberg, Jahrgang 1974, stammt aus Fjällbacka. Von ihrer mittlerweile zehnbändigen Fjällbacka-Krimireihe wurden weltweit über 23 Millionen Exemplare verkauft, sie ist Schwedens erfolgreichste Autorin. Mit ihrem Unternehmen „Invest In Her“ fördert sie Projekte junger Frauen. Camilla Läckberg lebt mit ihrer Patchworkfamilie in Stockholm.

 

Rezension und Foto von Andrea Köster.

Golden Cage | Erschienen am 29. März 2019 bei List im Ullstein Verlag
ISBN 978-3-471-35173-4
384 Seiten | 17.99 Euro
Originaltitel: En bur av guld
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Auch bei uns: Rezensionen zu Camilla Läckbergs Romanen Die EngelmacherinDie Schneelöwin und Die Eishexe

Francis Durbridge | Paul-Temple Die große Box ♬

Francis Durbridge | Paul-Temple Die große Box ♬

Sechs Hörspiele in den Original-Radiofassungen

Heutzutage sind die meisten Protagonisten eines Krimis, die Ermittler, Detektive oder Kommissare oft irgendwie beschädigt, kaputt oder zumindest traumatisiert. Sie kämpfen mit Alkohol- und Drogenproblemen, ihren inneren Dämonen oder sind zumindest etwas schrullig.

Beim Morpheus!

Ein ganz anderes Kaliber ist der fiktive Kriminalschriftsteller und Hobbydetektiv Paul Temple, der Ende der 1930er Jahre von dem britischen Schriftsteller Francis Durbridge erfunden wurde. Der kultivierte Gentleman löst seine Fälle mit lässigem Charme, ist scharfsinnig, souverän und bleibt einfach immer smart. Es kommt höchstens mal ein „Beim Morpheus!“ wenn er überrascht wird.

Ihm zur Seite steht Steve, seine zauberhafte, stets gut gelaunte, immer topmodisch gekleidete Ehefrau. Als Sidekick für humorige, geschliffene Dialoge unverzichtbar! Paul ist als Schriftsteller sehr erfolgreich und so gehören die Temples eher zur Upperclass und können sich in ihrer Londoner Wohnung einen Diener leisten. In jeder Folge dabei ist der britisch stocksteife Charlie mit den flapsigen Ausdrücken. Temple arbeitet eng mit Scotland Yard zusammen und Sir Graham Forbes bittet ihn oft um Unterstützung und bringt ihm die Fälle praktisch ins Haus. Und das würde ich doch auch machen, denn Paul löst die richtig verzwickten Fälle.

„Oh Paul, er ist in einem fürchterlichen Zustand!“

Verschiedene Zutaten findet man in leicht abgeänderter Form in jeder Folge. Das sind zum Beispiel der ominöse Nachtclub, das einsame Landhaus oder der geheimnisvolle Megaverbrecher, den noch keiner gesehen hat und jeder nur unter seinem Pseudonym kennt. Oft ruft eine Person Temple an und will etwas Wichtiges zur Aufklärung mitteilen, aber auf keinen Fall sofort am Telefon. Es wird ein Treffpunkt vereinbart, und man kann davon ausgehen, dass die Person vorher beseitigt und oft vom Ehepaar Temple aufgefunden wird. Fast inflationär oft fällt dann von Steve der Satz: „Oh Paul, er / sie / das Opfer / die Leiche ist in einem fürchterlichen Zustand.“ Immer steht ein gewöhnlicher, aber für den Fall mysteriöser Gegenstand im Mittelpunkt, um den sich der Hörer die meisten Gedanken machen kann.

In Paul Temple und der Fall Vandyke führt eine Puppe die Temples nach Paris, wo sie nach einem verschwundenen Baby suchen und einen Drogenhändlerring ausheben, dabei wird eine handgeschriebene Notiz mit dem Vermerk: „Ein Mr. Vandyke hat angerufen; keine Bestellung hinterlassen“ gefunden.

In Paul Temple und der Fall Jonathan verwundert neben einem Siegelring eine Postkarte mit dem Text: „Wir amüsieren uns glänzend. Viele Grüße Jonathan“, die neben der verstümmelten Leiche eines amerikanischen Studenten gefunden wird.

In Paul Temple und der Fall Madison gibt ein verschwundener Penny an einer Uhrenkette Grund für Spekulationen. Bei dem Fall um einen undurchsichtigen Privatdetektiv namens Madison geht es um Erpressung und eine große Falschmünzerbande.

Als Paul und Steve in Paul Temple und der Fall Spencer den Mord an einer jungen Schauspielerin untersuchen, hilft ihnen als Anhaltspunkt eine mysteriöse Schallplatte in der Londoner Wohnung der Toten mit dem Begleitschreiben: „Es war ein Genuss! Herzlichst Spencer“.

Ein blaues Kleid und einige Cocktailstäbchen bringen den charmanten Detektiv in Paul Temple und der Fall Conrad auf die richtige Spur. Hier verschwindet die Tochter eines berühmten Psychiaters aus einem bayrischen Eliteinternat.

In einem Mantel der Firma „Margo“ gehüllt wird in Paul Temple und der Fall Margo die Tochter eines amerikanischen Verlegers tot aus der Themse gezogen.

Für die Begrüßung nehmen sich alle immer viel Zeit, wobei „Hello“ lustigerweise immer englisch ausgesprochen wird. Bei all den kriminellen Machenschaften bleibt auch immer noch Zeit für einen Drink oder zwei. Zum Schluss treffen sich alle Verdächtigen oft zum gepflegten Drink am Abend und Paul Temple entlarvt den Täter.

Aber es gibt auch unterhaltsame Actionszenen, zum Beispiel in Paul Temple und der Fall Madison wird Steve auf einen Kabinenkreuzer verschleppt und kann sich ganz knapp auf einem Polizeiboot in Sicherheit bringen, bevor eine Bombe detoniert. In Paul Temple und der Fall Vandyke entgeht das Ehepaar Temple nur knapp einem Attentat in einem Pariser Straßencafé, in Paul Temple und der Fall Conrad werden sie in den bayerischen Alpen von der Straße abgedrängt und in dieser Folge war für mich auch einer der spannendsten Szenen, als Paul sich mit einem Informanten in einer alten Lagerhalle am Nordufer der Themse trifft, diesen sterbend vorfindet und nachdem ein Feuer ausbricht sich nur durch einen Sprung in die Themse retten kann.

Paul Temple war sein Durchbruch

Francis Durbridge hatte die Krimis rund um Paul Temple nur fürs Radio konzipiert, es gab keine Romanvorlage. Der britische Autor achtete beim Schreiben speziell auf Spannung und Effekte für den Hörer und das Publikum musste immer nach einem spektakulären Cliffhanger eine Woche auf die Fortsetzung warten. Während heute alle Toneffekte digital hinzugefügt werden, agierten die Schauspieler rund um René Deltgen damals noch in echten Räumen und durch die spielerischen Inszenierungen wirkt alles handgemacht. Wenn die Schausprecher Treppen hochlaufen, Türen zuschlagen, Tee eingießen oder live mit Schreckschusspistolen schießen, wirkt alles sehr lebendig und man hört heute noch den Spaß, den das gemacht haben muss.

Ab 1938 produzierte die englische BBC 29 PT-Hörspiele und in Deutschland konnten sich begeisterte Krimihörer ab 1949 an den vom WDR ganz nach dem Vorbild der BBC produzierten Hörspielen vergnügen. Bis 1967 faszinierten 13 Fortsetzungsserien eine ganze Generation von Krimiratefreunden.

Bei den in der Box befindlichen sechs Hörspielen handelt es sich um die Original-Radiofassungen des WDR. Den besonderen Charme macht auch aus, dass hier nichts geschnitten wurde und man auch die damaligen An- und Absagen hört. Es sind zeitlos spannende, nostalgisch anspruchsvolle, raffinierte Kriminalfälle, wobei auch die Originalmusik von Hans Jönsson beiträgt.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Paul Temple Die große Box | Erschien am 18. April 2019 im Audio Verlag
ISBN 978-3-7424-0953-9
6 mp3-CDs| 29,99 Euro
Bibliographische Angaben & Hörprobe

Lisa Bengtsdotter | Löwenzahnkind Bd. 1

Lisa Bengtsdotter | Löwenzahnkind Bd. 1

Krimi aus Schweden nach bewährtem Muster

Vom Verlag als Thriller beworben, entpuppt sich der Roman schnell als ein weiterer, typischer Schwedenkrimi, was ja an sich auch schon ein Versprechen für solide, gute Unterhaltung ist und tatsächlich erfüllt Löwenzahnkind was das angeht alle Erwartungen. Bengtsdotter erzählt ruhig, ohne Hast, nimmt sich Zeit für eine sorgfältige Beschreibung der meist trostlosen, zum Teil auch idyllischen Schauplätze, vor allem aber für das Seelenleben ihrer Figuren, auf die sich das Hauptinteresse konzentriert.

Der an sich angenehm fließende, wenn auch arg einfache, etwas eckige Stil rumpelt an etlichen Stellen, was möglicherweise mit einer nicht ganz so geschmeidigen Übersetzung von Sabine Thiele zu tun haben könnte. Daher entsteht bisweilen der Eindruck, dass die Geschichte gut erzählt, aber weniger gut ausgeführt ist. Sehr gut geglückt ist die sorgfältige Einführung der wichtigsten Figuren, die dadurch sofort Interesse finden, auch wenn sie allesamt die inzwischen etablierten und deshalb fast erwarteten Klischees mit sich herumschleppen, die üblichen psychischen Defizite, Mängel und Macken, die scheinbar unverzichtbaren Ehe- oder Drogenprobleme und vor allem die schwere Kindheit.

Die Heldin dieses Romans, Charline „Charlie“ Lager, ist eine solche Anti-Heldin, und sie hatte es als kleines Mädchen sicher nicht leicht. Sie war ein „Löwenzahnkind“, ein Begriff, den Entwicklungspsychologen verwenden, um unterschiedliche Anlagen zu erklären.Wissenschaftler aus den USA benutzten als erste die schwedischen Bezeichnungen „Maskrosbarn“ und „Orkidebarn“, „Orchideenkind“. Erstere besitzen die Fähigkeit, selbst unter widrigsten Umständen zu überleben, ja sogar zu gedeihen. Sie sind psychologisch außerordentlich belastbar. Die Psyche der Orchideenkinder dagegen hängt in weit größerem Maß von ihrer Umwelt ab – insbesondere von der elterlichen Zuwendung. Vernachlässigte Orchideenkinder verkümmern; doch bei entsprechender Förderung blühen sie regelrecht auf.

Charlies Mutter hat sich ganz sicher nicht genug um ihr Kind gekümmert. Über ihren Vater wird Charlie niemals etwas erfahren, und die Mutter ist mit der Erziehung ihrer Tochter total überfordert. Es gibt keine Regeln und keine Grenzen, und es gibt auch wenig Zuwendung, das Jugendamt hat ein Auge auf die Situation und Charlie Angst, dass die „Prusseliese“ sie mitnimmt. Betty Lager hat genug zu tun mit ihren eigenen Problemen. Sie leidet unter starken Stimmungsschwankungen, zieht sich entweder völlig zurück oder feiert ausufernde Feste, auf denen sich ihr schweres Alkoholproblem manifestiert. Daran ändert sich auch nichts, als mit Matthias ein neuer Mann in ihr Leben tritt und in Lyckebo einzieht, wo außerhalb des Ortes ihr Haus am See liegt. Eines Tages ertrinkt Matthias in eben diesem See, und Betty zerbricht an dem Unglück, vegetiert nur noch vor sich hin und kümmert sich gar nicht mehr um ihre Tochter. Als sie an Tabletten- und Alkoholmissbrauch stirbt, verlässt Charlie mit 14 Jahren Gullspång und kommt nun wirklich in eine Pflegefamilie.

Nun ist sie 33 und hat sich durchgekämpft, aus dem Löwenzahnkind ist tatsächlich etwas geworden: Eine Ermittlerin bei der NOA, der Nationalen Operativen Abteilung, die der Chef seine fähigste Mitarbeiterin nennt. Die zum großen Teil männlichen Kollegen sind weniger begeistert von ihrer Blitzkarriere. Abitur mit siebzehn, Studium der Psychologie mit Abschluss, Ausbildung an der Polizeihochschule. Je höher sie in der Hierarchie der NOA aufstieg, desto größer wurden ihr Neid und ihr Misstrauen. Es gibt wenige Ausnahmen, eine davon ist Anders Bratt, mit dem sie ein Team bildet. Er war ihr von Anfang an sympathisch, obwohl sein sozialer Hintergrund ein völlig anderer ist: Mitglied der Oberklasse aus sehr reichem Haus, entsprechend eingebildet und überheblich, aber auch gutherzig, mit Humor und der Fähigkeit zur Selbstreflexion. Ihr aktueller Einsatz verschlägt die beiden ausgerechnet nach Gullspång, um die örtlichen Polizeibeamten bei der Suche nach einer spurlos verschwundenen Siebzehnjährigen zu unterstützen. Niemand weiß, dass Charlie dort aufgewachsen ist, sie hat ihr traumatische Erlebnis, das mit dem kleinen Ort in Västergötland verbunden ist, vor allen verheimlicht.

Sie selbst leidet darunter, bekämpft mit Antidepressiva ihre Panikattacken und Angststörungen und versucht immer wieder vergeblich, endlich Rauchen und Trinken aufzugeben. Eine Therapie hat keinen Erfolg gehabt, eigentlich will sie sich auch nicht helfen lassen, glaubt selbst am besten zu wissen, was gut für sie ist und will alles alleine regeln. Zu Beginn des Romans erleben wir sie als schwach, willenlos, einsam und ohne soziale Kontakte, dafür jederzeit bereit für flüchtige sexuelle Abenteuer, wobei sie auch Affären mit Kollegen nicht scheut. Nun muss sie sich also mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinandersetzen, obwohl sie niemals zurückkehren wollte zu den Schauplätzen ihrer Kindheit. Es hat sich nichts verändert in Gullspång, ihre Rückkehr gerät zu einer absolut deprimierenden Inszenierung:

„Die Ortsmitte wirkte wie eine Geisterstadt. Aufgegebene Geschäfte, eingeschlagene Fensterscheiben. Es erschien ihr unwirklich, alles wiederzusehen. Die heruntergekommenen Hausfassaden, das Lebensmittelgeschäft, die Konditorei, die mittlerweile geschlossen war. Für Außenstehende einfach ein tristes, verlassenes Ortszentrum, aber für sie…“

Die erste Begegnung mit den Kollegen der örtlichen Polizeistation macht deutlich, wie nötig die Unterstützung der Stockholmer Beamten ist. Die Provinzler haben Vorbehalte gegen die Hauptstädter, müssen aber bald einsehen, dass sie nicht besonders professionell gearbeitet haben. Charlie und Anders machen sich daran, mit eigenen Ermittlungen das Rätsel um das Verschwinden des Mädchens zu lösen. Bis die beiden die traurigen Hintergründe entschlüsseln können und die bittere Wahrheit ans Licht kommt, erzählt Bengtsdotter in ihrem gelungenen Debüt höchst unterhaltsam, abwechslungsreich und spannend aus verschiedenen Perspektiven. Neben den aktuellen Ereignissen blickt sie zurück auf „Jenen Abend“, an dem Annabelle verschwand, auf „Eine andere Zeit“, in der zwei Mädchen beste Freundinnen wurden, und auf die Kindertage von Charlie im Haus in Lyckebo, an die sie nicht nur angenehme Erinnerungen hat, sie schleppt seither auch einige bedrückende und belastende Erkenntnisse mit sich herum. Davon hat sie bis heute niemandem erzählt, wie sie überhaupt wenig von sich preisgibt, selbst Anders weiß so gut wie nichts über seine Kollegin.

Die beiden könnten gegensätzlicher nicht sein, die eine offenbar vom Leben enttäuscht und gezeichnet, desillusioniert und einsam, die sich ihren Dialekt mühsam abtrainiert hat und die ihre Herkunft dennoch nicht leugnen kann, der andere ein arroganter Stockholmer, herablassend und sarkastisch gegenüber allem außerhalb der Großstadt, seit kurzem Papa und verheiratet mit einer furchtbar eifersüchtigen und kontrollsüchtigen Frau.
Die Mutter der vermissten Annabelle leidet ebenfalls unter einem Kontrollwahn. Fredrik Roos kennt seine Frau Nora von Beginn an als aufbrausend, unruhig, ängstlich und labil. Ihre Tochter leidet sehr unter der ständigen Überwachung, ihn wundert es nicht, dass sie gegen die strengen Regeln der Mutter aufbegehrt. Ist sie möglicherweise ausgerissen? Fast alle jungen Leute wollen im Grunde nur eines: Weg aus Gullspång. Zuletzt wurde Annabelle im seit vielen Jahren leerstehenden, ehemaligen Dorfladen gesehen, der den Jugendlichen der Gegend als Treffpunkt dient. Dort hören sie ihre laute Musik, es wird viel Alkohol getrunken, man kifft und konsumiert auch andere Drogen und die Pärchen haben Sex. Als Annabelle an jenem Abend die Party verlassen hatte, war sie stark angetrunken. Fredrik ist von Nora losgeschickt worden, um sie zu suchen, aber ihre Spur hat sich verloren. Ist sie verschleppt worden, oder schlimmer noch, ermordet?

Während ein freiwilliger Suchtrupp tagelang die gesamte Gegend durchforstet, demonstrieren Charlie und Anders, wie professionelle Polizeiarbeit aussieht, zumindest eine Zeit lang. Dabei liefern sich die so unterschiedlichen Ermittler kurzweilige Wortgefechte, Bengtsdotter schreibt ihnen spannende, unterhaltsame und witzige Dialoge. Charlie erweist sich als schnell in allem was sie tut, in ihren Aktionen wie in ihren Überlegungen und Entscheidungen. Ihren behäbigen Kollegen ist sie stets einen Schritt voraus, aber dann stürzt Charlie wieder einmal ab: sie blickt zu tief ins Glas und lässt sich mit einer Zufallsbekanntschaft ein. Am nächsten Morgen stellt sich heraus, dass sie mit einem Journalisten geschlafen hat, und als die lokale Presse mit vertraulichen Details der laufenden Ermittlungen aufmacht, wird sie vom Fall abgezogen. Das hindert sie allerdings nicht daran, weitere Nachforschungen anzustellen. Durch ihren Alleingang gerät sie mehr und mehr in den Mittelpunkt der Geschichte, zumal sie jetzt endlich den Mut findet, das Haus ihrer Mutter wiederzusehen und sich so ihrer lange verdrängten Vergangenheit stellen muss. Ihre persönliche Geschichte überlagert von nun an vollends den Fall um die vermisste Annabelle. So erfahren wir in kleinen Häppchen immer mehr über die faszinierende, widersprüchliche Charlie, die sich als sehr komplexe Person erweist. Sie ist mitunter schwach, oft aber auch kämpferisch, anarchistisch und stark, außerordentlich intelligent und absolut beherrscht und zielstrebig im Beruf, ihr Privatleben hat sie dagegen gar nicht unter Kontrolle.

Als sie ihre Freundin aus Kindertagen wiedersieht und in Erinnerungen schwelgt, werden zerplatzte Träume, Lebenslügen offenbar. Charlie schweift nun oft ab, wenn sie sich an den alten, vertrauten Plätzen in Gedanken und Träumereien verliert und die Vergangenheit aufleben lässt, ihre sind einfach schön und mitreißend ausgemalt, sind diese Bilder mit großem Vergnügen zu lesen, auch wenn sie scheinbar nichts mit dem Plot zu tun haben.
Der ist großartig durchkomponiert und an keiner Stelle langweilig. Gewährt an vielen Stellen intensive Einblicke in die häuslichen und gesellschaftlichen Zustände in der kleinen Gemeinde, Innenansichten des dörflichen Lebens. Da werden wie üblich in Krimis aus Skandinavien eine Menge Fragen aufgeworfen, auch ein Grund dafür, dass der Roman einen sofort in den Bann zieht und mitreißt, auch wenn man stellenweise vergessen könnte, das es sich hier um einen Krimi handelt. Der Roman kommt dann eher daher wie ein Sozialdrama oder eine Milieustudie. Die Kapitel sind kurz, die Perspektive wechselt häufig und dieser ständige Austausch der unterschiedlichen Handlungsstränge hält die Spannung hoch, die sich zum unerwarteten Ende hin enorm steigert, wobei besonders der einigermaßen rätselhafte Auftritt der Freundinnen Alice und Rosa für ein besonderes Kribbeln sorgt. Die Charaktere, auch oder gerade die Nebenfiguren, sind allesamt glaubwürdig und authentisch, das Setting außerordentlich passend und geglückt. Die Autorin ist selbst in Gullspång aufgewachsen, die kleine Gemeinde hat sie genau so in Erinnerung, wie sie im Roman geschildert wird: freudlos, trostlos, perspektivlos, einfach deprimierend. Heute lebt Bengtsdottir wie ihre Heldin in Stockholm.

Charlie wird aber bald wieder nach Gullspång müssen, der zweite Band der Reihe soll noch in diesem Jahr auch auf deutsch erscheinen. Der schwedische Titel lautet Francisca und nimmt einige Fäden des Erstlings wieder auf. Der heißt im Original schlicht Annabelle, der Name ist offensichtlich mit Bedacht gewählt. Es finden sich im Roman mehrfach Hinweise auf einerseits den deprimierenden Countrysong „Annabelle“ von Gillian Welch, zu anderen auf das bekannte Gedicht „Annabelle Lee“ von Edgar Allen Poe. Die Fortsetzung beschert natürlich ein Wiedersehen mit bekannten Figuren und hat offenbar den gleichen Tenor und eine ähnliche Thematik wie Löwenzahnkind. Dem gebe ich vier Sterne, ich glaube, Lina Bengtsdotter kann sich noch steigern.

 

Anmerkung: Der zweite Band wird voraussichtlich am 13. Juli 2010 im Penguin Verlag unter dem Titel Hagebuttenblut erscheinen.

 

Rezension und Foto von Kurt Schäfer.

Löwenzahnkind | Erschienen am 13. Mai 2019 im Penguin Verlag
ISBN 978-3-328-10381-3
448 Seiten | 13.- Euro
Originaltitel: Annabelle
Bibliographische Angaben & Leseprobe