Lisa Bengtsdotter | Löwenzahnkind Bd. 1

Lisa Bengtsdotter | Löwenzahnkind Bd. 1

Krimi aus Schweden nach bewährtem Muster

Vom Verlag als Thriller beworben, entpuppt sich der Roman schnell als ein weiterer, typischer Schwedenkrimi, was ja an sich auch schon ein Versprechen für solide, gute Unterhaltung ist und tatsächlich erfüllt Löwenzahnkind was das angeht alle Erwartungen. Bengtsdotter erzählt ruhig, ohne Hast, nimmt sich Zeit für eine sorgfältige Beschreibung der meist trostlosen, zum Teil auch idyllischen Schauplätze, vor allem aber für das Seelenleben ihrer Figuren, auf die sich das Hauptinteresse konzentriert.

Der an sich angenehm fließende, wenn auch arg einfache, etwas eckige Stil rumpelt an etlichen Stellen, was möglicherweise mit einer nicht ganz so geschmeidigen Übersetzung von Sabine Thiele zu tun haben könnte. Daher entsteht bisweilen der Eindruck, dass die Geschichte gut erzählt, aber weniger gut ausgeführt ist. Sehr gut geglückt ist die sorgfältige Einführung der wichtigsten Figuren, die dadurch sofort Interesse finden, auch wenn sie allesamt die inzwischen etablierten und deshalb fast erwarteten Klischees mit sich herumschleppen, die üblichen psychischen Defizite, Mängel und Macken, die scheinbar unverzichtbaren Ehe- oder Drogenprobleme und vor allem die schwere Kindheit.

Die Heldin dieses Romans, Charline „Charlie“ Lager, ist eine solche Anti-Heldin, und sie hatte es als kleines Mädchen sicher nicht leicht. Sie war ein „Löwenzahnkind“, ein Begriff, den Entwicklungspsychologen verwenden, um unterschiedliche Anlagen zu erklären.Wissenschaftler aus den USA benutzten als erste die schwedischen Bezeichnungen „Maskrosbarn“ und „Orkidebarn“, „Orchideenkind“. Erstere besitzen die Fähigkeit, selbst unter widrigsten Umständen zu überleben, ja sogar zu gedeihen. Sie sind psychologisch außerordentlich belastbar. Die Psyche der Orchideenkinder dagegen hängt in weit größerem Maß von ihrer Umwelt ab – insbesondere von der elterlichen Zuwendung. Vernachlässigte Orchideenkinder verkümmern; doch bei entsprechender Förderung blühen sie regelrecht auf.

Charlies Mutter hat sich ganz sicher nicht genug um ihr Kind gekümmert. Über ihren Vater wird Charlie niemals etwas erfahren, und die Mutter ist mit der Erziehung ihrer Tochter total überfordert. Es gibt keine Regeln und keine Grenzen, und es gibt auch wenig Zuwendung, das Jugendamt hat ein Auge auf die Situation und Charlie Angst, dass die „Prusseliese“ sie mitnimmt. Betty Lager hat genug zu tun mit ihren eigenen Problemen. Sie leidet unter starken Stimmungsschwankungen, zieht sich entweder völlig zurück oder feiert ausufernde Feste, auf denen sich ihr schweres Alkoholproblem manifestiert. Daran ändert sich auch nichts, als mit Matthias ein neuer Mann in ihr Leben tritt und in Lyckebo einzieht, wo außerhalb des Ortes ihr Haus am See liegt. Eines Tages ertrinkt Matthias in eben diesem See, und Betty zerbricht an dem Unglück, vegetiert nur noch vor sich hin und kümmert sich gar nicht mehr um ihre Tochter. Als sie an Tabletten- und Alkoholmissbrauch stirbt, verlässt Charlie mit 14 Jahren Gullspång und kommt nun wirklich in eine Pflegefamilie.

Nun ist sie 33 und hat sich durchgekämpft, aus dem Löwenzahnkind ist tatsächlich etwas geworden: Eine Ermittlerin bei der NOA, der Nationalen Operativen Abteilung, die der Chef seine fähigste Mitarbeiterin nennt. Die zum großen Teil männlichen Kollegen sind weniger begeistert von ihrer Blitzkarriere. Abitur mit siebzehn, Studium der Psychologie mit Abschluss, Ausbildung an der Polizeihochschule. Je höher sie in der Hierarchie der NOA aufstieg, desto größer wurden ihr Neid und ihr Misstrauen. Es gibt wenige Ausnahmen, eine davon ist Anders Bratt, mit dem sie ein Team bildet. Er war ihr von Anfang an sympathisch, obwohl sein sozialer Hintergrund ein völlig anderer ist: Mitglied der Oberklasse aus sehr reichem Haus, entsprechend eingebildet und überheblich, aber auch gutherzig, mit Humor und der Fähigkeit zur Selbstreflexion. Ihr aktueller Einsatz verschlägt die beiden ausgerechnet nach Gullspång, um die örtlichen Polizeibeamten bei der Suche nach einer spurlos verschwundenen Siebzehnjährigen zu unterstützen. Niemand weiß, dass Charlie dort aufgewachsen ist, sie hat ihr traumatische Erlebnis, das mit dem kleinen Ort in Västergötland verbunden ist, vor allen verheimlicht.

Sie selbst leidet darunter, bekämpft mit Antidepressiva ihre Panikattacken und Angststörungen und versucht immer wieder vergeblich, endlich Rauchen und Trinken aufzugeben. Eine Therapie hat keinen Erfolg gehabt, eigentlich will sie sich auch nicht helfen lassen, glaubt selbst am besten zu wissen, was gut für sie ist und will alles alleine regeln. Zu Beginn des Romans erleben wir sie als schwach, willenlos, einsam und ohne soziale Kontakte, dafür jederzeit bereit für flüchtige sexuelle Abenteuer, wobei sie auch Affären mit Kollegen nicht scheut. Nun muss sie sich also mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinandersetzen, obwohl sie niemals zurückkehren wollte zu den Schauplätzen ihrer Kindheit. Es hat sich nichts verändert in Gullspång, ihre Rückkehr gerät zu einer absolut deprimierenden Inszenierung:

„Die Ortsmitte wirkte wie eine Geisterstadt. Aufgegebene Geschäfte, eingeschlagene Fensterscheiben. Es erschien ihr unwirklich, alles wiederzusehen. Die heruntergekommenen Hausfassaden, das Lebensmittelgeschäft, die Konditorei, die mittlerweile geschlossen war. Für Außenstehende einfach ein tristes, verlassenes Ortszentrum, aber für sie…“

Die erste Begegnung mit den Kollegen der örtlichen Polizeistation macht deutlich, wie nötig die Unterstützung der Stockholmer Beamten ist. Die Provinzler haben Vorbehalte gegen die Hauptstädter, müssen aber bald einsehen, dass sie nicht besonders professionell gearbeitet haben. Charlie und Anders machen sich daran, mit eigenen Ermittlungen das Rätsel um das Verschwinden des Mädchens zu lösen. Bis die beiden die traurigen Hintergründe entschlüsseln können und die bittere Wahrheit ans Licht kommt, erzählt Bengtsdotter in ihrem gelungenen Debüt höchst unterhaltsam, abwechslungsreich und spannend aus verschiedenen Perspektiven. Neben den aktuellen Ereignissen blickt sie zurück auf „Jenen Abend“, an dem Annabelle verschwand, auf „Eine andere Zeit“, in der zwei Mädchen beste Freundinnen wurden, und auf die Kindertage von Charlie im Haus in Lyckebo, an die sie nicht nur angenehme Erinnerungen hat, sie schleppt seither auch einige bedrückende und belastende Erkenntnisse mit sich herum. Davon hat sie bis heute niemandem erzählt, wie sie überhaupt wenig von sich preisgibt, selbst Anders weiß so gut wie nichts über seine Kollegin.

Die beiden könnten gegensätzlicher nicht sein, die eine offenbar vom Leben enttäuscht und gezeichnet, desillusioniert und einsam, die sich ihren Dialekt mühsam abtrainiert hat und die ihre Herkunft dennoch nicht leugnen kann, der andere ein arroganter Stockholmer, herablassend und sarkastisch gegenüber allem außerhalb der Großstadt, seit kurzem Papa und verheiratet mit einer furchtbar eifersüchtigen und kontrollsüchtigen Frau.
Die Mutter der vermissten Annabelle leidet ebenfalls unter einem Kontrollwahn. Fredrik Roos kennt seine Frau Nora von Beginn an als aufbrausend, unruhig, ängstlich und labil. Ihre Tochter leidet sehr unter der ständigen Überwachung, ihn wundert es nicht, dass sie gegen die strengen Regeln der Mutter aufbegehrt. Ist sie möglicherweise ausgerissen? Fast alle jungen Leute wollen im Grunde nur eines: Weg aus Gullspång. Zuletzt wurde Annabelle im seit vielen Jahren leerstehenden, ehemaligen Dorfladen gesehen, der den Jugendlichen der Gegend als Treffpunkt dient. Dort hören sie ihre laute Musik, es wird viel Alkohol getrunken, man kifft und konsumiert auch andere Drogen und die Pärchen haben Sex. Als Annabelle an jenem Abend die Party verlassen hatte, war sie stark angetrunken. Fredrik ist von Nora losgeschickt worden, um sie zu suchen, aber ihre Spur hat sich verloren. Ist sie verschleppt worden, oder schlimmer noch, ermordet?

Während ein freiwilliger Suchtrupp tagelang die gesamte Gegend durchforstet, demonstrieren Charlie und Anders, wie professionelle Polizeiarbeit aussieht, zumindest eine Zeit lang. Dabei liefern sich die so unterschiedlichen Ermittler kurzweilige Wortgefechte, Bengtsdotter schreibt ihnen spannende, unterhaltsame und witzige Dialoge. Charlie erweist sich als schnell in allem was sie tut, in ihren Aktionen wie in ihren Überlegungen und Entscheidungen. Ihren behäbigen Kollegen ist sie stets einen Schritt voraus, aber dann stürzt Charlie wieder einmal ab: sie blickt zu tief ins Glas und lässt sich mit einer Zufallsbekanntschaft ein. Am nächsten Morgen stellt sich heraus, dass sie mit einem Journalisten geschlafen hat, und als die lokale Presse mit vertraulichen Details der laufenden Ermittlungen aufmacht, wird sie vom Fall abgezogen. Das hindert sie allerdings nicht daran, weitere Nachforschungen anzustellen. Durch ihren Alleingang gerät sie mehr und mehr in den Mittelpunkt der Geschichte, zumal sie jetzt endlich den Mut findet, das Haus ihrer Mutter wiederzusehen und sich so ihrer lange verdrängten Vergangenheit stellen muss. Ihre persönliche Geschichte überlagert von nun an vollends den Fall um die vermisste Annabelle. So erfahren wir in kleinen Häppchen immer mehr über die faszinierende, widersprüchliche Charlie, die sich als sehr komplexe Person erweist. Sie ist mitunter schwach, oft aber auch kämpferisch, anarchistisch und stark, außerordentlich intelligent und absolut beherrscht und zielstrebig im Beruf, ihr Privatleben hat sie dagegen gar nicht unter Kontrolle.

Als sie ihre Freundin aus Kindertagen wiedersieht und in Erinnerungen schwelgt, werden zerplatzte Träume, Lebenslügen offenbar. Charlie schweift nun oft ab, wenn sie sich an den alten, vertrauten Plätzen in Gedanken und Träumereien verliert und die Vergangenheit aufleben lässt, ihre sind einfach schön und mitreißend ausgemalt, sind diese Bilder mit großem Vergnügen zu lesen, auch wenn sie scheinbar nichts mit dem Plot zu tun haben.
Der ist großartig durchkomponiert und an keiner Stelle langweilig. Gewährt an vielen Stellen intensive Einblicke in die häuslichen und gesellschaftlichen Zustände in der kleinen Gemeinde, Innenansichten des dörflichen Lebens. Da werden wie üblich in Krimis aus Skandinavien eine Menge Fragen aufgeworfen, auch ein Grund dafür, dass der Roman einen sofort in den Bann zieht und mitreißt, auch wenn man stellenweise vergessen könnte, das es sich hier um einen Krimi handelt. Der Roman kommt dann eher daher wie ein Sozialdrama oder eine Milieustudie. Die Kapitel sind kurz, die Perspektive wechselt häufig und dieser ständige Austausch der unterschiedlichen Handlungsstränge hält die Spannung hoch, die sich zum unerwarteten Ende hin enorm steigert, wobei besonders der einigermaßen rätselhafte Auftritt der Freundinnen Alice und Rosa für ein besonderes Kribbeln sorgt. Die Charaktere, auch oder gerade die Nebenfiguren, sind allesamt glaubwürdig und authentisch, das Setting außerordentlich passend und geglückt. Die Autorin ist selbst in Gullspång aufgewachsen, die kleine Gemeinde hat sie genau so in Erinnerung, wie sie im Roman geschildert wird: freudlos, trostlos, perspektivlos, einfach deprimierend. Heute lebt Bengtsdottir wie ihre Heldin in Stockholm.

Charlie wird aber bald wieder nach Gullspång müssen, der zweite Band der Reihe soll noch in diesem Jahr auch auf deutsch erscheinen. Der schwedische Titel lautet Francisca und nimmt einige Fäden des Erstlings wieder auf. Der heißt im Original schlicht Annabelle, der Name ist offensichtlich mit Bedacht gewählt. Es finden sich im Roman mehrfach Hinweise auf einerseits den deprimierenden Countrysong „Annabelle“ von Gillian Welch, zu anderen auf das bekannte Gedicht „Annabelle Lee“ von Edgar Allen Poe. Die Fortsetzung beschert natürlich ein Wiedersehen mit bekannten Figuren und hat offenbar den gleichen Tenor und eine ähnliche Thematik wie Löwenzahnkind. Dem gebe ich vier Sterne, ich glaube, Lina Bengtsdotter kann sich noch steigern.

 

Anmerkung: Der zweite Band wird voraussichtlich am 13. Juli 2010 im Penguin Verlag unter dem Titel Hagebuttenblut erscheinen.

 

Rezension und Foto von Kurt Schäfer.

Löwenzahnkind | Erschienen am 13. Mai 2019 im Penguin Verlag
ISBN 978-3-328-10381-3
448 Seiten | 13.- Euro
Originaltitel: Annabelle
Bibliographische Angaben & Leseprobe

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