Eloísa Díaz | 1981

Eloísa Díaz | 1981

„Um es zusammenzufassen“, sagte Alzada, bevor sich die Situation in eine Seifenoper verwandelte: „Ich bin gewillt, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten, aber dazu brauche ich zumindest einen winzigen Hinweis darauf, dass es sich um ein Verbrechen handeln könnte. Haben Sie irgendetwas für mich?“ […]
„Es ist schwer zu erklären.“ Ihr aufmüpfiger Ton von vorher war wie weggeblasen. Sie beugte sich vor und legte die Hände auf Alzadas Schreibtisch. French Manicure, Verlobungsring mit Diamant, darüber ein goldener Ehering. „Inspektor – ich weiß nicht, ob Sie Geschwister haben – aber falls Sie welche haben, kennen Sie das Gefühl vielleicht? Das Gefühl, sich Sorgen zu machen? Das Gefühl … es einfach zu wissen?“
Alzada kannte es. (Auszug S. 47-48)

Dezember 2001: Argentinien steckt in einer tiefen Wirtschafts- und Finanzkrise. Hoher Inflation. Zuletzt wurden die Möglichkeiten, Bargeld abzuheben, massiv eingeschränkt. Es gibt inzwischen große Proteste gegen die Regierung des Präsidenten de la Rúa. Diese werden zunehmend gewalttätig auf beiden Seiten geführt. Die Polizei in Buenos Aires ist in Alarmbereitschaft, alle verfügbaren Kräfte werden mobilisiert.

So kommt es, dass Inspektor Joaquín Alzada sich plötzlich mit einer Leiche und einer Vermisstenanzeige herumschlagen muss. Alzada gehört eigentlich dem Diebstahlsdezernat an, ist kurz vor der Pensionierung und wird aufgrund vergangener Ereignisse von seinem Chef von solchen Ermittlungen eigentlich ferngehalten. In der Rechtsmedizin begutachten er und sein Hilfsinspektor Estrático die übel zugerichtete Leiche einer jungen Frau, abgelegt in einem Müllcontainer. Wenig später nehmen sie im Kommisariat eine Vermisstenanzeige auf, die man nicht so leicht zu den Akten legen kann. Eine Frau aus einer der reichsten Familien Argentiniens meldet ihre Schwester als vermisst. Die Beschreibung der Vermissten könnte auch auf die Leiche zutreffen, doch Alzada ist noch vorsichtig. Er stellt gemeinsam mit Estrático Nachforschungen an und findet heraus, dass die Vermisste zuletzt in einen Wagen eines Parlamentsabgeordneten eingestiegen war und seitdem nicht mehr gesehen wurde. Alzada wird zurückgepfiffen, eigentlich soll er gar nichts weiter unternehmen. Der Polizeipräsident, ein alter Freund, befiehlt ihm sogar, den Fall abzugeben, doch die Ereignisse rundherum beeinflussen Alzadas Entscheidungen.

Denn vor genau zwanzig Jahren gab es bereits ein einschneidendes Ereignis in Alzadas Leben. Nach und nach erfährt man die Details: Alzada war damals ein aufstrebender Inspektor in der Polizei. In der damaligen Militärdiktatur versuchte er, sich aus allem herauszuhalten, sich nicht an Menschenrechtsverletzungen zu beteiligen. Dafür hat er aber auf aktiven Widerstand gegen das Regime verzichtet, ganz im Gegensatz zu seinem kleinen Bruder Jorge, Dozent und Gewerkschafter. Er mischt in der Opposition mit, Alzada versucht ihn immer wieder zu warnen, hat ihn auch das eine oder andere Mal herausgeboxt. Doch dann, in einer Nacht Anfang Dezember 1981, kommen sie seinen Bruder holen.

Zwei Ereignisse aus der jüngeren argentinischen Geschichte verbindet die Autorin Eloísa Díaz in ihrem Debütroman: Die Militärdiktatur Mitte der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre mit dem Schicksal der Desaparecidos und die Argentinienkrise um die Jahrhundertwende, kulminierend Ende 2001. Díaz, als Tochter argentinischer Eltern, ist übrigens im Ausland geboren und aufgewachsen und hat ihren Roman in englischer Sprache verfasst.

Verbunden werden die Ereignisse in den Personen des Juaquín Alzada, Inspektor der Polizei, seiner Frau Paula (die eher im Hintergrund bleibt und doch merkt man an verschiedenen Stellen, dass sie die Familie in der Spur hält), und noch einer dritten Person: Sorolla, ihr Neffe, der bei den beiden aufgewachsen ist, nachdem seine Eltern 1981 verschleppt wurden. Die Autorin erzählt in Rückblenden von zwei Tagen aus dem Jahr 1981: Jorge Alzada seine Frau Adela werden von der Geheimpolizei aus ihrer Wohnung verschleppt und Juaquín versucht alles, um das Schicksal seines Bruders zu klären, wagt sich sogar (ein sehr beeindruckendes Kapitel) in das berüchtigte Foltergefängnis ESMA. Und doch muss sich Juaquín am Ende fragen, ob er alles getan hatte, um das Ganze zu verhindern. Zwanzig Jahre später ist scheinbar wieder eine ähnliche Situation eingetreten, die Menschenmassen demonstrieren gegen die Regierung, die Staatsgewalt schlägt zurück. Droht erneut eine Diktatur? Wie wird sich Juaquín, der sich schon innerlich auf die Rente vorbereitet hat, diesmal verhalten? Und was für einen Eindruck hinterlässt er bei seinem Ziehsohn Sorolla, der als junger Mann sich natürlich den Demonstranten anschließen will? Eloísa Díaz bleibt dabei fast ausschließlich bei der Perspektive von Juaquín Alzada, dessen Gedanken hier und da auch in kursiver Schrift einfließen. Die erzählte Zeit im Jahr 2001 beschränkt sich auf einen einzigen Tag, den 19.12.2001, Höhepunkt der Proteste des Cacerolazo gegen die Regierung de la Rúa.

So wird dieser Roman, der mit einem Kriminalfall begonnen hatte, immer mehr zu einer Familien- und Gesellschaftsstudie um die Fragen von Vergangenheitsbewältigung, um Haltung und Selbstachtung in Zeichen gesellschaftlicher Krisen und Umwälzungen. Dabei ist der Roman vor allem bei den Rückblicken ins Jahr 1981 packend. Allerdings wird der Krimiplot im Jahr 2001 dafür zum Ende hin ein wenig stiefmütterlich behandelt. Zudem will die Autorin hin und wieder dem Leser zu viel erklären. So überzeugt der Roman dann auch weniger in den genretypischen Teilen, sondern eher in der Beleuchtung der familiären Situation der Alzadas und in der Reflexion auf die gesamte Gesellschaft Argentiniens in Zeiten der Krise. Insofern ein interessanter und lesenswerter Roman mit leichten Abzügen in der B-Note.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

1981 | Erschienen am 02.06.2021 im Verlag Hoffmann & Campe
ISBN 978-3-455-01094-7
320 Seiten | 23,- €
Originaltitel: Repentance (Übersetzung aus dem Englischen von Mayela Gerhardt)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

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