Kategorie: Gunnar Wolters

Patrick Radden Keefe | Sage nichts – Mord und Verrat in Nordirland

Patrick Radden Keefe | Sage nichts – Mord und Verrat in Nordirland

Der Nordirlandkonflikt ist für Außenstehende ein äußerst komplexes Thema. Oberflächlich waren die Frontlinien klar: Katholiken gegen Protestanten, Befürworter eines vereinten Irland gegen Unionisten, die den Verbleib im Vereinigten Königreich wollten. Die Polizei und das Militär, dass die britische Staatsmacht durchsetzte. Doch innerhalb des Konflikts gab es so viele Nuancen, Schattierungen, Splittergruppen, dass man schnell den Überblick verliert. Selbst heute, mehr als 25 Jahre nach dem Karfreitagsabkommen ist die Lage nicht konfliktfrei. Spätestens der Brexit, aber auch die nicht wirklich aufgearbeitete Vergangenheit lassen alte Konfliktlinien nochmal ins Bewusstsein kommen.

Für die Kriminalliteratur war Nordirland ein reizvoller Schauplatz. Auch mich hat der Konflikt nochmal besonders interessiert, vor allem durch die Sean-Duffy-Reihe von Adrian McKinty. Eine sensationelle Hauptfigur, ein Katholik in der protestantischen nordirischen Polizei, jung, intelligent, aufmüpfig, testosterongesteuert inmitten der Troubles der 1980er. Von McKinty als Ich-Erzähler mit viel schwarzem Humor erzählt. Spannend auch der Ansatz von Eoin McNamee, der die Konflikte als Hintergrundrauschen nutzt, um von Verbrechen in Nordirland zu erzählen. Etwa über einen Psychopathen in „Belfaster Auferstehung“, der die Gewalt und die Strukturen nutzt, um seine Gewaltfantasien auszuleben. Aber auch nach dem Friedensabkommen von 1998 bleibt das Setting interessant. Beispielsweise bei Stuarts Nevilles „Die Schatten von Belfast“, in dem ein einstiger gefürchtete Killer der IRA als psychisches Wrack aus der Haft freikommt. Die einst von ihm Ermordeten manifestieren sich zu anklagenden Schatten in seinem Bewusstsein. Und nun stellt er fest, dass diejenigen, die ihn zu den Morden angestiftet haben, durch das Abkommen ganz hervorragend weggekommen sind.

Doch noch interessanter als Crime Fiction kann es werden, wenn man wahre Geschichten von den Troubles erzählt. Der Investigativjournalist Patrick Radden Keefe hat sich dieser Sache angekommen. In seinem erzählerischen Sachbuch „Sage nichts – Mord und Verrat in Nordirland“ versucht er einen eigenen Blick auf den Nordirlandkonflikt und behandelt vor allem die Fragen nach dem Erbe des Konflikts, die schleppende Aufarbeitung, das immer noch große Schweigen über die Taten und die Fragen nach der Rechtfertigung für all die Toten und Verletzten.

Keefe versucht nicht, die ganze Geschichte des Konflikts chronologisch zu erzählen. Er lässt sogar die Seite der Unionisten weitgehend außen vor. Sein Buch beginnt mit zwei Ereignissen, die den roten Faden bilden. Im Dezember 1972 verschwand die 38jährige Jean McConville. Vermummte Personen holten sie aus ihrer Sozialwohnung in den berüchtigten Divis Flats, zurück blieben zehn Kinder. McConville wurde als Verräterin, Kollaborateurin bezeichnet. Als eine der wenigen Personen blieb sie allerdings über Jahrzehnte verschwunden, ihre Leiche tauchte nie auf, niemand übernahm Verantwortung für ihr Verschwinden. Zum anderen Delours Price, eine junge Frau aus einer republikanischen Familie, die sich zusammen mit ihrer Schwester schon jung der IRA anschließt und mit anderen einen Bombenanschlag 1973 in London durchführt, der sie allerdings in Haft bringt. Sie wird eine der ersten, die in der Hungerstreik treten, der später noch wirkungsvoller als Instrument der IRA eingesetzt wird. Sie spielte aber auch eine Rolle beim Verschwinden von Jean McConville.

Über diese und weitere Personen nähert sich das Buch dem Konflikt und den beteiligten Personen an. Er erzählt dabei von der Radikalisierung des Protestes und dem hohen Blutzoll, der uneingeschränkt eingeforderten Loyalität und der zunehmenden Politisierung bis hin zum Karfreitagsabkommen. Keefe erzählt von Traumata, nicht nur der Hinterbliebenden, auch von den alten Kämpfern, die sich nun fragen, wofür damals gekämpft wurde und ob es eine Rechtfertigung gibt. Er erzählt aber auch vom Schweigen, von einer Omertá, die eigentlich bis heute gilt und jeden, der sie bricht, in große Gefahr bringt. Das wird im Buch an einem Oral History-Projekt deutlich, dass Historiker aus Boston initiiert hatten. Es wurden zahlreiche Interviews mit Beteiligten über die Zeit des Terrors geführt, mit dem Versprechen, diese erst nach deren Tod auszuwerten und öffentlich zu machen. Doch die Existenz des Projekts wurde bekannt, es wurde die vorzeitige Herausgabe von Interviews gerichtlich durchgesetzt und Personen damit wieder in die Schusslinie gebracht.

Patrick Radden Keefe gelingt es, die Geschichten auch der Täter meist wertungsfrei zu erzählen. Es kommen Mörder und Terroristen zu Wort, deren Hintergründe offenbart werden und deren Taten nicht verschwiegen werden, doch sie erhalten Gelegenheit zur Reflexion und Reue. Es gibt allerdings eine Person, die Keefe nicht pfleglich behandelt, sondern deren fehlendes Verantwortungsbewusstsein mehrfach präsent ist: Gerry Adams, langjähriger Chef der Sinn Féin, des politischen Arms der IRA und späteren Garanten des Karfreitagsabkommens. Adams hat bis heute immer nur eine politische Rolle während der Troubles für sich reklamiert und immer bestritten, Mitglied der IRA gewesen zu sein. Doch die Aussagen ehemaliger Mitstreiter zeichnen das Bild eines Mannes, der tief in die militärischen Strukturen involviert war, angeblich bis hin zu Mordaufträgen.

„Sage nichts“ ist ein fesselndes Stück Zeitgeschichte. Autor Keefe gelingt es, über wenige Personen ein dichtes Bild der Troubles und vor allem der verbliebenden Traumata und mangelnden Aufbereitung aufzuzeigen. Das Buch wurde zuletzt als neunteilige Serie verfilmt und ist seit Ende 2024 auf Disney+ verfügbar.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Sage nichts – Mord und Verrat in Nordirland | Erschienen am 24.07.2024 bei Hanserblau
ISBN 978-3-446-27939-1
464 Seiten | 34,- €
Originaltitel: Say Nothing: A True Story of Murder and Memory in Northern Ireland |Übersetzung aus dem Englischen von Pieke Biermann
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Best of 2024

Best of 2024

Bevor wir ins frische Krimijahr starten, werfen wir natürlich traditionell einen Blick zurück auf das vergangene Jahr und präsentieren euch unsere Lieblingskrimis aus 2024. Wir haben unser Pensum aus dem Vorjahr nicht ganz halten können, aber dennoch genug Auswahl, um euch jeweils eine Top 3 zu präsentieren. Beginnen wir mit Andys Empfehlungen.

Andys Top 3 in 2024

Da sind wir wieder am Jahresende und werfen einen Blick zurück auf das Lesejahr 2024. Quantitativ gar nicht so schlecht, noch nie habe ich so viele Bücher gelesen und gehört wie dieses Jahr. Es hätten noch mehr sein können, aber einige Sportereignisse wollten auch konsumiert werden. Qualitativ leider viel Durchschnittliches, besonders im Hörbuch-Segment habe ich noch nie so viel abgebrochen. Aber es gab auch verlässlich Gutes wie Don Winslows letzten Roman und Abschlussband seiner Mafia-Trilogie „City in Ruins“, in dem er seinen Helden auf eine Reise über Las Vegas bis zum Ursprung Rhode Island schickt. Oder neu Entdecktes wie „Das Haus am Gordon Place“, ein spannender Spionage-Thriller auf zwei Zeitebenen, der uns in die Abwasserkanäle des Wiener Untergrunds führt von Karina Urbach. Eine Autorin, die ich definitiv im Auge behalten werde. Die Höchstwertung mit voller Punktzahl gab es tatsächlich nur einmal und zwar für …

Hervé Le Corre – Durch die dunkelste Nacht
Der in Frankreich bereits mehrfach preisgekrönte Autor hat einen realistischen Polizeiroman vorgelegt, in dem wir drei Menschen durch die Nacht begleiten, deren Schicksale sich im Laufe der Seiten kreuzen. Selten passte ein Titel besser. Es wird immer düsterer und bitterer mit nur wenigen Hoffnungsschimmern. Trotzdem hat mich der Thriller in den Bann gezogen, klebte ich aufgrund der Sprachkraft an den Seiten. Das lag an den präzisen Dialogen, einfühlsamen Beobachtungen, kein Wort wollte ich missen. Ein außergewöhnlicher Roman von hoher literarischer Substanz. Gnadenlos und desillusioniert.

Rebecca F. Kuang – Yellowface
Ganz anders dagegen hat mich der rasante Verlagswelt-Thriller des aktuellen Shooting-Stars der amerikanischen Buchwelt überrascht, in dem eine erfolglose Autorin das Werk einer verstorbenen Autorin als ihres ausgibt und wie nach Riesenerfolg plötzlich die Stimmung kippt. Wie lässig Kuang Themen wie Aneignung fremder Werke, Alltagsrassismus und kulturelle Aneignung zur Sprache bringt, dazu die Einblicke in die Verlagswelt und für mich besonders interessant in die Rezensionskultur der Sozialen Medien hat mich begeistert, auch wenn die Geschichte zum Ende hin etwas schwächelt. Pointiert und scharfzüngig.

James Kestrel – Bis in alle Endlichkeit
Zum Jahresende noch ein Highlight, dessen ausführliche Buchbesprechung im neuen Jahr nachgeliefert wird. Ganz anders als „Fünf Winter“ hat mich der Autor trotzdem wieder mit seinem bildhaften Erzählstil begeistert und scheint sich zu einem neuen Lieblingsautor zu mausern. Wir haben es hier mit einem klassischen Hardboiled zu tun, in dem der Autor die traditionelle Detektivfigur in die Gegenwart und damit in ein modernes Setting transferiert. Atemlos habe ich die Ermittlungsarbeiten des coolen Einzelgängers in San Francisco verfolgt und bei den Verfolgungsjagden mitgefiebert. Lässig und temporeich.

Gunnars Top 3 in 2024

Rein intuitiv würde ich sagen, dass ich schon bessere Lesejahre hatte als 2024. Viele Highlights hatte ich ausnahmsweise bei Sachbüchern (außerhalb des Krimibereiches), die ich in diesem Jahr immer mal gelesen habe. Hinzu kommen zwei starke Romane, die ich im Januar und Februar gelesen habe, die aber schon 2023 erschienen sind und daher im meiner Wertung nicht mehr auftauchen. Doch „Der letzte Wolf“ von S.A. Cosby und „Primat des Überlebens“ von Les Edgerton seien an dieser Stelle trotzdem nochmal empfohlen. Ebenfalls nochmal ans Herz legen möchte ich die Reihe um die Skelfs, Bestattungsunternehmerinnen und Privatdetektivinnen aus Edinburgh, von Doug Johnstone, von der im November Band 3 erschienen ist. Ebenso wie bei Andy habe auch ich nur einmal die volle Punktzahl vergeben, sodass dies hier eindeutig mein Krimi des Jahres ist:

Lavie Tidhar – Maror
Ein epischer Roman voller Wucht und Härte, in der mehrere Jahrzehnte der israelischen Staatsgeschichte neu erzählt werden, nämlich als Geschichte von Korruption, Realpolitik und Verwebungen zwischen staatlichen Akteuren und organisiertem Verbrechen. Wie eine Spinne im Netz sitzt der Kriminalbeamte Cohen. Eine bittere Reise durch die israelische Geschichte mit bemerkenswerter Akribie in Sachen Schauplätze, historische Ereigisse und Popkultur. Der israelische Autor Lavie Tidhar hat diesen Roman in englischer Sprache verfasst. Eine Übersetzung ins Hebräische gibt es bislang nicht, der Autor selbst hält sein Land dafür noch nicht reif.

Alan Parks – Die April-Toten
Eine Reihenfortsetzung, auf die ich mich in diesem Jahr sehr gefreut habe und die meine Erwartungen nicht enttäuscht hat, war dieser vierte Band um den Glasgower Cop Harry McCoy in den 1970er Jahren. Zunächst erschienen die ersten drei Bände bei Heyne Hardcore, nach der Schließung des Verlags war unklar, was mit den weiteren Büchern der Reihe passiert. Nun hat die Reihe eine Heimat im Polar Verlag gefunden. Band 4 führt den Reiz der bisherigen Bände nahtlos weiter: Ein hartgesottener Bulle, die düsteren Seiten Glasgows, staubtrockene Dialoge, temporeich, schwarzer Humor und viele historische und popkulturelle Anleihen. Harry McCoy is back und das ist gut so.

Holger Karsten Schmidt – Finsteres Herz
Zuletzt bringe ich noch einen deutschsprachigen Autor in die Top 3. Holger Karsten Schmidt hat nach die Toten von Marnow erneut seine Ermittler Mendt und Elling zum Einsatz gebracht und einen sehr klugen und packenden Krimi über Menschenhandel geschrieben. Besonderer Kniff sind die Actionszene mit dem Schusswechsel in einem Safe House direkt zu Beginn des Buches und die zahlreichen Rückblenden und Zeitsprünge, denn die Protagonisten sind aufgrund derAnfangsszene schnell außer Gefecht gesetzt. Diese Roman wurde auch vom Autor selbst fürs Fernsehen adaptiert und lieferte die vielleicht beste öffentlich-rechtliche Krimiserie des Jahres ab.

 

Weiterlesen I: Die Preisträger des Deutschen Krimipreises 2024

Weiterlesen II: Die Krimijahresbestenliste 2024

Holger Karsten Schmidt | Finsteres Herz (Band 2)

Holger Karsten Schmidt | Finsteres Herz (Band 2)

Seit langem ist Holger Karsten Schmidt einer der erfolgreichsten Drehbuchautoren in Deutschland. Der mehrfache Grimme-Preisträger und Fernsehkrimi-Preisträger (u.a. Für „Mord in Eberswalde“) hielt sich lange Zeit mit Romanveröffentlichungen zurück. Der große Erfolg auch auf diesem Segment stellt sich mit der Reihe „Lost in Fuseta“ ein, die er unter dem Pseudonym Gil Ribeiro verfasst. Mitten in diese erfolgreiche Reihe fiel 2020 der Roman „Die Toten von Marnow“ samt dazugehörigem Drehbuch und erfolgreichem TV-Mehrteiler (ebenfalls Gewinner des Deutschen Fernsehkrimipreises). In diesem Roman, angesiedelt in Mecklenburg-Vorpommern, ermitteln die Kommissare Lona Mendt und Frank Elling in mehreren Morden, die offenbar in Zusammenhang mit Medikamententests westdeutscher Pharmafirmen in der ehemaligen DDR stehen. Schmidt hat sich eine Fortsetzung offengelassen und veröffentlichte nun einen zweiten Band – „Finsteres Herz“. Die TV-Ausstrahlung erfolgt ab dem 07.12.2024.

Lona erspürte das Erstarren Sarahs direkt neben sich. Als wäre das Mädchen binnen eines Wimpernschlags erfroren. Selbst seine Gesichtsmuskeln wirkten versteinert.
Lona sah, wie sich ein dunkler Fleck im Schritt der kleinen Zeugin bildete, der sich ausbreitete. Genau der Moment, in dem Bennat von Elling zu Sarah schaute und es ebenfalls bemerkte. (Auszug E-Book Pos. 189)

Mit einem Paukenschlag führt der Autor in diesen Roman ein: Silvester 2006. Ein Ferienhaus im Schnee an einem Mecklenburger See. Ein Zeugenschutzhaus. Lona Mendt, Frank Elling und ihr Chef Mertens betreuen drei Zeugen im Zusammenhang mit Menschenhandel und mehreren Morden, darunter die 12jährige Sarah aus Bulgarien. An diesem Tag sollen die Zeugen eine Aussage bei einer Richterin in Rostock machen. Dazu werden sie von einem Fahrdienst der Bereitschaftspolizei abgeholt. Doch mitten in der Abholung merkt die junge Zeugin, dass dies keine echten Polizisten sind. Es kommt zu einem mehrminütigem Schusswechsel, bei dem am Ende zwei Zeugen und Mertens sowie mehrere Angreifer tot sind, Mendt und Elling schweben am Rande des Todes. Doch es ist ihnen dennoch geglückt, dass Sarah fliehen konnte. Nun sucht nicht nur die Polizei nach der jungen Zeugin.

Staatsanwalt Rost beauftragt Hagen Dudek vom LKA und Maja Kaminski von der Bundespolizei mit den weiteren Ermittlungen. Es gibt offensichtlich ein undichte Stelle bei der Rostocker Polizei und Mendt und Elling hatten in weiser Voraussicht offizielle dienstliche Unterlagen über die Zeugen vernichtet. Zudem befinden sich beide im künstlichen Koma. Dudek und Kaminski müssen die Ereignisse ganz von vorne aufrollen, aber gleichzeitig stehen sie unter engem Zeitdruck, Sarah als erste zu finden.

Das Besondere an diesem Kriminalroman ist die Konstruktion der zeitlichen Ebenen. Der Leser verfolgt nicht nur die Ermittlungen von Dudek und Kaminski in weiterer chronologischer Reihenfolge (wobei bald klar wird, dass einer der beiden seine eigende Agenda verfolgt), sondern der Autor springt auch einige Wochen vor die Silvesternacht zurück und schildert die Ermittlungen von Mendt und Elling, die zu dieser Situation geführt hat. Da sich Dudek und Kaminski auf Mendts und Ellings Spuren bewegen, kommt es dazu, dass innerhalb weniger Buchseiten dieselben Zeugen befragt werden. Diese zeitlichen Sprüngen sind ungewöhnlich, machen aber einigen Reiz an diesem Roman aus.

Schmidt gelingt ein wirklich starker Kriminalroman, der nicht nur mit einem aktuellen Thema wie dem Kampf gegen organisierten Menschenhandel und der schwierigen Rolle der Ermittlungsbehörden punktet, sondern insgesamt einen sehr durchdachten Spannungsaufbau abliefert. Traditionell als Drehbuchschreiber sind die Dialoge sehr überzeugend und nicht zuletzt beeindruckt auch nebenbei die akribische Zeichnung der wichtigsten Figuren, deren private Dinge sich harmonisch in die Story einfügen. Was den deutschsprachigen Kriminalroman betrifft, ist „Finsteres Herz“ mit Sicherheit einer der Highlights diesen Jahres.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Finsteres Herz | Erschienen am 10.10.2024 im Verlag Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-00616-2
464 Seiten | 17,- €
E-Book: ISBN: 987-3-462-31245-4 | 14,99 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezension zu „Die Toten von Marnow“

Morgan Audic | Das kalte Schweigen der See

Morgan Audic | Das kalte Schweigen der See

Fangen wir mal ausnahmsweise mit einem kleinen Rant an. Der betrifft den deutschen Titel des Buches und das Cover. Als Nicht-Autor stelle ich es mir schwierig vor, einem Buch seinen Titel zu geben. Wenn es allerdings aus einer fremden Sprache übersetzt wird, hat der Autor natürlich schon eine Vorgabe gegeben, an die man sich allerdings nicht halten muss. Wenn man in der deutschen Übersetzung vom Originaltitel abweicht, sollte man allerdings gute Gründe dafür haben. Ich kann es vorwegnehmen, die gab es hier aus meiner Sicht nicht. Autor Morgan Audic gab seinem Thriller den wie ich finde wunderbaren Titel „Personne ne meurt à Longyearbyen“, „Niemand stirbt in Longyearbyen“. Ein Titel, der zum einen mit dem Inhalt verknüpft ist, denn es wird erläutert, dass man auf Spitzbergen Todesfälle tunlichst vermeidet. Die Einwohner bleiben meist nur temporär auf diesem kargen Stück Land im Nordpolarmeer, es gibt nur wenige wirklich alte Menschen, ernste Krankheitsfälle werden ans Festland nach Norwegen gebracht. Und dennoch zeigt der Plot, dass sehr wohl jemand stirbt, in diesem Fall gewaltsam – und führt den Titel charmant ad absurdum. Der deutsche Titel „Das kalte Schweigen der See“ kann zwar behaupten, dass es im Buch um Meeresforschung geht, ist aber letztlich ein langweiliges Marketingkalkül. Dass noch durch den furchteinflössenden Eisbären auf dem Cover ergänzt wird (die französische Ausgabe macht es leider auch). Ja, ein Eisbär kommt am Anfang prominent vor, aber das wirkt auf mich etwas plump. Echt schade, dass der Verlag hier Cover, Titel und Inhalt nicht angemessen zusammenhalten kann

Nun aber zum Inhalt. Longyearbyen auf Spitzbergen, eine der nördlichsten Siedlungen der Erde. Früher wurde vor allem Kohle gefördert, heute lebt die Stadt hauptsächlich von Tourismus und Forschung. Die Besonderheit von Spitzbergen: Durch einen alten Vertrag besitzen auch die Russen Schürfrechte und haben ihre Präsenz aus geostrategischen Grund nie aufgegeben. Auf Spitzbergen ist der Eisbär das größte Raubtier, daher müssen alle Bewohner außerhalb der Siedlungen eine Waffe mit sich führen. Dies scheint auch der jungen Forscherin Agneta Sørensen zum Verhängnis geworden sein, die den Kadaver einer Pottwals untersuchen wollte. Offenbar wurde sie von einem Eisbär überrascht, hatte kein Gewehr dabei und wurde getötet. Doch die ermittelnde Kommissarin Lotte Sandvik hat von Beginn an ein komisches Gefühl. Die Forscherin galt als gewissenhaft, hatte sonst immer ihr Gewehr dabei. Die beiden russischen Sicherheitsleute, die die Leiche gefunden haben, scheinen ihre Aussagen abgestimmt zu haben. Bald wird es Gewissheit: Die junge Frau wurde ermordet und später einem Eisbären zum Fraß vorgelegt.

Sie wurde von einem vagen Unbehagen ergriffen. Irgendetwas stimmte nicht mit diesem menschlichen Körper. Natürlich waren da die offenkundlichen Spuren der Bestialität des Bären. Bisse, Kratzspuren, zerfetzte Haut. Aber sie hatte das gefühl, noch etwas anderes wahrzunehmen. Etwas wie eine menschliche Absicht. (Auszug E-Book Pos. 149)

Währenddessen fliegt der Reporter Nils Madsen nach Tromsø. Auf den Lofoten hat seine langjährige Kollegin und ehemalige Lebenspartnerin Åsa Hagen Selbstmord begangen, ist einfach von einer Brücke ins kalte Meer gesprungen. Madsen – voller Trauer – kann sich nicht so einfach mit dem Selbstmord abfinden und beginnt zu recherchieren. Dabei kommt schnell heraus, dass Åsa bedroht wurde. Sie betrieb ein Unternehmen für Whalewatching und setzte sich auch sonst sehr für die Meeressäuger der Region ein. Ein Engagement, für das sie von den lokalen Fischern angefeindet wurde. Madsen sammelt immer mehr Indizien, die für einen Mord sprechen – und bringt sich selbst in die Schusslinie.

Autor Morgan Audic ist im Hauptberuf Gymnasiallehrer für Geographie und Geschichte. „Das kalte Schweigen der See“ ist sein dritter Roman, der erste in deutscher Übersetzung. Die Grundidee zu diesem Plot kam ihm nach eigenen Angaben bei einer Fahrt auf einem Schiff einer Umweltorganisation in der Normandie. Der Background des Autors wirkt sich auch auf das Geschehen im Buch aus. Der Mord an zwei Personen, die Meeresforschung betreiben oder sich für den Schutz des Meeres einsetzen, lässt auf einen Ökothriller schließen. Tatsächlich dreht sich einiges um das Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Doch Audic fächert es breiter auf, bringt viel Landeskunde, Historie und vor allem auch Geopolitik mit in die Handlung ein.

Nicht ganz neu ist die Wahl der Protagonisten und vor allem ihr angeknackstes Seelenleben. Während Lotte Sandvik aufgrund eines traumatischen Einsatzes in ihrer vorherige Dienststelle in Oslo unter einer Angststörung leidet, die sie versucht, vor den Kollegen zu verheimlichen, ist Nils Madsen als Kriegsberichterstatter ein Getriebener, der es im ruhigen, beschaulichen Norwegen kaum aushält. Die Spannungskurve und der Aufbau des Romans sind gut gewählt, nach ein paar Kapiteln wechselt der Schauplatz und die Perspektive. Interessant ist zudem, dass dem Leser natürlich klar ist, dass beide Fälle miteinander zu tun haben müssen, Audic die beiden Handlungsstränge aber erst sehr spät zusammenführt.

Zusammenfassend kann ich sagen, dass mir der Roman ganz gut gefallen hat. Morgan Audic schafft es, ein interessantes polares Setting mit einem nicht alltäglichen Plot zu verknüpfen. Da kann man einen nicht ganz so gelungenen deutschen Titel (und Cover) ganz gut verschmerzen.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Das kalte Schweigen der See | Erschienen am 17.04.2024 im Hoffmann & Campe Verlag
ISBN 978-3-455-01821-9
416 Seiten | 24,- €
Originaltitel: Personne ne meurt à Longyearbyen | Übersetzung aus dem Französischen von Tobias Scheffel und Claudia Steinitz
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wolfgang Schorlau | Black Forest (Band 11)

Wolfgang Schorlau | Black Forest (Band 11)

Elf Bände ist die Reihe inzwischen alt, ins Fernsehen hat es Dengler auch schon geschafft. Ein zweites Standbein hat sich Autor Wolfgang Schorlau zusammen mit Claudio Caiolo mit den erfolgreichen Venedig-Krimis auch schon aufgebaut. Doch an seiner Dengler-Reihe möchte der Autor offenbar festhalten, hat nun nach vier Jahren einen neuen Band veröffentlicht, in dem der Autor wie immer aktuelle politische Themen aufgreift. Diesmal das Thema Klimawandel und Windkraft.

Privatermittler Georg Dengler reist aus Sorge um seine Mutter nach Altglashütten in den Schwarzwald. Eine Polizistin und ein alter Freund hatten ihn angerufen und ihn gebeten, sich um seine Mutter zu kümmern. Sie sehe nachts Gespenster und sei etwas merkwürdig geworden.

„Was hast du gesehen, Mame?“ Mein Ton ist ruhig, meine Stimme tief. Vergeblich versuche ich, diesen einen Gedanken zu unterdrücken: Meine Mutter ist verrückt geworden.
Ihr Blick hat sich nicht verändert. Sie starrt mich immer noch an, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie mich sieht. „Schatte“, sagt sie. „In der Werkstatt geischtert immer en Schatte rum. Man kann ihn durch d’Fenster in dei’m Zimmer sehe.“ (S. 49)

Man ahnt schon, dass Denglers Mutter keine Gespenster sieht, auch wenn es ihr Sohn (obwohl er von Haus aus misstrauischer sein müsste) lange vermutet. Selbst als ein Transporter auf der Bundesstraße versucht, sein Auto zu rammen und einen Unfall zu provozieren, bezieht er es eher auf sich. Doch nach und nach dämmert ihm, was seine Mutter in Gefahr bringen könnte: Sie besitzt ein Grundstück in exponierter Lage auf dem Feldberg. Dort möchte ein Investor gerne ein Windrad errichten. Doch darüber ist ein heftiger Streit entbrannt, denn Windkraftgegner wollen dies mit aller Macht verhindern. Zu den lokalen Aktivisten gesellen sich aber noch mächtige Gegner im Hintergrund, die mit fossilen Energien eine Menge Geld verdienen und die Energiewende desavouieren wollen. Ein Windrad auf dem höchsten Gipfel des Schwarzwalds soll da unbedingt verhindert werden. Und mittendrin steht Mutter Dengler, die zudem noch das Problem hat, die entscheidende Besitzurkunde nicht wiederzufinden.

Doch auch Dengler selbst hat ein altes Trauma mit dem Hof, in dem er aufgewachsen ist. Denn in der Tenne starb damals – Dengler war als Kind mit dabei – sein Vater bei einem Unfall. Seitdem traut er sich nicht mehr in die „Denn“. Doch seine in seine wiederkehrenden Alpträume von damals mischt sich ein neues Gefühl. War das damals wirklich ein Unfall?

Ach, eigentlich mag ich die Reihe ja irgendwie schon. Schorlau hatte ein paar wirklich interessante Bände dabei, in denen er interessantes Material recherchiert hat und auf bestimmte Themen und Ereignisse eine andere Sichtweise präsentiert hat, z.B. Auf die dritte Generation der RAF in „Die blaue Liste„, auf das Oktoberfest-Attentat in „Das München-Komplott“ oder auf die NSU in „Die schützende Hand„. Ich mag auch die Figur Dengler, ein Privatermittler auf schwäbisch, mit den ihn ergänzenden Figuren, die sich im Laufe der Reihe auch weiterentwickeln. In diesem Band geht es auch viel um die Mutter. Schorlaus Entscheidung, sie konsequent Alemannisch sprechen zu lassen, finde ich sehr gelungen.

Allerdings war Wolfgang Schorlau schon immer ein Autor, der auch im Text mit seinen Recherchen und Überzeugungen nicht hinterm Berg hielt. Das ist in „Black Forest“ leider auch extrem der Fall. Seine Abhandlungen zum Klimawandel und zur Nutzung von Windkraft bringt er hier ziemlich plump an den Mann, auch durch die Wahl und die Figurendarstellung der Antagonisten. Selbst wenn man Schorlaus politische Überzeugungen in dieser Sache teilt, muss man hier ein ums andere Mal mit den Augen rollen.

Auch ein historischer Strang, den er in den Plot einbaut, hat mich nicht so richtig überzeugt. Denglers Vater war demnach in jungen Jahren unter Wernher von Braun Raketenforscher in Peenemünde und wurde nach dem Krieg von ausländischen Mächten umworben (die Inspiration zu diesem Aspekt stammt vermutlich aus Merle Krögers „Die Experten„). Hier fügt dieser Strang allerdings für meinen Geschmack nicht organisch in die Geschichte ein und wirkt am Ende gar überflüssig.

So muss ich am Ende resümieren, dass ich „Black Forest“ nicht als Highlight der Reihe bezeichnen würde. Wolfgang Schorlau sorgt hier und da für Spannung, bringt auf der Seite der Denglers ein interessantes Figurenensemble zusammen und hat ein wichtiges und relevantes Thema am Start. Was er dann literarisch daraus macht, ist unterdurchschnittlich. Er erzählt zu viel und zeigt zu wenig. Hinzu kommt: Die Bösewichter und Teile des Plots sind schablonenhaft und unterkomplex. Bei aller Verbundenheit mit der Reihe muss ich da einfach mehr erwarten.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Black Forest | Erschienen am 01.10.2024 im Verlag Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-05139-1
444 Seiten | 18,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zur Dengler-Reihe auf Kaliber.17