Chan Ho-Kei | Die zweite Schwester

Chan Ho-Kei | Die zweite Schwester

Das hier war das richtige Leben, kein Roman, kein hinterhältiger, als Suizid verkleideter Mord. So was passierte im richtigen Leben nicht, und wenn doch, dann nicht in dem eines ganz normalen, fünfzehn Jahre alten Mädchens. (Auszug Seite 45)

Mit einem dramatischen Auftakt zieht Chan Ho-Kei den Leser schon auf den ersten Seiten in die Geschichte hinein. Die junge Nga-Yee Au kommt von der Arbeit nach Hause und trifft in ihrem Hongkonger Wohngebiet auf eine Menschenansammlung und ein Polizeiaufgebot. Nach dem frühen Tod der Eltern lebt sie hier mit ihrer kleinen Schwester in einer Wohnung in einem riesigen Hochhaus. Und es ist tragischerweise tatsächlich die 15-jährige Siu-Man, die sich aus dem zwanzigsten Stockwerk in den Tod gestürzt hat.

Es stellt sich heraus, dass das Schulmädchen Opfer von Cybermobbing geworden war. Einige Monate zuvor war sie in der U-Bahn sexuell belästigt worden. Als sie das zur Anzeige brachte, wurde der Täter verhaftet, ein Familienvater, der die Tat bis zum Schluss bestritt. Daraufhin begann in den Sozialen Medien eine beispiellose Hetz- und Verleumdungskampagne.

„Ehrlich gesagt, Leute vermöbeln ist inzwischen ziemlich aus der Mode geraten. Kein Kind wäre heutzutage noch so blöd, etwas zu tun, das Spuren hinterlässt. Mobbing ist viel einfacher: verhöhnen, Gerüchte streuen, herabsetzen. …“ (Auszug Seite 484)

Nach dem Verlust ihres letzten Familienmitgliedes sucht die verzweifelte Nga-Yee Trost in der Aufklärung des vermeintlichen Selbstmordes und nimmt Kontakt zu einem geheimnisvollen Hacker namens N auf, um herauszufinden, wer ihre Schwester in den Tod getrieben hat. N ist ein mürrischer, aber hochintelligenter IT-Spezialist, der sich nur zögernd und nach Bezahlung Nga-Yees sämtlicher Ersparnisse an die Arbeit macht. Mit seiner schroffen Art ist der Einzelgänger die typische Figur des Antihelden, den man erst mal als Scheusal wahrnimmt, der sich aber zum Ende hin als Sympathieträger entwickelt. Mit genialen Hackertricks fördert der Exzentriker Dinge zutage, mit denen Nga-Yee nie gerechnet hätte, denn sie hatte von den Seelennöten ihrer Schwester nur bedingt Ahnung. Auf ein Studium hatte die Bibliotheksangestellte schweren Herzens verzichtet und immer hart gearbeitet, um für sich und Siu-Man zu sorgen. Von der digitalen Welt hat sie wenig Ahnung, so dass N ihr praktisch alle nötigen IT-Kenntnisse verständlich vermitteln muss. Ein guter Trick, um auch den nicht so computeraffinen Teil der Leserschaft mitzunehmen.

Rachethriller und Gesellschaftsroman

Ungefähr ab der Mitte des Buches wird klar, wer der Schuldige ist. Ab da entfaltet sich der Kriminalroman zu einem Rachethriller, in dem sich Nga-Yee entscheiden muss, ob sie Vergeltung mit den gleichen grausamen Mitteln will und das ist leider nicht so meins. Trotzdem muss man sagen, dass das der Spannung gar keinen Abbruch tat, es kommt immer wieder zu überraschenden Volten und auch die Motive liegen weiter im Dunkeln. Der Autor legt gekonnt einige falsche Fährten, spielt mit den Vermutungen der Leser und führt uns geschickt hinters Licht.

Der Schreibstil ist flüssig, aber sehr einfach gehalten und ich hatte zwischendurch schon den Eindruck, ich lese ein Jugendbuch. Auch einige Dialoge wirkten auf mich sehr konstruiert, nur dafür da, den Leser über wichtige Zusammenhänge zu informieren. Die Konzentration auf den wendungsreichen Plot lässt wenig Raum für die Psychologisierung der Charaktere, die ich alle als eher blass empfunden habe.

„Die zweite Schwester“ ist aber auch ein Gesellschaftsroman. Indem der Autor interessante Einblicke in die Lebensverhältnisse des hochmodernen Hongkongs offenbart, entwirft er ein entlarvendes Panorama der Wirtschaftsmetropole und ehemaligen britischen Kolonie. Nga-Yee stammt aus einfachen Verhältnissen und ihr Leben ist geprägt durch Arbeit und Sparsamkeit, um irgendwie über die Runden zu kommen. So muss sie zum Beispiel nach dem Tod ihrer Schwester ihre Wohnung verlassen, da Alleinstehenden nur zwanzig Quadratkilometer Wohnraum zustehen. Wenn Ho-Kei sich mit dem Zustand der Gesellschaft beschäftig, blitzt auch immer leise Kritik zwischen den Zeilen auf.

Der Autor

Chan Ho-Kei wurde 1975 in Hongkong geboren und lebt heute in Taiwan. Er arbeitete unter anderem als Programmierer, Computerspiele-Entwickler und Manga-Lektor. Mit seinem Debüt „Das Auge von Hongkong“ gelang ihm 2018 der internationale Durchbruch und er gewann zahlreiche Preise.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Die zweite Schwester | Erschienen am 18. März 2021 im Atrium Verlag
ISBN 978-3-85535-111-4
592 Seiten | 25.- Euro
Originaltitel: 網內人 | Second Sister (Übersetzung aus der englischen Übersetzung von Sabine Längsfeld)
Bibliografische Angaben

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