Ulf Miehe | Ich hab noch einen Toten in Berlin

Ulf Miehe | Ich hab noch einen Toten in Berlin

„Wenn der Coup wirklich so riesig ist“, sagte Gorski, „warum willst du ihn uns dann überhaupt erzählen? Warum machst du ihn zum Beispiel nicht einfach selber?“
Sparta nickte.
„Eine gute Frage. Ich kenn sie alle hier, und ich weiß keine Deutschen, die bei uns auf so was spezialisiert sind. Richtig organisiert sind hier nur die Perser. Die machen das Heroingeschäft. Da ballerts öfter mal.“ Er lachte. „Mit denen will ich nicht.“
„Aha“, sagte Gorski.
„Nix aha“, antwortete Sparta sofort, „Die verstehen meine Sprache, aber ich ihre nicht, capito? Ich müßte mir Fachleute aus dem Ausland holen. Das wären Vorkosten, um die hunderttausend Mark. Und dadurch würde das Risiko auch nicht kleiner. Mir ist das Ding einfach ein paar Nummern zu groß. Ich hab das nicht nötig, Meister. Aber für einen Film – wie gemacht.“ (Auszug Seite 38)

Der Drehbuchautor Benjamin und der Regisseur Gorski haben bereits erfolgreich zwei Filme fürs Fernsehen zusammen gedreht. Nun reisen sie ins geteilte Berlin, um dort einer Idee für einen neuen innovativen Kriminalfilm nachzugehen. Ihr Ansprechpartner ist Sparta, ein alter Bekannter Benjamins und eine Größe in der Berliner Unterwelt. Er erzählt den beiden von einem möglichen Coup für den Film: Zweimal im Monat wird der Sold der amerikanischen Soldaten eingeflogen und dann mit einem Transporter und zwei Jeeps als Begleitung zum Hauptquartier gebracht. Benjamin und Gorski beginnen mit der Recherche und je länger diese dauert, desto mehr haben beide das Gefühl, dass dieser Coup machbar ist – nicht nur im Film.

Autor Ulf Miehe war zunächst Anfang der 1960er Jahre als Lektor tätig, bevor er dann ein breites künstlerisches Spektrum als Schauspieler, Schriftsteller, Übersetzer, Drehbuchautor und Regisseur abdeckte. Der Roman Ich hab noch einen Toten in Berlin war der erste von drei Kriminalromanen (die weiteren waren Puma und Lilli Berlin), wurde nach Motiven eines gemeinsamen Drehbuchs mit Volker Vogeler verfasst und 1973 veröffentlicht. Ein Jahr später wurde er unter dem Titel „Output“ (allerdings nicht von ihm selbst) verfilmt.

Benjamin und Gorski sind ein eingespieltes Drehbuchautor-Regisseur-Duo, tendenziell linksalternativ, aber sie müssen sich mit konservativen Produzenten und Geldgebern arrangieren. Dennoch sind sie immer auf der Suche nach unkonventionellen, innovativen und avantgardistischen Motiven für neue Filme. Dazu kommen sie nach Berlin und treffen dort Sparta, eine alteingesessene Unterweltgröße. Dieser liefert ihnen den Stoff für einen neuen Film. Benjamin und Gorski tauchen in der Berliner Szene ein, recherchieren mit größtmöglichen Realismus, in dem sie sich Waffen und falsche Pässe besorgen. So langsam dämmert es Sparta, dass die beiden mit dem Gedanken spielen, den Coup tatsächlich durchzuziehen. Doch das ist nicht in seinem Sinne und so versucht er sie, zunächst höflich, dann bestimmt, von dem Vorhaben abzubringen – auch mit Hilfe der schönen Anna.

Der Roman ist eine klassische Gangsterballade. Der Titel bezieht sich natürlich auf den bekannten Schlager Ich hab noch einen Koffer in Berlin von Aldo von Pinelli. Im zweiten Kapitel schreibt der fiktive Herausgeber Günter Quitt, dass das Buch auf Tonbandprotokollen Benjamins beruht, der die Geschichte als Ich-Erzähler erzählt. Zudem gibtes  mehrere Kapitel mit einer Zeugenaussage von Anna Przygodda, die beide zunächst im Auftrag Spartas becirct. Die Dialoge sind authentisch knapp, oft flapsig, manchmal etwas sehr lässig. Es tauchen zahlreiche merkwürdige Gestalten in Nebenrollen auf. Das Setting der provinziellen, schmuddeligen Großstadt Berlin mit seinen Hinterhofklitschen, Bierlokalen und Pornokinos wird sehr gelungen dargestellt. Und immer wieder zitiert Benjamin Bob Dylan. Das Tempo könnte hin und wieder allerdings auch etwas höher sein.

„Ich hab noch einen Toten in Berlin“ ist ein interessanter Gangsterroman aus der Zeit des geteilten Berlins. Hier und da fand ich es manchmal übertrieben lässig erzählt, aber die ungewöhnliche Story ist dennoch lesenswert.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

 

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Ich hab noch einen Toten in Berlin | Erstmals erschienen 1973 bei Piper
Die gelesene Ausgabe erschien 1975 im Deutschen Taschenbuch Verlag
208 Seiten | aktuell vergriffen

Weiterlesen:
Der Schneemann: „Der Unsichtbare“ – Porträt von Ulf Miehe

CulturMag: Eine Hommage an Ulf Miehe
Der Spiegel 14/1973: „Ein Krimi, fett und fröhlich“ – Rezension von Günter Herburger aus dem Jahr 1973

Diese Rezension erscheint im Rahmen des .17specials Klassiker.

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