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Corinna Kastner | Fischland-Lügen

Corinna Kastner | Fischland-Lügen

„In der Ferne erkannte sie auf dem tiefblauen Wasser ein Segelboot und weit dahinter einen großen Frachter. Beide bewegten sich entlang des Horizonts auf die Seebrücke zu, und im Stillen schloss sie eine Wette mit sich selbst ab, wer das Rennen gewinnen, wer zuerst auf Höhe des Brückenkopfes ankommen würde. Trotz seiner Wendigkeit und Schnelligkeit wurde das Segelboot von dem großen, schweren Frachter überholt. So war das im Leben. Die Stärkeren gewannen. Immer.“ (Seite 7)

Im Ostseebad Wustrow, auf dem Fischland, will Immobilienhai Falk Clasen eine Golfanlage mit Hotel bauen, was den Fischländern natürlich nicht gefällt. Zeitgleich sucht Clasens Tochter Miriam in Wustrow nach ihrem Freund Dominik, der bis vor kurzem Sicherheitschef bei Clasens Firma war und nun spurlos verschwunden ist. Das sind für die Pensionswirtin Kassandra Voß schon zwei Gründe, um gegen Falk Clasen zu ermitteln. Durch Zufall erfährt sie, dass ihr Freund und Ex-Polizist Kay Dietrich ebenfalls hinter Clasen her ist und mit vereinten Kräften schleusen sie Kay in Clasens Firma, um so an belastendes Material zu gelangen. Doch das erweist sich als große Gefahr…

Das Gefühl der Ostsee zum Lesen
„Fischland-Lügen“ von Corinna Kastner ist der sechste Fall um Pensionswirtin Kassandra Voß und der achte Krimi der Autorin mit Schauplatz auf dem Fischland. In dieser Geschichte ist ein wesentlicher Handlungsort auch die Hansestadt Stralsund, was mich aber nicht gestört hat, denn der Fokus bleibt auf der Halbinsel. Und diese, speziell Wustrow, wird sehr detailliert beschrieben und man bekommt gleich Lust, sich ebenfalls die Ostseeluft um die Nase wehen zu lassen.

Sehr hoher Spannungsbogen
Am Anfang der Geschichte hatte ich etwas Schwierigkeiten, mir zu merken, welche Person zu welchem Namen gehörte, obwohl es nicht mein erstes Buch mit der Protagonistin war. Im Laufe des Lesens hat es sich für mich allerdings gelichtet und ich hatte damit keine weiteren Probleme. Der Spannungsbogen steigt ab etwa der Hälfte rasant an und fällt bis zum Schluss kaum noch. An manchen Stellen habe ich sogar fast atemlos gelesen, was passiert. Das liegt nicht nur allein an der Handlung, sondern auch daran, wie die Autorin die einzelnen Situationen und Kapitel gliedert.

Bodenständige Protagonistin
Kassandra Voß ist vor einigen Jahren aufs Fischland gezogen, um dort mit einer Pension neu anzufangen. Seitdem zieht sie kriminelle Machenschaften quasi an und ermittelt gern auf eigene Faust mit Hilfe ihrer Freunde, die sie in Wustrow kennengelernt hat. Dabei bleibt sie meiner Meinung nach stets bodenständig, begibt sich in keine waghalsigen oder unüberlegten Aktionen und ist trotzdem spontan, impulsiv und ungeduldig, wenn sie mitten in einem Fall steckt. Ich finde die Protagonistin damit sehr sympathisch.

Nicht erfüllte Versprechung
Auf dem Buchrücken wird damit geworben, dass es sich um „die perfekte Mischung aus packender Krimihandlung und romantischer Liebesgeschichte“ handelt. Mit ersterem gehe ich absolut mit. Bei der Liebesgeschichte habe ich persönlich die wahre große Liebe erwartet, wie man sich das eben in Romanen so vorstellt. Hier ist es aber eher eine Mischung aus Affären, unglücklichen Ehen und gestandenen Beziehungen, bei denen höchstens gedanklich an deren Fortbestehen gezweifelt wird. Hätte mich insgesamt gar nicht gestört, wenn nicht was anderes versprochen worden wäre.

Fazit: Viel Ostsee-Gefühl, noch mehr Spannung und andere Liebe als erwartet.

Corinna Kastner wurde 1965 in Hameln geboren. Sie arbeitet am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung in Hannover und fühlt sich an der Ostsee am wohlsten. Besonders das Fischland inspiriert sie sowohl schriftstellerisch als auch fotografisch. Seit 2005 veröffentlicht sie schauplatzorientierte Spannungsromane und seit sieben Jahren ihre Küsten Krimis, die auf dem Fischland spielen.

 

Foto und Rezension von Andrea Köster.

Fischland-Lügen | Erschienen am 23. Juli 2020 im Emons Verlag
ISBN: 978-3740809157
400 Seiten | 14,00 €
Bibliografische Angaben und Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu Romanen von Corinna Kastner

Eric Berg | Die Mörderinsel (Band 2)

Eric Berg | Die Mörderinsel (Band 2)

„Und genau dort waren binnen eines Jahres sechs Menschen eines gewaltsamen Todes gestorben – zwei hatte man mit durchtrennter Kehle im Wald gefunden, vier waren einem Brandanschlag zum Opfer gefallen. Einige deutsche Medien hatten dem betulichen Usedom daraufhin den Titel „Mörderinsel“ verliehen, was ich ungerecht fand.“ (Auszug Seite 33)

Der Hotelier Holger Simonsmeyer wird wegen Mordes an einer jungen Frau angeklagt, aber freigesprochen. Die Bewohner von Trenthin, dem Dorf auf Usedom, in dem Holger mit seiner Familie lebt, sind aber ganz anderer Meinung als das Gericht, haben Angst und fühlen sich von der Polizei im Stich gelassen. Dann geschieht ein schrecklicher Brand im Haus der Simonsmeyers, der weitere Opfer fordert… Die Journalistin Doro Kagel hat über den Mord und den Prozess geschrieben, die Bitte von Holgers Frau aber abgelehnt, einen weiteren Artikel über die Freilassung zu verfassen. Nun plagen sie nach dem Brand Schuldgefühle und sie beginnt den Fall erneut aufzurollen.

Zweiter Fall für Doro Kagel
„Die Mörderinsel“ von Eric Berg ist der zweite Fall um die Journalistin Doro Kagel. In ihren ersten Ermittlungen in „Das Nebelhaus“ deckt sie ein Geheimnis auf der Ostseeinsel Hiddensee auf, nun verschlägt es die Berlinerin zweitweise nach Usedom. Die Geschichte ist in zwei Zeitebenen aufgebaut. Die erste beginnt nach der Freilassung von Holger Simonsmeyer, es wird die Zeit bis zum Brand aus Sicht einiger Dorfbewohner geschildert. Die zweite Ebene beginnt wenige Tage nach dem Brand, Doro Kagel beschreibt ihre Ermittlungen und Recherchen in Ich-Form.

Keine leichte Aufgabe
Doro Kagel ist Gerichtsreporterin, hat einen Sohn und wohnt mit ihrem Mann Yim, der ein Restaurant leitet, in Berlin Friedenau. Doro hat sich keine leichte Aufgabe gestellt, in dem sie den abgeschlossenen Fall wieder aufnimmt, zumal einige Zeugen zu dem Zeitpunkt nicht mehr leben. Sie entdeckt schnell Ungereimtheiten und setzt alles daran, um diese aufzudecken.

Ungeahntes Ende
Die Handlung liest sich meiner Meinung nach sehr flüssig und spannend. Es werden verhältnismäßig viele Charaktere geschildert, ich kam aber insgesamt gut mit. Der Spannungsbogen ist für mich definitiv vorhanden, auch weil der Autor am Schluss einer Zeitebene oft mit Cliffhangern arbeitet, das Ende hat mich dann aber trotz viel Dramatik nicht so überrascht, wie ich es gehofft hatte. Ich habe mit dieser Auflösung nicht gerechnet, aber irgendwie habe ich etwas Schockierenderes erwartet. Trotzdem bin ich keineswegs enttäuscht. Ich hatte sehr viel Freude beim Miträtseln und Überlegen.

Fazit: Spannender Fall, ehrgeizige Journalistin und wunderschöner Schauplatz. Klare Empfehlung!

Eric Berg zählt seit vielen Jahren zu den erfolgreichsten deutschen Autoren. 2013 verwirklichte er einen lang gehegten schriftstellerischen Traum und veröffentlichte seinen ersten Kriminalroman »Das Nebelhaus«, der 2017 mit Felicitas Woll in der Hauptrolle der Journalistin Doro Kagel verfilmt wurde. Seither begeistert Eric Berg mit jedem seiner Romane Leser und Kritiker aufs Neue und erobert regelmäßig die Bestsellerlisten. (Verlagsinfo)

 

Foto und Rezension von Andrea Köster.

Die Mörderinsel | Erschienen am 16. März 2020 im Limes Verlag
ISBN 978-3-809-02661-7
480 Seiten | 15,00 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Monikas Rezension zu Band 1 der Reihe, „Das Nebelhaus“; außerdem weitere Rezensionen zu Eric Bergs Romanen „So bitter die Rache“, „Die Schattenbucht“ und „Das Küstengrab“

Natasha Korsakova | Römisches Finale Bd. 2

Natasha Korsakova | Römisches Finale Bd. 2

In Band 2 Ihrer Rom-Krimi-Reihe lässt die Autorin ihren Commissario Di Bernardo erneut in der Musikszene ermitteln: der weltberühmte Pianist Emile Gallois wird nach einer Orchesterprobe zum Zweiten Klavierkonzert von Rachmaninow OP. 18 (spielt in der Handlung immer wieder eine Rolle) erschossen aufgefunden. Der Mörder hat es allerdings nicht bei den Schüssen in Herz und Kopf belassen, die rechte Hand des Pianisten wurde anschließend noch zertrümmert – ein Zeichen oder blanker Hass?

Die Handlung
Auch in diesem Buch spielt – wie im ersten Band – die Vergangenheit eine Rolle. Zu Beginn wird ein Hinweis auf die Mafia eingestreut, doch lässt sich zunächst keine Verbindung zu dem Mord feststellen (der im Übrigen nicht der einzige bleibt).
Gleich zu Anfang der Ermittlungen stellt sich heraus, dass die Ehe von Emile Gallois mit Cristina, die aus einer hochangesehenen und erzkatholischen Familie stammt, nicht das war, was sie nach Außen hin zu sein schien. Bei der Vernehmung von Ephraim Azzaria, der Dirigent des letzten Konzerts von Emile Gallois, erfährt Commissario Di Bernardo, dass Emile schwul war und er nicht nur ein Verhältnis mit Azzaria hatte, sonder sogar eine Hochzeit geplant war. Ein Motiv für Cristina Gallois? Diese behauptet jedoch, schon lange davon gewusst zu haben, aber auch, dass Emile stets versichert hatte, dass er keine Trennung wollte.
Die Ermittlungen gestalten sich für den Commissario immer mehr zum Verwirrspiel; weitere Verdächtige werden bekannt – doch vorläufig führen alle Hinweise in Leere.
Doch dann ergeben sich durch die Erzählungen von Emils ehemaligem Klavierlehrer neue Erkenntnisse.
Obwohl noch weitere Ereignisse aus der Vergangenheit in die Handlung eingestreut sind, die auf das Motiv hinweisen könnten, bleibt man als Leser doch bis zum Schluss im Ungewissen.
Trotz einiger Vermutungen kommt es zum Schluss anders als gedacht (bei mir jedenfalls).

Meine Meinung
Die Autorin hat hier aus verschiedenen, tatsächlichen und vermeintlichen Motiven ein Handlungsgeflecht erdacht, das die Taten der handelnden Personen einerseits menschlich verständlich macht, gleichzeitig aber auch darauf hinweist, in wie weit (falsche) Handlungen in der Vergangenheit die Gegenwart beeinflussen können. Ich finde die Handlung spannend, aber auch raffiniert aufgebaut. Man vermutet zwar, wer der Täter sein könnte, kann sich aber nie ganz sicher sein – was u. a. ja auch den Reiz des Buches ausmacht.
Gefallen haben mir auch die Episoden aus dem Privatleben des Commissarios und seines Assistenten, sie lockern das Ganze auf und man hat fast das Gefühl, die Beiden persönlich zu kennen.

Fazit
Mir hat dieses Buch fast noch besser gefallen als das erste; außer den handelnden Personen lernt man auch Rom und Umgebung kennen und ist bis zum Schluss gespannt, wie sich der Fall wohl auflöst. Bitte weiter so!!

Die Autorin
Natasha Korsakova spielt seit dem 5 Lebensjahr Violine, sie studierte zunächst am Moskauer Konservatorium, später dann auch in Nürnberg und Köln. Bereits in jungen Jahren erhielt sie mehrere Preise, ab 1994 folgten ihre Debüts u.a. an der Berliner und Kölner Philharmonie und dem Leipziger Gewandhausorchester. Auch international wurde sie bekannt, u.a. wurde sie 1998 in Chile als Künstlerin des Jahres ausgezeichnet. Sie lebt im Süden der Schweiz, ist jedoch auch immer wieder in Rom, dem Schauplatz ihrer Kriminalromane.

Foto und Rezension von Monika Röhrig.

Römisches Finale | Erschienen 14.09.2019 im Wilhelm Heyne Verlag
ISBN 987-3-453-42363-3
380 Seiten | 12,99 EUR
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Elsa Dix | Die Tote in der Sommerfrische

Elsa Dix | Die Tote in der Sommerfrische

„Haare trieben im Wasser, flossen wie dunkles Seegras um ihn herum. Es war eine Frau, sie trieb auf dem Bauch. Christian ergriff sie an der Schulter, versuchte den Kopf über die Wasseroberfläche zu bringen. Er schaffte es nicht. Mit der nächsten Welle zog er den Körper näher Richtung Strand. Doch dann wich das Wasser zurück, und für einen Moment fürchtete er, von der herausströmenden Gischt mitgerissen zu werden.“ (Seite 17)

Viktoria Berg verbringt 1912 die Sommerfrische auf Norderney, bevor sie eine Stellung als Lehrerin antritt. Mit ihr verbringt auch die feine Gesellschaft der Kaiserzeit scheinbar unbeschwerte Tage auf der Insel. Dann zieht der Journalist Christian Hinrichs eine Leiche aus dem Meer und Viktoria kannte die Tote. Da die Polizei den Vorfall ohne Ermittlung als Selbstmord abtut, sich Christian und Viktoria aber einig sind, dass es nicht so ist, begeben sie sich selbst auf Spurensuche.

Krimi trifft Liebe
„Die Tote in der Sommerfrische“ von Elsa Dix ist der erste Fall um Viktoria Berg und Christian Hinrichs. Ich empfand diesen Krimi als sehr unterhaltsam zu lesen. Dieses Buch ist der erste historische Kriminalroman, den ich lese und ich bin überzeugt worden, auch wenn der Schauplatz am Meer einen großen Anteil daran hat. Neben dem Mord, dessen Lösung im Fokus steht, geht es auch um die Gefühle von Viktoria und Christian zueinander. Also ist dieses Buch eine Mischung aus Kriminal- und Liebesroman, was ich gut gelungen finde, denn die Liebesszenen sind überhaupt nicht kitschig und ergänzen sich gut mit den Recherchen um den Todesfall.

Ein Einblick in die Vergangenheit
Sehr interessant fand ich, wie es damals zuging. Dass der Adel automatisch mehr zu sagen hatte als die Arbeiterklasse, welche Arbeitsbedingungen für die Dienstmädchen galten, dass verheiratete Frauen nichts zu sagen hatten und ihre Männer wie Kinder um Erlaubnis fragen mussten. Auch wie insgesamt alles um den Fremdenverkehr organisiert war. Die gesamten Beschreibungen kommen mir sehr gut recherchiert vor. Die Autorin erwähnt in der Danksagung, dass sie viel im Norderneyer Stadtarchiv recherchiert hat und einige der Fundstücke hat sie auf ihrer Homepage veröffentlicht.

Klassengesellschaft
Viktoria Berg ist die Tochter eines Oberstaatsanwaltes, und obwohl es in ihrer Klasse üblich ist, sich zu verheiraten und Kinder zu bekommen, hat Viktoria sich durchgesetzt und eine Ausbildung zur Lehrerin absolviert. Ihr ist es ganz wichtig zu arbeiten und vor allem frei und unabhängig zu bleiben, deshalb kommt für sie eine Ehe keineswegs in Frage. Christian Hinrichs entstammt einer Arbeiter-Familie, und nur durch seinen Ehrgeiz ist er überhaupt Journalist geworden. Mir sind beide Protagonisten sehr sympathisch, Viktoria beeindruckt mich aber besonders durch ihren Mut und die Einstellung, etwas verändern zu wollen und nichts so hinzunehmen, wie es ist.

Seichte Spannung
Den Täter versuchen die beiden durch mehr oder weniger direkte Befragungen der Gäste zu ermitteln, außerdem durch Beobachten, Belauschen und Schlussfolgern. Das Ganze ist spannend, aber auf eine seichte Art. Ich hätte mir ein klein bisschen mehr Nervenkitzel gewünscht, trotzdem kamen keinerlei Längen auf.
Fazit: Eine unterhaltsame Mischung aus Krimi und Liebesgeschichte und eine kleine Reise in die Vergangenheit, angesiedelt im schönen Seebad Norderney. Ich freue mich auf weitere Fälle.

Elsa Dix ist eine aus Norddeutschland stammende Krimiautorin. Sie lebt heute mit ihrem Mann und Hund in Düsseldorf und verbringt jede freie Minute auf Norderney. (Verlagsinfo)

Foto und Rezension von Andrea Köster.

Die Tote in der Sommerfrische | Erschienen am 16.03.2020 im Goldmann Verlag
ISBN 978-3-442-49034-0
416 Seiten | 10.- Euro
Bibliografische Angaben und Leseprobe

Rezensionsdoppel Mexiko II: Jeanine Cummins | American Dirt & Jorge Zepeda Pattersson | Die Korrupten

Rezensionsdoppel Mexiko II: Jeanine Cummins | American Dirt & Jorge Zepeda Pattersson | Die Korrupten

Vor etwas mehr als einem Jahr habe ich bereits eine Doppelrezension mit zwei Romanen aus Mexiko gemacht: Fernando Melchor „Saison der Wirbelstürme“ und Antonio Ortuño „Die Verschwundenen“. Tenor damals wie heute: Mexiko als ein gescheiterter Staat, geprägt von Korruption und Kartellen und eine Atmosphäre der Gewalt bis in alle Gesellschaftsschichten. Das Thema interessiert mich weiterhin, so dass ich immer nach Romanen aus bzw. über Mexiko Ausschau halte. Zwei davon habe ich wieder zu einer Doppelrezension zusammengefasst. Zum einen ein viel diskutierter Roman. „American Dirt“, umstrittener Roman der US-amerikanischen Autorin Jeanine Cummins – vor allem auch umstritten, weil hier eine Außenstehende sich des Themas Gewalt in Mexiko annimmt. Zum einen ein Buch eines Insiders: Jorge Zepeda Pattersson, Journalist, politischer Analyst, hat seine Erfahrungen im Roman „Die Korrupten“ niedergeschrieben. Zeit für eine Doppelrezension.

Jeanine Cummins | American Dirt

Eine Geburtstagsfeier in Acapulco. Die Buchhändlerin Lydia, ihr Mann Sebastián und ihr achtjähriger Sohn Luca feiern quinceañera, den 15.Geburtstag ihrer Nichte, mit einer Grillparty im Kreise der ganzen Familie. Da betreten Sicarios das Grundstück und erschießen die ganze Familie. Nur Lydia und Luca konnten sich im Badezimmer des Hauses verstecken. Lydia weiß sofort, warum dieses Massaker geschehen ist: Ihr Mann, Zeitungsjournalist, ist dem Boss des neuen vorherrschenden Kartells Los Jardineros zu nahe gekommen. Und auch sie selbst verbindet etwas mit „La Lechuza“ – Die Eule.

Ihre Schatten bewegen sich wie ein klobiges Tier den Bürgersteig entlang. Unter dem Scheibenwischer ihres Autos, einem orangefarbenen VW Käfer, den man sofort überall wiedererkennt, steckt ein winziger Zettel, so klein, dass er niccht einmal in der heißen Brise flattert, die durch die Straße weht. […]
Sie […] zieht den Zettel unter dem Scheibenwischer hervor. Ein Wort, geschrieben mit grünen Textmarker: Buh! Der hastige Atemzug, den sie tut, fühlt sich an wie ein Stich durchs Innerste ihres Körpers. Sie schaut zu Luca hinüber, zerknüllt den Zettel in ihrer Faust und stopft ihn in ihre Tasche.
Sie müssen verschwinden. Sie müssen fort aus Acapulco, so weit fort, dass Javier Crespo Fuentes sie niemals finden kann. Sie können nicht mit diesem Auto fahren. (S.28-29)

Lydia entscheidet sich schnell zur Flucht nach „el norte“, in die Vereinigten Staaten. Doch sie weiß, dass sie nun eine der meist gesuchten Frauen in Mexiko ist – und die Kartelle sind erheblich effizienter als die Polizei. Mit ihren offiziellen Papieren kann sie sich nicht mehr fortbewegen. Lydia sieht keinen Ausweg, als sich mit Luca in den stetigen Strom der Illegalen einzureihen. Und diese haben ein bevorzugtes Fortbewegungsmittel: „La bestia“, die Güterzüge Richtung Norden. Für Lydia und Luca beginnt eine atemlose Flucht.
„American Dirt“ war vor einem Jahr einer der meist diskutierten Romane in den USA. Das lag aber nur am Anfang am Inhalt des Buches. Diese Fluchtstory und Geschichte einer bedingungslosen Mutterliebe ist handwerklich gut gemacht. Die Flucht von Lydia und Luca ist immer wieder durchsetzt von Spannungshöhepunkten, in Rückblicken wird die Hintergrundgeschichte erläutert. Als Thriller funktioniert der Roman wirklich gut – ob er die Gegebenheiten realistisch wiedergibt, wird von einigen angezweifelt. In der Tat beherbergt der Roman schon ein paar typische Stereotypen und Cummins schwelgt bei „Übermutter“ Lydia schon etwas im Pathos, aber dennoch war es ein guter, unterhaltender und spannender Thriller.

Die Diskussionen rund um das Buch lassen aber schon etwas aufhorchen, denn die Autorin hat sich dabei auch aus meiner Sicht nicht unbedingt klug verhalten. Etwas merkwürdig fand ich nämlich das Nachwort, in dem Cummins zwar eindeutig Empathie für die Situation der Menschen in Mexiko erkennen lässt. Sie stellt sich außerdem die Frage, ob sie als Außenstehende solch ein Buch schreiben dürfe, bejaht sie letztlich, meint aber: „Ich wünschte mir, dass es jemand schreiben würde, der etwas brauer ist als ich“. So schwingt an dieser und an anderen Stellen durchaus eine gewisse Überheblichkeit in ihrem Nachwort mit, die mir auch etwas aufstößt. Die Debatte entzündete sich dann auch an der Frage der „kulturellen Aneignung“, wobei dieses Buch und seine Autorin dabei auch aufgrund des Marketings so stark in den Mittelpunkt geriet.

Jorge Zepeda Pattersson | Die Korrupten

Eine ganz andere Art von Roman, wenngleich auch mit dem Unterthema Journalismus in Mexiko hat der Autor Jorge Zepeda Pattersson geschrieben. „Die Korrupten“ erzählt die Geschichte der „Blauen“: Eine verschworene Jugendclique, drei Jungs und ein Mädchen (die Anführerin), aus gutbürgerlichem bis wohlhabenden Hause, die dreißig Jahre später immer noch Kontakt hält. Tomás ist inzwischen Journalist und Kolumnist einer großen Tageszeitung, Jaime ehemaliger Geheimdienstchef und aktuell Sicherheitsberater, Mario Hochschuldozent und Amelia Vorsitzende der linken Oppositionspartei.

Tomás journalistische Karriere befindet sich ein wenig auf dem absteigenden Ast, seine regelmäßige Kolumne hat an früherem Biss verloren. Da erhält er von einem Informanten einen Hinweis zum Mord an der bekannten Schauspielerin Pamela Dosantos. In seiner Kolumne bringt er den gefürchteten mexikanischen Innenminister Salazar vage in Verbindung mit dem Mord, löst damit einen politischen Skandal aus und gerät buchstäblich in die Schußlinie. Eine Entführung von Tomás misslingt nur knapp. Verschiedene politische, aber auch kriminelle Kräfte (wobei dies in Mexiko üblicherweise schwierig auseinanderzuhalten ist) wollen weitere Enthüllungen zum Mordfall Pamela verhindern. Doch die „Blauen“ halten zusammen, schmieden Pläne und blasen zum Gegenangriff, wobei ihnen zugutekommt, dass Pamela über ihre Liebschaften mit Prominenten und Politikern brisantes Material zusammengetragen hat. Die „Blauen“ sind durchaus auch mit allen Wassern gewaschen und sie beginnen zu ahnen, dass es zu einem politischen Beben kommen kann, zu Ungunsten der wieder aufkommenden autokratischen Kräfte Mexikos. Doch die Recherchen bleiben lebensgefährlich.

„Moment mal! Was ist, wenn Salazar gar nichts mit ihrem Tod zu tun hat? Wir können ihn doch nicht einfach lynchen?“, wandte Mario ein.
Die drei blickten ihn verwundert an. Jaime brach als Erster in Gelächter aus, Amelia umarmte Mario liebevoll.
„Mein Lieber, es geht hier doch gar nicht um Salazars Schuld oder Unschuld“, versicherte sie. „Es geht um die unmittelbare Zukunft des Landes.“ (E-Book, Pos.1643)

Kennt noch jemand „Borgen“, diese Fernsehserie um den intriganten Politbetrieb im Staate Dänemark? Eine wirklich starke Serie, was Dialoge, Story und Figurendarstellung betrifft und ein Musterbeispiel, wie man öde Politik spannend auch einem größeren Publikum nahebringen kann. Während der Lektüre von „Die Korrupten“ drängte sich mir irgendwann der Vergleich zu „Borgen“ förmlich auf, wenngleich die Dänen sich doch deutlich mehr in den Parlamentsfluren aufhalten. Dennoch hat Autor und Journalist Jorge Zepeda Pattersson einen Thriller über Korruption, Politik und politischen Journalismus geschrieben, der förmlich nach einer Verfilmung schreit. Viele Szenen- und Perspektivwechsel, ein konstanter Spannungsbogen mit einzelnen Höhepunkten, überzeugenden Dialogen und einer Vielzahl von interessanten Figuren, die auch zumeist vielschichtig betrachtet werden und nicht nur eindimensional rüberkommen. Im Vergleich zu „Borgen“ wird das Ganze aber natürlich um einiges mexikanischer serviert: Mehr Blei, mehr Blut, mehr Sex, mehr Theatralik. Aber genau wie in Dänemark Brigitte Nyborg sind inmitten des politischen Maschismo die Frauen die entscheidenden Personen der Geschichte: In diesem Fall die clevere und schöne Amelia und die tote, aber zu Lebzeiten arg unterschätzte Pamela.

„Die Korrupten“ war Zepeda Patterssons Debütroman, erschien im Original bereits 2013 und ist der Auftakt einer Trilogie um „Die Blauen“. Auf Deutsch sind bislang zwei Titel im schweizer Elster Verlag erschienen. Der Autor gibt in einem Interview mit dem „Spiegel“ einen Einblick in seine Motivation. Er stellt fest, „dass journalistische Texte nicht das ganze Bild der Korruption in Mexiko wiedergeben können“, da viele Betroffene aus Angst um ihr Leben nicht aussagen. „Fiktion lässt sich leichter verdauen als der Bericht eines Journalisten. Die Leute mögen es nicht, ihren Namen in einem Text zu lesen.“ Und er erläutert eine bekannte Redewendung in der mexikanischen Politik: „Ein armer Politiker ist ein armseliger Politiker.“ Insgesamt bietet „Die Korrupten“ einen sehr anregenden Einblick in die politischen Gegebenheiten Mexikos und ist dabei sehr leichtgängig geschrieben. Für diesen Roman gebe ich eine ausdrückliche Leseempfehlung.

 

Rezension und Foto von Gunnar.

American Dirt | Erschienen am 21.04.2020 im Rowohlt Verlag
ISBN: 978-3-499-27682-8
560 Seiten | 15,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Genre: Thriller
Wertung: 3.5 von 5.0

Die Korrupten | Im Original erschienen 2013,
die deutsche Ausgabe erschien am 17.02.2020 im Elster Verlag
ISBN: 978-3-906-90315-6
520 Seiten | 24,- €
als E-Book: ISBN: 978-3-906-90315-6 | 14,99 €
Originaltitel: Los corruptores
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Genre: Politthriller
Wertung: 4.5 von 5.0