Daniel Woodrell | In Almas Augen

Daniel Woodrell | In Almas Augen

Vor dem nahen Himmel türmte sich eine orange strahlende Helligkeit auf, Hitze brüllte, während die Feuerzungen in der Nachtbrise aufflammten und größer wurden. Der orangefarbene Turm neigte sich, warf sich von einer Seite zur anderen; die Laute, die die Tanzenden von sich gaben, drangen als anonyme Schreie an weit entfernte Ohren und folterten jene Menschen, die näher dran waren, mit ihren klar vernehmlichen Klagen. Manche behaupteten, Abschiedsrufe der Opfer gehört zu haben, die durch die Luft flogen oder im Schutt steckten, und einiges davon dürfte wohl stimmen. Viele helfende Mitbürger krochen durch die Flammen und zerrten an den Blasen werfenden, qualmenden Körpern, die sich später als die Leichen von Bekannten herausstellten, von Schwestern, Onkeln, Söhnen und Freunden. (Auszug Seite 20-21)

Alma DeGeer Dunahew ist eine alte, wortkarge Frau, die ihr ganzes Leben in äußerst bescheidenen Verhältnissen gelebt hat. Im Sommer 1965 hat sie ihren Enkel Alek zu Gast und sie erzählt ihm von dem einschneidenden Ereignis ihres Lebens und der Kleinstadt West Table in Missouri: Der Brand der Arbor Dance Hall im Jahre 1929. Ein Verbrechen, das immer noch ungesühnt ist.

Autor Daniel Woodrell beschrieb einst seinen 1996 erschienenen Roman „Give Us A Kiss“ / Stoff ohne Ende mit der Phrase „a country noir“ und schon war ein ganzes Subgenre geboren. Woodrell wollte den Slogan später gerne zurücknehmen, aber da war es bereits zu spät. Die Bezeichnung passte einfach zu gut für neue (Kriminal-)Romane, die ihre Düsternis und Feindseligkeit eben nicht aus der Urbanität der Großstädte, sondern aus der unwirtlichen Natur und Landschaft und der wirtschaftlichen Not der Landbevölkerung ziehen. Für Näheres zum Genre kann ich nur auf diesen Essay vom Schneemann verweisen, der seinerseits noch Tipps zum Weiterlesen gibt. Mein erstes Mal mit dem Genre und dem Autor fand vor knapp zwei Jahren statt: Winters Knochen hat mich damals echt umgehauen, seitdem führe ich das Werk in meinen persönlichen Top Ten. Ein grimmiges, raues White-Trash-Drama mit der großartigen Hauptfigur Ree Dolly. Nun also mein zweites Date mit Daniel Woodrell.

Wir sind – natürlich (schließlich kommt Woodrell von dort und lebt dort immer noch) – in den Ozarks in Missouri, einer ländlichen, bergigen und waldreichen Region im Mittleren Westen der USA. Der Begriff Hillbilly wurde ursprünglich für die Bewohner der Ozarks geprägt. Die (fiktive) Kleinstadt West Table ist im Sommer des Jahres 1929 Schauplatz einer großen Katastrophe: Während einer populären Tanzveranstaltung kommt es in der Arbor Dance Hall zu einer Explosion. 42 Menschen sterben, zahlreiche weitere werden schwer verletzt. Es gibt kaum eine Familie in der Stadt, die nicht von der Katastrophe betroffen ist. Doch eine Aufklärung dieser Katastrophe findet nie statt und trotz zweier Untersuchungskommissionen kommt der Verdacht auf, dass dies auch gar nicht gewollt ist.

Dies alles erzählt Woodrell allerdings nur indirekt und alles andere als chronologisch. Er entwirft vielmehr in Episoden ein Panorama dieser Kleinstadt und seiner Bewohner und insbesondere der Familie des (zeitweiligen) Ich-Erzählers Alek und seiner Großmutter Alma, einer klassischen Außenseiterin. Vater Trinker, Mutter zu schwach, sie selbst ist Analphabetin und hat ein Leben lang als Dienstmagd geschuftet.

Alma hatte die Schule bis zum Ende der dritten Klasse besuchen dürfen, dann musste sie ein paar Jahre auf den Feldern ihres Vaters arbeiten, bevor sie den Weg in die Stadt fand und Wäscherin, Köchin und Dienstmagd wurde. Sie verlor zwei Söhne, ihren Ehemann, ihre Schwester und verdiente wenig. Meist stand sie nur einen zerschlagenen Teller oder ein lautes Widerwort vor der völligen Armut. Sie war ängstlich und wütend, führte ein Leben voller Groll, voller Anfeindungen und kalter Erinnerungen an all jene, die uns je geärgert oder etwas angetan hatten. Alma DeGeer Dunahew war mit ihrer verkniffenen, feindlichen Natur, ihren dunklen Obsessionen und ihrem grundlegenden Verlangen nach Rache das große rote Herz unserer Familie, das wir geheim hielten und das uns Kraft gab. (Seite 15)

Insbesondere der Verlust ihrer Schwester Ruby in der Nacht der Katastrophe nagt an Alma und sie ist sich sicher, wer ihren Tod zu verantworten hat. Doch das will in dieser Kleinstadt niemand wissen. Hier halten einige wenige das Heft in der Hand, eine Art Feudalgesellschaft hat sich etabliert, in dem der Großteil der Bevölkerung nur die Brosamen erhält. Dieses West Table ist sozusagen das Gegenteil des American Dream. Hier wird hart geschuftet und trotzdem kommt man kaum über die Runden und viele Chancen sind schon mit der Geburt in eine Familie verwirkt.

Daniel Woodrell, der „Poet des White Trash“ (Martin Compart), beschreibt kraftvoll und emotional das Leben einer gebrochenen Frau, einer brüchigen Familie und einer zerrissenen Kleinstadt. Dabei legt er auch die Anatomie eines Verbrechens frei. Dies ist auch der Grund, warum dieses Buch, das viele nicht als Krimi bezeichnen würden, zurecht auf Krimibestenlisten geführt wird.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

 

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In Almas Augen | Erschienen am 10. Februar 2014 im Liebeskind Verlag
ISBN 978-3-95438-021-3
192 Seiten | 16,90 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

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