Eric Ambler | Die Maske des Dimitrios

Eric Ambler | Die Maske des Dimitrios

Aber es mußte Leute geben, die Dimitrios kannten, […] Leute, die diese Fragen würden beantworten können. Wenn man diese Leute fand und die Antworten bekam, würde man das Material für eine der ungewöhnlichsten Biographien haben.

Latimer stockte das Herz. Das zu versuchen wäre eine ganz absurde Vorstellung. Völlig idiotisch. Falls man es aber versuchte, würde man in Izmir anfangen und den Weg eines Menschen von dort aus weiterverfolgen müssen, wobei die Akte als grobe Orientierungshilfe dienen würde. […] Nicht daß ein Mensch, der bei klarem Verstand war, auf eine derart verrückte Jagd gehen würde – um Himmels willen, nein! Aber es war doch eine amüsante Vorstellung, und falls es in Istanbul etwas langweilig würde… (Auszug Seite 38-39)

Kriminalautor Charles Latimer befindet sich auf einer längeren Urlaubsreise. In Istanbul lernt er den Geheimdienst-Oberst Hakki kennen. Dieser ist ein Fan Latimers und versucht ihm ein eigenes Manuskript unterzujubeln. Um ihn weiter zu beeindrucken, nimmt Hakki Latimer mit auf seine Dienststelle und zeigt ihm dort die Akte „Dimitrios“. Ein Berufskrimineller, schon lange international von der Polizei gesucht. Dimitrios‘ Leiche wurde im Bosporos aufgefunden. Latimer darf sogar dessen Leichnam ansehen. Er ist zunehmend fasziniert von der Person des Dimitrios und beginnt aus literarischem Interesse eine Recherche. Doch was als spielerische Spurensuche beginnt, wird bald ein gefährliches Spiel.

Die Nachforschungen beginnen in Izmir. Dort war Dimitrios 1922 in den Mord an einem Geldverleiher involviert und floh nach Griechenland. Von dort an startete Dimitrios eine kriminelle Karriere quer durch Europa als Beteiligter an Attentatsversuchen, Spion, Zuhälter, Rauschgifthändler. Latimer folgt seinen Spuren. Auf dem Weg nach Sofia begegnet ihm ein gewisser Mr. Peters – wie sich herausstellt, ist dieser auch auf der Suche nach Dimitrios, allerdings aus völlig anderen Gründen als Latimer. Schließlich folgt Latimer Mr. Peters nach Paris, wo die Maske des Dimitrios gelüftet wird.

Die Maske des Dimitrios wurde 1939 als fünfter Roman von Eric Ambler veröffentlicht und ist wohl sein bekanntestes Werk. Der Roman gilt als prägend für das damals noch relativ junge Genre des Thrillers. Er ist äußerst fein konzipiert in einer episodenhaften Struktur mit vielen Dialogen, Abschnitten in Briefform und (inneren) Monologen. Als Hauptfigur fungiert der Volkswirtschaftsdozent Charles Latimer, der sich inzwischen erfolgreich ganz auf das Schreiben von Cosy-Krimis konzentriert. Latimer ist durchaus das, was man sich unter einem englischen Professor der damaligen Zeit vorstellt, distinguiert, etwas bieder, bislang existiert Kriminalität für ihn mehr oder weniger nur in der Fiktion. Damit bleibt Ambler sich bei der Figurenwahl treu, indem er konsequent mehr oder weniger Unbeteiligte, Normalos ins Getümmel wirft und schaut, wie sie darin zurechtkommen.

Der geborene Londoner Ambler arbeitete zunächst in einer Werbeagentur, ehe er sich 1936 nach dem Erfolg seines ersten Romans Der dunkle Grenzbezirk ganz dem Schreiben widmete. Innerhalb seiner sogenannten ersten Periode entstanden bis 1940 sechs Thriller. Im zweiten Weltkrieg diente er für die britische Armee und arbeitete an der Produktion von Aufklärungs- und Propagandafilmen mit. Dadurch wurde er nach dem Krieg auch erfolgreicher Drehbuchautor (Oscarnominierung für das Drehbuch zu „Die letzte Nacht der Titanic“ 1953). 1951 begann seine zweite Periode als Thrillerautor mit dem Roman Der Fall Deltschev, es folgten bis 1981 weitere elf Thriller.

Doch es nützte nichts, ihn mit Begriffen wie „Gut“ und „Böse“ erklären zu wollen. Das waren lediglich barocke Abstraktionen. Die Elemente der neuen Theologie hießen „gutes Geschäft“ und „schlechtes Geschäft“. Dimitrios war nicht böse. Er war logisch und konsequent, so logisch und konsequent im europäischen Dschungel wie das Giftgas Lewisit und die Leichen von Kindern, die bei einem Luftangriff auf eine offene Stadt umkommen. Die Logik von Michelangelos David, von Beethovens Streichquartetten und Einsteins Theorien war durch die Logik des Börsenhandbuchs und Hitlers Mein Kampf ersetzt worden. (Seite 289)

Während sich Ambler in den vorhergehenden Thrillern sehr intensiv mit dem Faschismus und der aufkommenden Kriegsgefahr in Europa beschäftigt, bilden diese Themen in Die Maske des Dimitrios nur einen Teilaspekt. Ambler spricht zahlreiche politische Themen im Roman an: Der griechisch-türkische Krieg 1922 mit dem Massaker von Smyrna (Izmir), die Destabilisierung Bulgariens und Jugoslawiens durch politische Attentate oder Spionage zwischen Italien und Jugoslawien. Grundtenor ist jedoch die unheilvolle Allianz zwischen Großkapital und international organisiertem Verbrechen. Im Roman übernimmt der Journalist Marukakis die Rolle des mahnenden Anklägers („Wenn ein Attentat für das Geschäft gut ist, wird es ein Attentat geben“, Seite 104). Zunächst schüttelt Latimer darüber noch etwas den Kopf, doch er wird im weiteren Verlauf eines besseren belehrt.

Natürlich kann der Roman mit Spannungsbögen und Action heutiger Thriller nicht mehr ganz mithalten, aber das macht er durch einen sehr feinen, eleganten Stil mehr als wett. Insgesamt ein immer noch äußerst lesenswerter Klassiker unter den Politthrillern. Auch die Verfilmung aus dem Jahr 1944 ist ein Klassiker des „film noir“.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

 

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Die Maske des Dimitrios | Erstmals erschienen 1939, die gelesene Ausgabe erschien 1996 im Diogenes Verlag, aktuell nicht mehr lieferbar; im April 2016 erscheint eine Neuauflage bei Hoffmann & Campe
352 Seiten

Weiterlesen: Ambler by Ambler, Autobiografie von Eric Ambler, erschienen im Diogenes Verlag, zurzeit nur gebraucht erhältlich.

Weitere lesenswerte Rezensionen zu Romanen von Eric Ambler im Crimealleyblog.

Diese Rezension erscheint im Rahmen des .17specials Klassiker.

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