Anne Holt | Blinde Göttin Bd. 1
Sie kam Håkon erschöpft vor, ihr weißer Atem jagte, obwohl sie doch ganz still saßen. […]
„Sieh dir seinen Geschäftskram genauer an“, befahl sie ihrem Vorgesetzten. „und laß eine Liste der Strafprozesse erstellen, in denen er während der letzten beiden Jahre aufgetreten ist. Ich wette, daß wir da irgendwas finden. Und außerdem“, fügte sie hinzu. „faßt die Fälle jetzt endlich zusammen. Und zwar gehören sie beide zu mir; ich hatte den ersten.“ Sie wirkte fast glücklich über den Gedanken. (Auszug Seiten 94-95)
Bei einer Runde mit ihrem Hund findet die Anwältin Karen Borg eine übel zugerichtete Leiche. Wenig später nimmt die Polizei einen verwirrten Mann mit blutiger Kleidung fest. Der Mann, ein Niederländer, gesteht den Mord, schweigt sich aber ansonsten aus. Kommisarin Hanne Wilhelmsen und Håkon Sand, Jurist im Polizeidienst, bearbeiten den Fall und würden gerne mehr über die Hintergründe erfahren. Da geschieht ein weiterer Mord, diesmal an einem schlecht beleumundenten Anwalt. Aus Intuition zieht Hanne Wilhelmsen eine Verbindung zum ersten Mord und behält damit recht.
Inzwischen hat Karen Borg auf dessen Wunsch die Verteidigung des Niederländers übernommen, obwohl sie eigentlich nur Wirtschaftsfälle verhandelt. Zwar hält sich der Mörder immer noch sehr bedeckt, aber inzwischen ist klar, dass es ein Mord im Drogenmilieu war. Der Täter bereut seine Tat, verschweigt aus Angst aber seinen Auftraggeber. Zwischen Karen Borg und Håkon Sand besteht seit gemeinsamen Studienzeiten eine enge Freundschaft und eine von ihr (bislang) nicht erwiderte Zuneigung. Dennoch arbeiten die beiden enger zusammen, als zwischen Polizei und Straftverteidiger üblich, und Karen erzählt, dass sie merkwürdigerweise von einem prominenten Anwalt mehrfach gebeten wurde, ihm das Mandat des Niederländers zu übergeben. Zudem findet Hanne Wilhelmsen heraus, dass der tote Anwalt Verteidiger des ersten Opfers war und sich beide am Tag des ersten Mordes getroffen hatten. Als Hanne im Präsidium niedergeschlagen wird und Akten verschwinden, sind sich Hanne und Håkon sicher, dass sie hier einen großen Fall mit der Drogenmafia vor sich haben, in den offenbar auch Osloer Rechtsanwälte verstrickt sind.
Autorin Anne Holt zählt zu den bekanntesten Schriftstellern Norwegens. Holt studierte Jura, arbeite (wie Håkon Sand) als Juristin im Polizeidienst und als Anwältin. Für wenige Monate Ende 1996 bis Anfang 1997 war sie Justizministerin ihres Landes. 1993 erschien mit „Blind Gudinne“ der erste Teil der bis heute andauernde Serie mit der Osloer Kommissarin Hanne Wilhelmsen, die mit ihrer Autorin einige Gemeinsamkeiten hat. So hat Hanne Wilhelmsen ein Faible für die Vereinigten Staaten und lebt in einer lesbischen Beziehung, trägt dies aber eher nicht nach außen. Die Figur Hanne ist eine attraktive, erfolgreiche Polizistin, eigenwillig, durchsetzungsstark, aber beliebt bei den Kollegen. In diesem ersten Band ist sie allerdings nicht die uneingeschränkte Hauptfigur, denn vor allem ihr Kollege Håkon Sand nimmt mindestens den gleichen Raum ein. Sand ist ein zuverlässiger, aber vom Polizeidienst zunehmend desillusionierter und ungeduldig gewordener Jurist. Obwohl formal Hanne Wilhelmsen vorgesetzt, beugt er sich ihren ermittlerischen Fähigkeiten. Privat ist er alleinstehend und voller Hoffnung, als seine große Liebe Karen Borg wieder in sein Leben tritt.
Auffallend an diesem Krimi ist das akribische Augenmerk, das die Autorin auf der Beschreibung der Vorgänge im Polizeipräsidium und der Figuren legt und dem Geschehen einen sehr authentischen Touch verliert. Insofern ist der generell immer etwas fragwürdige Vergleich zu einem berühmten Kollegen auf dem Klappentext („weibliches Pendant zu Henning Mankell“) nicht ganz verkehrt.
Grundsätzlich ist Blinde Göttin ein skandinavischer Kriminalroman mit durchaus klassischen Zutaten: Mord und Verbrechen mit Auswirkungen bis in höhere Kreise. Das hat man zwar schon mehrfach gelesen, aber wenn es so abwechslungsreich mit verschiedenen Perspektiven, glaubwürdigen Figuren und einem ordentlichen Spannungsbogen geschrieben ist wie in diesem Fall, dann nimmt man sich so einen Krimi doch gerne vor. Insofern ist Blinde Göttin ein immer noch sehr lesenswerter Klassiker des norwegischen Krimis.
Rezension und Foto von Gunnar Wolters.
Blinde Göttin | Erstmals erschienen 1993
Die gelesene Ausgabe erschien am 1. August 2002 im Piper Verlag
ISBN 978-3-492-23602-7
320 Seiten | 9.99 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe
Diese Rezension erscheint im Rahmen unseres .17special Ein langes Wochenende mit… Krimis aus Norwegen.
2 Replies to “Anne Holt | Blinde Göttin Bd. 1”
Ich habe mich zu Buchhändlerzeiten mal an einer Holt versucht, bin aber nicht mit ihr warm geworden. Ob das an ihrem Stil lag oder daran, dass ich – zumindest zum damaligen Zeitpunkt – mit den skandinavischen Krimis irgendwie aufs Kriegsfuß stand, ist rückblickend schwer zu sagen. BIs heute reizen mich die Amerikaner und Briten jedenfalls immer noch mehr.
Deine Besprechung ist aber so gut, dass ich ins Grübeln gerate. 🙂
Danke dir.
Ich fand den Krimi einfach handwerklich sehr ordentlich gemacht, wie oben schon beschrieben. Der Plot ist natürlich ein Stück weit üblicher Nordic Noir.
VG Gunnar