Jussi Adler-Olsen | Selfies

Jussi Adler-Olsen | Selfies

Annelie zog sich aus und legte sich aufs Bett, zitternd und wie berauscht von dem Adrenalincocktail, der ihr durch die Adern schoss, seit sie Michelle im Nordwestviertel überfahren hatte. Für jemanden wie sie, die fast fünfzig Jahre lang als personifizierte Wohlanständigkeit durchs Leben gegangen war, ein völlig neues Gefühl. Woher hätte sie auch wissen sollen, was für einen Kick es einem gab, wenn man sich zum Richter über Leben und Tod aufschwang? (Auszug Seite 147)

Im bereits siebten Fall von Jussi Adler-Olsens Serie um Kommissar Carl Mørck ermitteln die Beamten des Sonderdezernats Q diesmal rund um einen aktuellen Mord. Eine ältere Dame wird in einem Park erschlagen aufgefunden. Verschieden Aspekte deuten auf einen unaufgeklärten Mordfall an einer Grundschullehrerin vor etlichen Jahren hin, die unter ähnlichen Umständen ums Leben gekommen ist. Des Weiteren werden einige junge Frauen überfahren und der Täter beginnt jedes Mal Fahrerflucht.

Der Fall Rose

Doch im Mittelpunkt von Selfies steht Carls Assistentin Rose. Seit dem Habersaat-Fall im letzten Buch Verheißung, bei dem sich das Team einer Hypnose unterziehen musste, wird sie von dunklen Erinnerungen an ihre Vergangenheit heimgesucht. Von Carl und Assad unbemerkt kämpft Rose seit dieser Zeit gegen eine Depression an, kann aber den Zusammenbruch nicht verhindern und landet schließlich in der Psychiatrie. Nach und nach werden die Hintergründe für ihre inneren Dämonen enthüllt. Zu erfahren, wie Rose zeitlebens von ihrem sadistischen Vater schikaniert wurde und sich an seinem Tod mitschuldig fühlt, ist sehr emotional. Dieser persönliche Teil hätte für mich noch mehr Raum einnehmen können, geht aber leider fast in dem unübersichtlichen Gespann von Handlungssträngen unter.

Fälle-Wirrwarr

Denn es gibt nicht nur mehrere zusammenhanglose Erzählstränge, die man als Leser parallel verfolgen muss. Zu allem Überfluss hat sich auch noch ein aufdringliches Fernsehteam an die Fersen des Q-Teams geheftet und Carl muss sich mal wieder mit seinem Chef herumschlagen, der die Anzahl der aufgeklärten Fälle missinterpretiert und Personal abbauen will.

Bei dem Fahrerflucht-Fall weiß man von vorne herein, wer dahinter steckt. Eine Sozialarbeiterin in den mittleren Jahren, Typ „Graue Maus“, die zeitlebens immer sehr korrekt gelebt hat. Nachdem Annelie von ihrer Krebs-Diagnose erfährt, schwillt der schon länger schwelende Hass auf junge, arrogante Frauen an, die sich auf Kosten des Staates ein schönes Leben machen. Aber besonders als sich die „Unfälle“ häufen und ein ums andere Mal wiederholen, nimmt das dem Thriller viel an Suspense. Typisch für den dänischen Autor, greift er mal wieder ein sozialkritisches Thema auf. Aber die zwischen den Zeilen und auch mit dem Titel „Selfies“ mitschwingende Kritik an der Selbstdarstellung und Selbstverliebtheit vieler Menschen wird durch die überzeichnete und klischeehafte Darstellung der einzelnen Charaktere wieder zunichte gemacht. Haarsträubend und realitätsfern, als die drei Mädels, die sich auf dem Sozialamt kennengelernt haben, ihrerseits die Ermordung der verhassten Beraterin planen.

Denn völlig überraschend hatte sich ihre Todesangst in den Tagen nach der Diagnose in eine lodernde Wut verwandelt. Eine Wut, die anfangs noch dumpf und diffus war, dann aber sehr schnell ein Ziel gefunden hatte: jene jungen Frauen, die die Gesellschaft so schamlos ausnahmen, sie alle nach Strich und Faden verarschten und Annelie kostbare Zeit und Energie raubten. (Seite 96)

Im Prolog wird die braune Vergangenheit von Roses betagter Nachbarin kurz angerissen und dann erst zum Schluss wieder aufgegriffen. Für meinen Geschmack wurden die einzelnen Handlungsstränge fast gewaltsam zusammengeführt. Da alle Fälle irgendwie miteinander verbunden sind, mussten einige Zufälle herhalten und darunter leidet natürlich die Glaubwürdigkeit.

Fazit

Selfies ist ein solider Thriller, der bei weitem nicht so düster daherkommt wie vorhergehende Bände der Reihe. Trotz einiger Längen und der aufgeführten Kritikpunkte habe ich ihn gerne gelesen, denn Adler-Olsen kann mitreißend schreiben und verfügt über viel Ideenreichtum. Auch der Wortwitz zwischen Vizekommissar Carl Mørck, laut seinem Chef „ein echt sturer und bissiger Hund, den wir da in der Meute haben“ und seinem muslimischen Sidekick Assad hat mich wieder gut unterhalten. Für Fans der Reihe ein Muss, aber Adler-Olsen hat schon mit besseren Plots überzeugt. In diesem Fall leidet der Spannungsbogen durch die Vielzahl der zerklüfteten Handlungsstränge und mich hat auch die einseitige Darstellung der „Sozialhilfeempfänger“ gestört. Political Correctness sieht anders aus.

Zehn Bände Sonderdezernat Q

Die Reihe ist auf zehn Bände angelegt und der Autor verriet, dass in den nächsten beiden Bänden jeweils Assad und Carl im Mittelpunkt stehen werden und es dann ein finales Werk geben wird.

Jussi Adler-Olsen wurde 1950 in Kopenhagen geboren. Er studierte Medizin, Soziologie, politische Geschichte, Filmwissenschaften und war unter anderem als Koordinator der dänischen Friedensbewegung tätig. Der Vater eines Sohnes lebt in der Nähe von Kopenhagen, wo er seinem Hobby, dem Renovieren von alten Häusern, nachgeht. Bekannt ist, dass sein Vater Psychiater war und Jussi in mehreren Anstalten aufwuchs. Er erzählt oft, dass die Anstalten mit ihren Serienkillern und Psychopathen die Schule seines Lebens waren. Hier lernte er auch einen Herrn Mørck kennen, einen Totschläger, der ihm mal ein Kätzchen schenkte und der ihm für seine Figur des Serienermittlers nicht nur den Nachnamen lieferte.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

 

Selfies | Erschienen am 10. März 2017 bei dtv
ISBN 978-3-42328-107-2
576 Seiten | 23.- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

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