Autor: Nora

Volker Kutscher | Rath (Band 10)

Volker Kutscher | Rath (Band 10)

Und dann sagte er einen Satz, von dem er nicht gedacht hätte, dass er ihn jemals wieder sagen würde, aber er sagte ihn. „Eine Fahrkarte nach Berlin, bitte.“ (Auszug E-Book Pos. 3843 von 9095)

Diesen Satz sagt tatsächlich Gereon Rath im Herbst 1938. Der in Deutschland nach einer Schießerei für tot Erklärte, Charlotte erhält sogar eine Witwenrente, lebte zwei Jahre mit neuer Identität in den USA. Er verlässt mit seinem Bruder Severin Rath die USA, da sie ihren im Sterben liegenden Vater nicht alleine lassen wollen. Gereon taucht erst mal unter falschem Namen in Rhöndorf im Haus des ehemaligen Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer unter, einem Vertrauten seines Vaters. Er trifft sich einmal im Monat heimlich mit seiner Frau Charly und wartet nur auf den richtigen Moment, Deutschland gemeinsam Richtung USA zu verlassen. Doch Engelbert Rath stirbt nicht so schnell und Charly will Deutschland nicht ohne ihren ehemaligen Pflegesohn Friedrich Thormann verlassen.

Fritze steht unter Verdacht, zwei Hitlerjungen getötet zu haben und hat sich erst mal aus dem Staub gemacht. Charly kann das nicht glauben und als Angestellte der Privatdetektei Böhm macht sie sich selbst an die Aufklärung. Dazu muss sie erst mal Fritze finden. Zuvor war Hannah, seine jüdische Freundin bei einer Zwangssterilisation angeblich aufgrund unvorhersehbarer Komplikationen verstorben. Charly kehrt sogar wieder zur Kriminalpolizei zurück, die allerdings längst zum Handlanger der Gestapo geworden ist. Hier weiß sie nicht mehr, wem sie noch trauen kann. Jeder scheint jeden zu bespitzeln und es herrscht eine Atmosphäre von Misstrauen und Denunziation.

„Dann lassen Se uns mal anstoßen“, sagte er und hob sein Glas, „Auf die Jesundheit Ihres Herrn Papa und auf den Weltfrieden.“ „Da haben Sie recht, die haben’s beide nötig“, sagte Rath. „Beim Weltfrieden möjen Sie recht haben, aber um ihren Vater machen Se sich mal kejne Sorgen, der ist ein zäher Brocken.“ (Auszug E-Book Pos. 3233 von 9095)

Es dauert ganz schön lange, bis Gereon in der Geschichte auftaucht. Wie schon im Vorgängerband „Transatlantik“ spielt er nur eine untergeordnete Rolle und lange ist Charlotte Rath die Protagonistin. Erst als seine Ehefrau nicht mehr zu den heimlichen Treffen erscheint, macht er sich auf nach Berlin um sie zu suchen. Charly wurde aus unbekannten Gründen in ein Konzentrationslager gesteckt.

Der zehnte und finale Band ist weniger Krimi mit polizeilichen Ermittlungen und der Suche nach einem Mörder. Als Leser:in hat man auch schon relativ zügig einen Verdacht, wer der wahre Täter ist. Vielmehr spannt Kutscher die Fäden zwischen den bekannten Figuren, lässt einige aus dem Romanzyklus noch mal auftauchen und schildert anhand eines stimmigen Plots den Weg in eine Diktatur. Die Nazizeit und die Verstrickungen der Protagonisten in das NS-System nehmen einen immer breiteren Raum ein. Es gibt bedrückende Szenen einer Massendeportation von Juden und Jüdinnen an der polnischen Grenze, brutale Folterungen im Konzentrationslager bis zu den unmenschlichen Geschehnissen am 9. November 1938. Sehr eindrücklich werden die Ereignisse der antisemitischen Progromnacht mit brennenden Synagogen, zusammengeschlagenen und ermordeten Menschen geschildert. Schwer zu ertragen und folgerichtig endet die Reihe mit diesem Datum, denn die Progromnacht ist für den Autor der „Point of no Return“. Für ihn das Ende der Zivilisation, eine Grenze, die er als Schriftsteller nicht überschreiten kann, wie er oft in Interviews erklärte.
Dafür gelingt es ihm, die Atmosphäre dieser verrohenden Zeit bildhaft einzufangen und ohne erhobenen Zeigefinger darzustellen, wie sich die Stimmung im Land gegen Gegner jeder Art verdüstert und radikalisiert und auch die Faszination der Durchschnittsbürger für diese faschistische Ideologie einigermaßen greifbar zu machen.

Einige lose Fäden aus den vergangenen Bänden werden zusammen-, aber nicht alle Erzählstränge zu Ende geführt; einige bleiben offen. Aber man muss nicht endgültig von den liebgewonnen sowie verhassten Charakteren Abschied nehmen. Volker Kutscher hat schon verraten, dass er nach zwei kleinen illustrierten Büchern, „Moabit“ und „Mitte“, einen dritten geplant hat. Dafür wird er sich mit der Illustratorin Kat Menschik wieder in den Rath-Kosmos begeben.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Rath | Erschienen am 24. Oktober 2024 bei Piper
ISBN 978-3-492-07410-0
624 Seiten | 26.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Andys Rezensionen zu weiteren Romanen der Reihe

Jurica Pavičić | Mater Dolorosa

Jurica Pavičić | Mater Dolorosa

Sie lief nach draußen, an die frische Luft, in die belebende Kälte, nur weg von den Menschen. Sie lief nach Hause, und durch ihren Kopf wirbelten grausame Bilder von dem ,was sie gerade gehört hatte. Sie dachte an Schnitte und Würgemale. Und ihr ging es besser. Denn eins wusste sie: Das konnte nicht Mario gewesen sein. Denn so etwas hatte Mario nicht in sich. Er hatte keinen Funken Aggression oder Böses in sich. Und das wusste jeder, der Mario gut kannte, so gut wie sie. (Auszug E-Book, S. 147)

Im kroatischen Split wird in einer alten Industriebrache die Leiche einer jungen Frau gefunden. Sie war vorher mit einer Freundin in einem Club, hatte sich offenbar mit ihrem späteren Mörder dort verabredet. Doch niemand hat den Mörder gesehen, lediglich der Autotyp wird identifiziert. Der Ermittlungsdruck der Polizei ist groß, über das Fahrzeug gerät ein aktenkundiger Sexualtäter ins Visier. Doch obwohl er extrem unter Druck gesetzt wird, gesteht er nicht und eindeutige Indizien, die ihn mit der Tat in Verbindung bringen gibt es nicht. Der junge Ermittler Zvone verfolgt währenddessen eine ganz andere Spur. Er vermutet den Täter im Bekanntenkreis. Durch gewisse Indizien verdichtet sich sein Verdacht auf eine Person.

Als die Polizei ein blutiges Kleidungsstück und ein abgerissenes Stück einer Tasche dem Täter zuordnet und der Öffentlichkeit präsentiert, können es Katja und ihre erwachsenen Tochter Ines kaum fassen. Diese Dinge gehören ihrem Sohn bzw. Bruder Mario und weitere Beweisstücke hat er noch zu Hause. Dies bringt die Familie vor eine riesige Zerreisprobe, während die Mutter alles verdrängt und Mario schützen will, hadert Ines mit sich, ob sie die Familie oder den Verrat zugunsten der Gerechtigkeit wählt.

Ich habe Jurica Pavičić als Autor vor einigen Jahren mit seinem Roman „Die Zeugen“ kennengelernt, später habe ich auch „Blut und Wasser“ von ihm gelesen. Beides überzeugende Roman, die sich in einem Grenzbereich zwischen Roman und Kriminalroman befinden. Pavičić legt zumeist einen Kriminalfall seinen Romanen zugrunde, verweigert sich dann aber den üblichen Schemeta, sondern beleuchtet die einzelnen Figuren und ihm gelingt darüber auch ein gesellschaftliches Panorama. So auch in „Mater Dolorosa“: Der Tod einer jungen Frau ist das Vehikel, um drei Personen näher zu kommen. Zvone, der junge Ermittler, der mit seinem verwitweten, kriegsversehrten Vater zu Hause lebt und als einziger Polizist die Spuren richtig deutet und die Identität des Mörders errät. Doch es fehlen die Beweise und niemand belastet den Täter. Wie weit will er gehen, um der Gerechtigkeit genüge zu tun? Ines, die Schwester des Mörders, der langsam klar wird, dass ihr Bruder der Täter ist und die irritiert ist, wie die Familie damit umgeht und zweifelt, ob sie ihren Bruder decken soll. Mehr noch, als herauskommt, dass sie mit ihrem verheirateten Chef eine Affäre hat, ist sie plötzlich überall unten durch und in der Defensive. Katja, die Mutter des Täters, gläubig, ist die „schmerzensreiche Mutter“. Sie ignoriert das Offensichtliche, will die Tat des Sohnes unbedingt unter den Teppich kehren, hat aber gleichzeitig kein Verständnis für ihre Tochter.

Pavičić schreibt die Geschichte abwechseln aus den Perspektiven der drei Hauptfiguren. Der Mörder, Mario, erscheint nur am Rande als antriebslose Person. Eine vollständige Aufklärung findet nicht statt, es gibt kein Geständnis, dennoch sprechen Indizien eine eindeutige Sprache. Doch das ist hier nicht entscheidend, denn die inneren Konflikte der drei Protagonisten zwischen Familie, Loyalität, Gerechtigkeit und Verrat sind entscheidend. Zudem scheinen die Konflikte in der kroatischen Gesellschaft durch, soziale Unterschiede, die Rolle der Frau, Spannungen zwischen alt und jung, die perspektivarme Generation der Kriegsveteranen, die immer noch bestehende Macht der Kirche – all das flechtet der Autor gekommt in diesen Roman ein. Er erinnert mich dabei an die ebenfalls von mir sehr geschätzte argentinische Autorin Claudia Piñeiro. „Mater Dolorosa“ ist ein in der Grundstimmung sehr melancholischer Roman, der zeigt, wie vielseitig das Krimigenre sein kann, und aus meiner Sicht unbedingt empfehlenswert.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Mater Dolorosa | Erschienen am 22.01.2025 im Verlag Schruf & Stipetic
ISBN 987-3-944359-81-6
356 Seiten | 16,90 €
als E-Book: ISBN 987-3-944359-91-5 | 12,99 €
Originaltitel: Mater Dolorosa | Übersetzung aus dem Kroatischen von Blanka Stipetic
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen auf dem Blog zu Romanen von Jurica Pavičić

 

Patrick Radden Keefe | Sage nichts – Mord und Verrat in Nordirland

Patrick Radden Keefe | Sage nichts – Mord und Verrat in Nordirland

Der Nordirlandkonflikt ist für Außenstehende ein äußerst komplexes Thema. Oberflächlich waren die Frontlinien klar: Katholiken gegen Protestanten, Befürworter eines vereinten Irland gegen Unionisten, die den Verbleib im Vereinigten Königreich wollten. Die Polizei und das Militär, dass die britische Staatsmacht durchsetzte. Doch innerhalb des Konflikts gab es so viele Nuancen, Schattierungen, Splittergruppen, dass man schnell den Überblick verliert. Selbst heute, mehr als 25 Jahre nach dem Karfreitagsabkommen ist die Lage nicht konfliktfrei. Spätestens der Brexit, aber auch die nicht wirklich aufgearbeitete Vergangenheit lassen alte Konfliktlinien nochmal ins Bewusstsein kommen.

Für die Kriminalliteratur war Nordirland ein reizvoller Schauplatz. Auch mich hat der Konflikt nochmal besonders interessiert, vor allem durch die Sean-Duffy-Reihe von Adrian McKinty. Eine sensationelle Hauptfigur, ein Katholik in der protestantischen nordirischen Polizei, jung, intelligent, aufmüpfig, testosterongesteuert inmitten der Troubles der 1980er. Von McKinty als Ich-Erzähler mit viel schwarzem Humor erzählt. Spannend auch der Ansatz von Eoin McNamee, der die Konflikte als Hintergrundrauschen nutzt, um von Verbrechen in Nordirland zu erzählen. Etwa über einen Psychopathen in „Belfaster Auferstehung“, der die Gewalt und die Strukturen nutzt, um seine Gewaltfantasien auszuleben. Aber auch nach dem Friedensabkommen von 1998 bleibt das Setting interessant. Beispielsweise bei Stuarts Nevilles „Die Schatten von Belfast“, in dem ein einstiger gefürchtete Killer der IRA als psychisches Wrack aus der Haft freikommt. Die einst von ihm Ermordeten manifestieren sich zu anklagenden Schatten in seinem Bewusstsein. Und nun stellt er fest, dass diejenigen, die ihn zu den Morden angestiftet haben, durch das Abkommen ganz hervorragend weggekommen sind.

Doch noch interessanter als Crime Fiction kann es werden, wenn man wahre Geschichten von den Troubles erzählt. Der Investigativjournalist Patrick Radden Keefe hat sich dieser Sache angekommen. In seinem erzählerischen Sachbuch „Sage nichts – Mord und Verrat in Nordirland“ versucht er einen eigenen Blick auf den Nordirlandkonflikt und behandelt vor allem die Fragen nach dem Erbe des Konflikts, die schleppende Aufarbeitung, das immer noch große Schweigen über die Taten und die Fragen nach der Rechtfertigung für all die Toten und Verletzten.

Keefe versucht nicht, die ganze Geschichte des Konflikts chronologisch zu erzählen. Er lässt sogar die Seite der Unionisten weitgehend außen vor. Sein Buch beginnt mit zwei Ereignissen, die den roten Faden bilden. Im Dezember 1972 verschwand die 38jährige Jean McConville. Vermummte Personen holten sie aus ihrer Sozialwohnung in den berüchtigten Divis Flats, zurück blieben zehn Kinder. McConville wurde als Verräterin, Kollaborateurin bezeichnet. Als eine der wenigen Personen blieb sie allerdings über Jahrzehnte verschwunden, ihre Leiche tauchte nie auf, niemand übernahm Verantwortung für ihr Verschwinden. Zum anderen Delours Price, eine junge Frau aus einer republikanischen Familie, die sich zusammen mit ihrer Schwester schon jung der IRA anschließt und mit anderen einen Bombenanschlag 1973 in London durchführt, der sie allerdings in Haft bringt. Sie wird eine der ersten, die in der Hungerstreik treten, der später noch wirkungsvoller als Instrument der IRA eingesetzt wird. Sie spielte aber auch eine Rolle beim Verschwinden von Jean McConville.

Über diese und weitere Personen nähert sich das Buch dem Konflikt und den beteiligten Personen an. Er erzählt dabei von der Radikalisierung des Protestes und dem hohen Blutzoll, der uneingeschränkt eingeforderten Loyalität und der zunehmenden Politisierung bis hin zum Karfreitagsabkommen. Keefe erzählt von Traumata, nicht nur der Hinterbliebenden, auch von den alten Kämpfern, die sich nun fragen, wofür damals gekämpft wurde und ob es eine Rechtfertigung gibt. Er erzählt aber auch vom Schweigen, von einer Omertá, die eigentlich bis heute gilt und jeden, der sie bricht, in große Gefahr bringt. Das wird im Buch an einem Oral History-Projekt deutlich, dass Historiker aus Boston initiiert hatten. Es wurden zahlreiche Interviews mit Beteiligten über die Zeit des Terrors geführt, mit dem Versprechen, diese erst nach deren Tod auszuwerten und öffentlich zu machen. Doch die Existenz des Projekts wurde bekannt, es wurde die vorzeitige Herausgabe von Interviews gerichtlich durchgesetzt und Personen damit wieder in die Schusslinie gebracht.

Patrick Radden Keefe gelingt es, die Geschichten auch der Täter meist wertungsfrei zu erzählen. Es kommen Mörder und Terroristen zu Wort, deren Hintergründe offenbart werden und deren Taten nicht verschwiegen werden, doch sie erhalten Gelegenheit zur Reflexion und Reue. Es gibt allerdings eine Person, die Keefe nicht pfleglich behandelt, sondern deren fehlendes Verantwortungsbewusstsein mehrfach präsent ist: Gerry Adams, langjähriger Chef der Sinn Féin, des politischen Arms der IRA und späteren Garanten des Karfreitagsabkommens. Adams hat bis heute immer nur eine politische Rolle während der Troubles für sich reklamiert und immer bestritten, Mitglied der IRA gewesen zu sein. Doch die Aussagen ehemaliger Mitstreiter zeichnen das Bild eines Mannes, der tief in die militärischen Strukturen involviert war, angeblich bis hin zu Mordaufträgen.

„Sage nichts“ ist ein fesselndes Stück Zeitgeschichte. Autor Keefe gelingt es, über wenige Personen ein dichtes Bild der Troubles und vor allem der verbliebenden Traumata und mangelnden Aufbereitung aufzuzeigen. Das Buch wurde zuletzt als neunteilige Serie verfilmt und ist seit Ende 2024 auf Disney+ verfügbar.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Sage nichts – Mord und Verrat in Nordirland | Erschienen am 24.07.2024 bei Hanserblau
ISBN 978-3-446-27939-1
464 Seiten | 34,- €
Originaltitel: Say Nothing: A True Story of Murder and Memory in Northern Ireland |Übersetzung aus dem Englischen von Pieke Biermann
Bibliografische Angaben & Leseprobe

James Kestrel | Bis in alle Endlichkeit

James Kestrel | Bis in alle Endlichkeit

Um eine Millionenerbin zu ermorden, war ich zu sehr damit beschäftigt gewesen, einen Zeugen der Bundesanwaltschaft einzuschüchtern. Was die mögliche Gefängnisstrafe anging, würde ich wahrscheinlich besser dastehen, wenn ich zugab, sie im Vollrausch vom Dach gestürzt zu haben. (Auszug Seite 188)

Leland Crowe, der Protagonist in James Kestrels aktuellem Thriller arbeitet als Privatdetektiv in San Francisco, seit er seine Anwaltslizenz verloren hat. In dem heruntergekommenen Viertel Tenderloin hat er sich in einem schäbigen Hotel einquartiert, um für den Strafverteidiger Jim Gardner in einem spektakulären Fall eines Drogenkartellchefs zu recherchieren. Als er in den frühen Morgenstunden seine Runde um den Block dreht, stolpert er über einen Rolls Royce, der definitiv nicht in diese Gegend gehört. Auf dem eingedrückten Dach entdeckt er die Leiche einer schönen, jungen Frau in einem Cocktail-Kleid, die offenbar aus großer Höhe herabgestürzt ist.

Anstatt die Polizei zu verständigen, das wäre aufgrund seiner illegalen Tätigkeit suboptimal, macht er sich aus dem Staub. Aber nicht, ohne vorher einige Fotos zu schießen, die er meistbietend an Zeitungen verhökert. Geld ist immer knapp, deshalb nimmt er auch den nächsten Auftrag an, den ihm Gardner vermittelt. Die Klientin ist ausgerechnet Olivia Gravesend, einflussreiche Millionärin und Mutter des Opfers. Geld spielt keine Rolle, er soll nur herausfinden, was mit ihrer geliebten Tochter Claire passiert ist. Die Polizei hat den Fall bereits als Suizid zu den Akten gelegt. Das kann sich die verzweifelte Olivia nicht vorstellen, auch wenn sie seit einem halben Jahr nichts mehr von ihrer Tochter gehört hatte.

Die Welt der Reichen und Schönen
Eine erste Spur führt Crowe nach Boston, wo Claire studierte. Hier findet er im Tresor ihres Hauses einen Schlüssel zu einem anderen Haus in San Francisco. Bevor er sich auf den Weg machen kann, wird er von einem maskierten Mann angegriffen, es kommt zu einem brutalen Kampf auf Leben und Tod. Unser Protagonist fragt sich, in was für Machenschaften Claire verwickelt war und was hat es mit den zahlreichen Narben an ihrer Wirbelsäule auf sich? Am neuen Ziel angekommen, findet der Ermittler eine junge und äußerst lebendige Frau vor, die genauso aussieht wie die verstorbene Claire Gravesend einschließlich der seltsamen Narben auf dem Rücken. Nachdem in Crowes Wohnung eingebrochen und sein Büro verwanzt wurde, hat er das Gefühl, in ein Wespennest gestochen zu haben und einer viel größeren Sache auf der Spur zu sein.

Lee Crowe arbeitet als privater Ermittler, seit er seine Zulassung als Anwalt und auch seine Ehefrau verloren hat. Nur am Rande erfährt man, dass er handgreiflich gegenüber dem Obersten Richter wurde, mit dem seine Exfrau Juliette nun zusammen ist. Es spielt für die Geschichte auch keine große Rolle. Typisch für eine Detektivstory wird aus der Ich-Perspektive des Privatschnüfflers erzählt. Dieser hat kein Problem damit, sich auch mal die Hände schmutzig zu machen, geht der Polizei gerne, einer Schlägerei dagegen nie aus dem Weg. Crowe ist ein cleverer Typ, der sich meistens zu helfen weiß, wenn auch oft am Rande der Legalität. Kestrel zeigt uns hier die klassische Figur eines coolen Einzelgängers, immer einen lässigen Spruch auf den Lippen, mitunter zynisch, illusionslos aber auch total einsam.

„Er hat mir gesagt, dass Sie einen flexiblen Umgang mit Regeln pflegen“, sagte Olivia. „Dass Sie einen verbissener Dreckskerl sind. Jetzt weiß ich, was er gemeint hat.“ „Von wem reden Sie?“ „Von Jim Gardner.“ „Das hat Jim gesagt? So nett redet er sonst nie über mich.“ (Auszug Seite 328)

Das düstere Cover mit der Golden Gate Bridge fällt sofort ins Auge und erinnert in seiner Gestaltung an den Vorgänger, ein wahres Krimi-Juwel des letzten Jahres. Dabei ist „Bis in alle Endlichkeit“ im Original unter dem Titel „Blood Relations“ bereits 2019 erschienen und gar nicht mit dem epischen und mehrfach ausgezeichneten Werk „Fünf Winter“ zu vergleichen sowie auch einem ganz anderen Genre zugehörig. Wir haben es hier mit einem klassischen Hardboiled zu tun. Dabei hat der Autor die traditionelle Detektivfigur in die Gegenwart und damit in ein modernes Setting transferiert.

Meine Meinung
Obwohl man früh ahnt, wohin die Reise geht, hatte mich James Kestrel durch seinen flüssigen und bildhaften Schreibstil von der ersten Seite an am Haken. Besonders gut gefallen hat mir der Witz in den rotzig-geschliffenen Dialogen. Als Leserin verfolgte ich atemlos die nachvollziehbaren Ermittlungsarbeiten, staunte über falsche Fährten und überraschende Twists, genoss die Verfolgungsjagden per Auto und Hubschrauber, fieberte mit bei den Kampfszenen und Explosionen. Ein düsterer Pageturner, knapp und mit viel Tempo erzählt, der mich bestens unterhalten hat.
Das Ende und auch das Nachwort deuten weitere Fälle um Leland Crowe an. Ich würde mich freuen, denn das Zeug zum Serienermittler hat er auf jeden Fall.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Bis in alle Endlichkeit | Erschienen am 09. September 2024 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-51847-435-8
430 Seiten | 20,- Euro
Originaltitel: Blood Relations | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Lux
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Andys Rezension zu „Fünf Winter“ von James Kestrel

Best of 2024

Best of 2024

Bevor wir ins frische Krimijahr starten, werfen wir natürlich traditionell einen Blick zurück auf das vergangene Jahr und präsentieren euch unsere Lieblingskrimis aus 2024. Wir haben unser Pensum aus dem Vorjahr nicht ganz halten können, aber dennoch genug Auswahl, um euch jeweils eine Top 3 zu präsentieren. Beginnen wir mit Andys Empfehlungen.

Andys Top 3 in 2024

Da sind wir wieder am Jahresende und werfen einen Blick zurück auf das Lesejahr 2024. Quantitativ gar nicht so schlecht, noch nie habe ich so viele Bücher gelesen und gehört wie dieses Jahr. Es hätten noch mehr sein können, aber einige Sportereignisse wollten auch konsumiert werden. Qualitativ leider viel Durchschnittliches, besonders im Hörbuch-Segment habe ich noch nie so viel abgebrochen. Aber es gab auch verlässlich Gutes wie Don Winslows letzten Roman und Abschlussband seiner Mafia-Trilogie „City in Ruins“, in dem er seinen Helden auf eine Reise über Las Vegas bis zum Ursprung Rhode Island schickt. Oder neu Entdecktes wie „Das Haus am Gordon Place“, ein spannender Spionage-Thriller auf zwei Zeitebenen, der uns in die Abwasserkanäle des Wiener Untergrunds führt von Karina Urbach. Eine Autorin, die ich definitiv im Auge behalten werde. Die Höchstwertung mit voller Punktzahl gab es tatsächlich nur einmal und zwar für …

Hervé Le Corre – Durch die dunkelste Nacht
Der in Frankreich bereits mehrfach preisgekrönte Autor hat einen realistischen Polizeiroman vorgelegt, in dem wir drei Menschen durch die Nacht begleiten, deren Schicksale sich im Laufe der Seiten kreuzen. Selten passte ein Titel besser. Es wird immer düsterer und bitterer mit nur wenigen Hoffnungsschimmern. Trotzdem hat mich der Thriller in den Bann gezogen, klebte ich aufgrund der Sprachkraft an den Seiten. Das lag an den präzisen Dialogen, einfühlsamen Beobachtungen, kein Wort wollte ich missen. Ein außergewöhnlicher Roman von hoher literarischer Substanz. Gnadenlos und desillusioniert.

Rebecca F. Kuang – Yellowface
Ganz anders dagegen hat mich der rasante Verlagswelt-Thriller des aktuellen Shooting-Stars der amerikanischen Buchwelt überrascht, in dem eine erfolglose Autorin das Werk einer verstorbenen Autorin als ihres ausgibt und wie nach Riesenerfolg plötzlich die Stimmung kippt. Wie lässig Kuang Themen wie Aneignung fremder Werke, Alltagsrassismus und kulturelle Aneignung zur Sprache bringt, dazu die Einblicke in die Verlagswelt und für mich besonders interessant in die Rezensionskultur der Sozialen Medien hat mich begeistert, auch wenn die Geschichte zum Ende hin etwas schwächelt. Pointiert und scharfzüngig.

James Kestrel – Bis in alle Endlichkeit
Zum Jahresende noch ein Highlight, dessen ausführliche Buchbesprechung im neuen Jahr nachgeliefert wird. Ganz anders als „Fünf Winter“ hat mich der Autor trotzdem wieder mit seinem bildhaften Erzählstil begeistert und scheint sich zu einem neuen Lieblingsautor zu mausern. Wir haben es hier mit einem klassischen Hardboiled zu tun, in dem der Autor die traditionelle Detektivfigur in die Gegenwart und damit in ein modernes Setting transferiert. Atemlos habe ich die Ermittlungsarbeiten des coolen Einzelgängers in San Francisco verfolgt und bei den Verfolgungsjagden mitgefiebert. Lässig und temporeich.

Gunnars Top 3 in 2024

Rein intuitiv würde ich sagen, dass ich schon bessere Lesejahre hatte als 2024. Viele Highlights hatte ich ausnahmsweise bei Sachbüchern (außerhalb des Krimibereiches), die ich in diesem Jahr immer mal gelesen habe. Hinzu kommen zwei starke Romane, die ich im Januar und Februar gelesen habe, die aber schon 2023 erschienen sind und daher im meiner Wertung nicht mehr auftauchen. Doch „Der letzte Wolf“ von S.A. Cosby und „Primat des Überlebens“ von Les Edgerton seien an dieser Stelle trotzdem nochmal empfohlen. Ebenfalls nochmal ans Herz legen möchte ich die Reihe um die Skelfs, Bestattungsunternehmerinnen und Privatdetektivinnen aus Edinburgh, von Doug Johnstone, von der im November Band 3 erschienen ist. Ebenso wie bei Andy habe auch ich nur einmal die volle Punktzahl vergeben, sodass dies hier eindeutig mein Krimi des Jahres ist:

Lavie Tidhar – Maror
Ein epischer Roman voller Wucht und Härte, in der mehrere Jahrzehnte der israelischen Staatsgeschichte neu erzählt werden, nämlich als Geschichte von Korruption, Realpolitik und Verwebungen zwischen staatlichen Akteuren und organisiertem Verbrechen. Wie eine Spinne im Netz sitzt der Kriminalbeamte Cohen. Eine bittere Reise durch die israelische Geschichte mit bemerkenswerter Akribie in Sachen Schauplätze, historische Ereigisse und Popkultur. Der israelische Autor Lavie Tidhar hat diesen Roman in englischer Sprache verfasst. Eine Übersetzung ins Hebräische gibt es bislang nicht, der Autor selbst hält sein Land dafür noch nicht reif.

Alan Parks – Die April-Toten
Eine Reihenfortsetzung, auf die ich mich in diesem Jahr sehr gefreut habe und die meine Erwartungen nicht enttäuscht hat, war dieser vierte Band um den Glasgower Cop Harry McCoy in den 1970er Jahren. Zunächst erschienen die ersten drei Bände bei Heyne Hardcore, nach der Schließung des Verlags war unklar, was mit den weiteren Büchern der Reihe passiert. Nun hat die Reihe eine Heimat im Polar Verlag gefunden. Band 4 führt den Reiz der bisherigen Bände nahtlos weiter: Ein hartgesottener Bulle, die düsteren Seiten Glasgows, staubtrockene Dialoge, temporeich, schwarzer Humor und viele historische und popkulturelle Anleihen. Harry McCoy is back und das ist gut so.

Holger Karsten Schmidt – Finsteres Herz
Zuletzt bringe ich noch einen deutschsprachigen Autor in die Top 3. Holger Karsten Schmidt hat nach die Toten von Marnow erneut seine Ermittler Mendt und Elling zum Einsatz gebracht und einen sehr klugen und packenden Krimi über Menschenhandel geschrieben. Besonderer Kniff sind die Actionszene mit dem Schusswechsel in einem Safe House direkt zu Beginn des Buches und die zahlreichen Rückblenden und Zeitsprünge, denn die Protagonisten sind aufgrund derAnfangsszene schnell außer Gefecht gesetzt. Diese Roman wurde auch vom Autor selbst fürs Fernsehen adaptiert und lieferte die vielleicht beste öffentlich-rechtliche Krimiserie des Jahres ab.

 

Weiterlesen I: Die Preisträger des Deutschen Krimipreises 2024

Weiterlesen II: Die Krimijahresbestenliste 2024