Autor: Nora

Len Deighton | SS-GB

Len Deighton | SS-GB

Eine sehr hohe Zahl von Alternativweltgeschichten kreist um die Nationalsozialisten. Insbesondere ist bei vielen Autoren die Ausgangsposition beliebt, dass die Nazis den 2. Weltkrieg gewonnen haben. Der britische Autor Len Deighton lässt seinen 1978 erschienenen Roman „SS-GB“ Ende 1941 spielen. Seine Prämisse: Nazi-Deutschland hat Großbritannien besiegt und den Südteil besetzt, mit der Sowjetunion herrscht Frieden. Winston Churchill wurde exekutiert, der König ist im Tower interniert. Es existiert eine Exilregierung in den USA, die jedoch von den Amerikanern nicht anerkannt wird.

Auch Scotland Yard wird nun von einem Deutschen geführt, SS-Gruppenführer Kellermann. Dieser hat die alten Strukturen der Behörde aber weitgehend beibehalten. Douglas Archer ist Detective Superintendent und damit ranghöchster Kriminalbeamter. Archer ist trotz seines mittleren Alters schon eine Legende aufgrund der Aufklärung einiger spektakulärer Mordfälle in den vergangenen Jahren. Auch Kellermann hält große Stücke auf Archer, der sich um die unpolitischen Kriminalfälle und die Fälle, in denen keine Deutschen involviert sind, kümmert. Zusammen mit seinem Kollegen und väterlichem Freund Harry Woods wird Archer zu einem Mordfall an einem Antiquitätenhändler gerufen. Ein Mord im Schwarzmarktmilieu ist nicht ungewöhnlich, doch die Begleitumstände machen Archer stutzig. Eine seltsame Zugfahrkarte, ungewöhnliche Brandwunden am Opfer, eine amerikanische Journalistin, die plötzlich mitten bei den Mordermittlungen als angebliche Kundin auftaucht. Zur Bestätigung, dass es sich um etwas Großes handelt, kommt am nächsten Tag dann auch SS-Standartenführer Huth aus Berlin auf, der direkt Himmler unterstellt ist und den Fall übernimmt, aber Archer als Ermittler behält. Nach und nach wird klar, mit was der vermeintliche Antiquitätenhändler zu tun hatte und das bringt Archer in eine gefährliche Lage zwischen SS, Wehrmacht und Widerstand.

Autor Len Deighton wurde 1929 als Sohn eines Chauffeurs und eine Köchin geboren, arbeitete nach dem zweiten Weltkrieg für die Royal Air Force und konnte nach seiner Dienstzeit mit einem Stipendium studieren. Er arbeitete u.a. als Fotograf und Illustrator, bis er 1962 seinen Durchbruch mit „The Ipcress File“ hatte. Neben Spionageromanen, Thrillern und kriegshistorischen Romanen veröffentlichte er auch Kochbücher. „SS-GB“ verbindet mehrere seiner bevorzugten Sujets mit einem alternativen Geschichtsverlauf und wurde 1978 veröffentlicht. 2017 zeigte die BBC eine Miniserie nach dem Roman mit Sam Riley, Kate Bosworth und Lars Eidinger in den Hauptrollen.

Huth wirbelte mit seinem Stock durch die Luft, „Jede Zuwiderhandlung gegen diesen Befehl“, sagte er, „ist nicht nur ein Kapitelverbrechen gemäß § 134 der Militärgesetze des Oberkommandos Großbritannien, das vor dem Erschießungskommando endet, sondern auch ein Kapitalverbrechen gemäß § 11 Ihrer eigenen Gesetze, im Einvernehmen mit der deutschen Besatzung erlassen 1941, das mit dem Galgen im Wandsworth-Gefängnis bestraft wird.“
„Kommt das Erschießen zuerst oder das Erhängen?“, fragte Douglas.
„Wir müssen der Justiz ja schließlich auch noch eine Entscheidung überlassen“, entgegnete Huth. (Auszug S.79)

Solche spitzfindig-zynischen Dialoge finden sich zwar ein paar im Roman, für meinen Geschmack aber noch zu wenige. Len Deighton verliert sich regelmäßig in langen ausführlichen Beschreibungen von Nebensächlichkeiten, ohne auf den Punkt zu kommen. Die Grundidee des Plots ist auf jeden Fall spannend. Die schwierige Entscheidung zwischen Dienst nach Vorschrift (Kollaboration) und Widerstand, Täuschung und Verrat spielen eine wichtige Rolle im Roman. Auch interessant ist das sehr schwierige Verhältnis zwischen Wehrmacht und SS bei den Deutschen.

Das gehört zu den Stärken des Romans, der mich dennoch nicht ganz überzeugt hat. Und dies liegt vor allen an den Hauptfiguren, die (ausgenommen die Deutschen) ziemlich blass bleiben. Douglas Archer wirkt wie ein Mann ohne Eigenschaften. Witwer mit einem jungen Sohn, erfolgreicher, angesehener Polizist. Aber wofür er steht, was bewegt ihn, seine Konflikte zwischen Kollaboration und Widerstand – das gelingt dem Autor nicht aus der Figur herauszubringen. Auch sein „Love Interest“, die Journalistin Barbara Braga, bleibt für den Leser undurchsichtig und in ihrem Beitrag für die Handlung überschaubar. So bleibt „SS-GB“ für mich eine gute Idee mit einem interessanten Plotrahmen, dem es jedoch an einigen Details für einen richtig guten Roman mangelt.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

SS-GB | Erstmals erschienen 1978
Die aktuelle Taschenbuchausgabe erschien 2017 im Heyne Verlag
ISBN 978-3-453-43931-3
446 Seiten | 9,99 €
Originaltitel: SS-GB | Übersetzung aus dem Engischen von Kurt Wagenseil und Ursula Pommer
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Diese Rezension erscheint im Rahmen des Genrespezials Alternativweltgeschichten.

Andreas Eschbach | NSA – Nationales Sicherheits-Amt

Andreas Eschbach | NSA – Nationales Sicherheits-Amt

Andreas Eschbach spielt in seinem Thriller “NSA – Nationales Sicherheits-Amt” mit der Idee, dass es in der Zeit des Dritten Reichs bereits die perfekte Überwachungstechnik gegeben hat. Im 19. Jahrhundert hat sich in Großbritannien eine mechanische Computertechnik entwickelt, die zu Beginn des 20. Jahrhundert elektrisch wurde. Unter der Prämisse, Charles Babbage hätte seine analytische Maschine tatsächlich gebaut, entstand ein dem Internet vergleichbares Netzwerk, das in groben Zügen nach dem gleichen Prinzip funktioniert wie das uns bekannte Internet und das die gleichen Konsequenzen nach sich zog. In Eschbachs Alternativwelt ist die Entwicklung von Smartphones, bargeldlosem Zahlen per Handy, Handyortung bereits vor der Machtergreifung Hitlers vorhanden. Dabei verknüpft der Autor historische Fakten der deutschen Geschichte von 1933 bis 1945 mit der Technologie des Internets und Mobiltelefone unserer Zeit. Aufgrund der totalen Überwachung können alle Geldströme lückenlos nachverfolgt werden. Niemand kann sich mehr verstecken und dem Zugriff von SS und Wehrmacht entziehen.

Programmieren ist Frauensache!
Die Aufgabe, die eigene Bevölkerung flächendeckend zu überwachen ist die Aufgabe des NSA, des Nationalen Sicherheitsamtes, in dem die junge Helene Bodenkamp als Programmstrickerin arbeitet. Programme werden gestrickt, denn Programmieren ist Frauensache. Hier geht sie 1942 in Weimar ihrer Arbeit nach, ohne viel über die Konsequenzen nachzudenken. Das Buch startet sehr verstörend mit einem Szenario, in dem der Autor gleich historisch bekannte Ereignisse mit einbaut. Ein von Helene entwickeltes Programm wird getestet. Mit Hilfe von Datenabgleichen werden mittels Kontobewegungen und Kalorienverbrauchstabellen eventuelle Verstecke von untergetauchten Personen ausfindig gemacht. Das Programm wird Heinrich Himmler vorgestellt und als zu demonstrierende Stadt zufällig Amsterdam ausgewählt. Als dadurch jüdische Familien wie die von Anne Frank aufgespürt und deportiert werden, merkt Helene bestürzt zum ersten Mal, was sie mit ihren herausragenden Programmierkünsten anrichtet. Ihr Vorgesetzter, der Analyst Eugen Lettke verfolgt mit den Kenntnissen, die er aus den Datenabfragen ziehen kann, seine persönlichen Interessen.

Misogynie und Fahnenflucht
Danach wird erstmal das Tempo rausgenommen und in einem Rückblick die historische Entwicklung bis etwa 1938 dargestellt. In über 200 Seiten werden auch unsere Hauptfiguren Helene und Eugen ausufernd vorgestellt und wir erfahren alles über ihre Kindheiten und wie sie zum NSA gekommen sind. Für meinen Geschmack war dieser Erzählstrang viel zu lang. Helene Bodenkamp, Tochter eines Arztes ist gezeichnet als das klassische Klischee der grauen Maus. Bescheiden, naiv, mit analytischem Verstand besitzt sie ein großes Talent zum Programmieren. Eugen Lettke ist der Antagonist, er ist durchtrieben, menschenverachtend und ein brutaler Sadist mit Mutterkomplex. Seit er in seiner Jugend von einer Gruppe junger Mädchen gedemütigt wurde, ist er auf Rache aus. Sein Job bei der Behörde ermöglicht es ihm, diese Frauen aufzuspüren, kompromittierende Geheimnisse herauszufinden, sie damit zu erpressen und zum Sex zu zwingen. Dabei wird oft erwähnt, dass der Opportunist kein ideologisch überzeugter Nazi ist, ihm geht es nur um seine zutiefst misogyne Rache an den Frauen. Die vielen Vergewaltigungsszenen waren für mich schwer zu ertragen und dienten nach meinem Empfinden lediglich dem Schockeffekt. Eschbach, der die Handlung in der dritten Person abwechselnd von Helene und Eugen berichtet, wählt in den Fällen sexueller Gewalt grundsätzlich die Täterperspektive. Dabei fand ich Formulierungen wie „es jemanden besorgen“ oder „jemand hart ran nehmen“ problematisch.

Die schüchterne, unpolitische Helene, die sich bisher fraglos in das vorgeschriebene Rollenmuster eingefügt hat, lernt einen Mann kennen und verliebt sich. Als dieser Arthur Fahnenflucht begeht und untertauchen muss, regen sich bei ihr Zweifel am System und sie hilft ihm. Da es für das NSA ein leichtes wäre, ihn ausfindig zu machen, braucht Helene ihren ganzen Mut und ihre Intelligenz, um das zu verhindern. Ihre dem Nationalsozialismus ergebenen Eltern setzen allerdings alles daran, sie mit einem SS-Offizier zu verkuppeln. Dieser Ludolf von Argensleben, ein überzeugter Antisemit wird derart ekelerregend mit körperlichen Deformationen beschrieben, dass ich nur mit dem Kopf schütteln konnte. Als sich Eugen Lettke die Gelegenheit bietet, verwickelt er Helene in seine Machenschaften und sie wird zu Geheimprojekten höchster Priorität hinzugezogen. Diese hat keine andere Wahl, wenn sie verhindern will, dass ihr Geliebter auffliegt und exekutiert wird.

Fazit
Andreas Eschbach, der vor allem durch seinen Thriller „Das Jesus-Video“ und der Fortsetzung „Der Jesus-Deal“ bekannt wurde, behandelt in seinem kontrafaktischen Roman ein erschreckendes Gedankenexperiment, was passiert wäre, wenn die Welt ebenso vernetzt gewesen wäre, wie sie es heute ist, mit all den Konsequenzen für Kommunikation, Überwachung, Konsum und Politik. Das macht „NSA“ phasenweise zu einer durchaus beklemmenden Lektüre, die für mich jedoch mit fast 800 Seiten einige Längen aufwies. Dabei fand ich seine deutschen Entsprechungen für uns bekannte Worte im Zusammenhang mit digitaler Technik durchaus passend. Das Internet ist das Weltnetz, Computer heißen Komputer und Server Datensilos. Es gibt schnurlose Telefone, genannt Volkstelefone oder kurz VoTels und E-Mails sind Elektrobriefe. Dabei sind Sprache und Erzählstil eher schlicht und wenn es um die Liebesgeschichte geht, zum Fremdschämen. Die Charaktere waren mir zu stereotypisch gestaltet, die Handlung stellenweise zu rührselig oder platt und dadurch wurde das Potential der Grundidee nicht ausgenutzt. Das größte Problem war für mich, dass die Grausamkeiten der Nationalsozialisten leider nur dem vordergründigen Thrill dienten sowie die größten Verbrechen unserer Geschichte perfide ausgeschlachtet wurden und ich das Gefühl nicht los wurde, dass sich an dem Leid der Opfer bedient wurde.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

NSA Nationales Sicherheits-Amt | Die aktuelle Taschenbuchausgabe erschien am 28.02.2020 im Lübbe Verlag
ISBN 978-3-4041-7900-8
800 Seiten | 14,90 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Diese Rezension erscheint im Rahmen des Genrespezials Alternativweltgeschichten.

Andreas Pflüger | Wie sterben geht

Andreas Pflüger | Wie sterben geht

Die Brücke lag im Dunkel. Auf dem See tanzten die Lichter von Booten im wirbelnden Schnee. Hier war sie, die Bühne für die größte Show, die der Kalte Krieg zu bieten hatte. … Hüben und drüben mussten an die zweihundert Personen mit dem Austausch beschäftigt sein. Alles für nur zwei Männer, von denen der eine Ehre besaß und der andere die Giftspritze verdient hätte. (Auszug Seite 21-22)

Ein guter Film fängt mit eine Explosion an, um sich dann langsam zu steigern. Ein Zitat, das Billy Wilder nachgesagt wird, und genau das hat, der auch als Drehbuchautor bekannte Schriftsteller Andreas Pflüger, beherzigt. Gleich zu Beginn seines Thrillers kommt es auf der Glienicker Brücke in Berlin zu einem spektakulären Agentenaustausch. Es ist 1983, tiefster Winter, als der KGB-Offizier und Doppelagent Rem Kukura gegen den Sohn eines Politbüromitglieds ausgetauscht werden soll und alles, wirklich alles schiefgeht. Nina Winter soll die Übergabe begleiten, da nur sie den Moskauer Top-Agenten Kukura mit dem Decknamen „Pilger“ identifizieren kann. Die Situation eskaliert und stellt die Supermächte dieser Welt vor neue Herausforderungen, jeder falsche Schritt könnte einen Atomkrieg auslösen.

Regeln des Agentenhandwerks
Rückblick vier Jahre zuvor: Nina Winter arbeitet als Analystin beim BND im bayerischen Pullach, als sie das Angebot bekommt, als „Verbindungsoffizierin“ eine sogenannte Quelle in Moskau zu führen. Ihre Aufgabe ist es, vor Ort zu sein und alles an Informationen entgegenzunehmen, was diese Quelle liefern kann. Nina ist völlig perplex, denn Rem Kukura ist ein sogenannter „Pink Star“, der den Westen mit wertvollsten Informationen versorgt. Er hat explizit sie verlangt und seine weitere Zusammenarbeit mit Deutschland von ihrer Zusage abhängig gemacht. Die unerfahrene aber ehrgeizige Winter sieht es als Chance ihres Lebens und begibt sich auf eine kurze, intensive Schulung. Das Erlernen des Handwerks einer Spionin wird als Ninas erste Herausforderung eingehend beschrieben. Nach dem spektakulären Auftakt wird erst mal das Tempo rausgenommen und wir lernen mit Nina die wichtigsten Überlebensstrategien. Die Versetzung nach Moskau gleicht einem Himmelfahrtskommando, denn von Anfang an weiß die Gegenseite über ihre Tätigkeit Bescheid und sie gerät in das Visier brutaler sowjetischer Militärs, die ihr nur zu gerne zeigen wollen, „Wie sterben geht.“ Ein Prinzip der Agententätigkeit lautet: Lass dich nie emotional auf eine Quelle ein. Und doch tut sie genau das, sie baut Vertrauen zu Pilger auf und verliebt sich in dessen Sohn Leo, einem ehemaligen Star-Boxer. Nina beschließt, Vater und Sohn aus Russland herauszuholen.

Immer wenn sie in dieser Station die mit Edelstahl verblendeten, federleicht wirkenden Bögen sah, wurden ihr die Pole bewusst, zwischen denen Moskau ständig oszillierte. Not und Verschwendung. Hochmut und Sehnsucht. Leere und Fülle. Wahrheit und Lüge. (Auszug Seite 166)

In diesem anspruchsvollem Polit-Thriller nimmt uns Andreas Pflüger mit auf eine spannende Zeitreise, die gleichzeitig erschreckend aktuell ist. Penibel recherchiert und mit viel Hintergrundwissen sowie Ortskenntnis brilliert der Autor in detaillierten Schilderungen der 80er Jahre sowie ausführlichen Abläufen deutscher und sowjetischer geheimdienstlicher Tätigkeiten. Schließlich unterhält Pflüger freundschaftliche Beziehungen zu Personen vom BND und BKA, wie er auf einer Lesung verriet. Es ist die Hochphase des Kalten Krieges. Zwischen atomarem Wettrüsten und Nato-Doppelbeschluss, Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan sowie dem Boykott der Olympischen Sommerspiele in Moskau begleiten wir Nina in ihrer Zeit durch Moskau. Man bestaunt mit der jungen Frau die Gegensätze des Moskauer Stadtbilds, das Nebeneinander von Protz und Plattenbau, die leeren Prospekte, die Schlangen vor den Läden. Man zittert mit ihr vor der eisigen Kälte aber auch vor Angst aufgrund der permanenten Unsicherheit des Agentenlebens mit einer falschen Identität und kann nur mutmaßen, wer Feind und wer Freund ist. Das ständige Misstrauen, die permanente Wachsamkeit waren für die Leserin fast körperlich spürbar.
Der Wechsel in den Zeiten baut zusätzlich Spannung auf. Dabei verliert Andreas Pflüger nie den roten Faden aus den Augen. Mit dem richtigen Gespür für Dramaturgie zelebriert er sein raffiniertes Spiel von Vertrauen und Misstrauen, Täuschung und Verrat. Filmreife Actionszenen wechseln sich mit beklemmenden Verhörsituationen und klug prägnanten Dialogen ab. Pflüger konnte mich auch sprachlich und mit seinen treffenden Metaphern begeistern, seine Sätze haben Rhythmus und erzeugen Tempo, sind rotzig frech oder lyrisch verdichtet aber immer präzise.

Wie Thriller geht
Als großer Fan der Jenny Aaron Trilogie interessierte mich der neue Thriller von Andreas Pflüger sehr. Das Cover mit der stilisierten Glienicker Brücke hat mich zusammen mit dem Klappentext gleich in den Bann gezogen. Der Thriller fesselt von der ersten Seite und erzählt atemlos ein hochspannendes Abenteuer aus der Welt der Spionage voller Intrigen und dunkler Geheimnisse. Mit Nina Winter hat Pflüger nach der blinden Elitepolizistin Aaron eine weitere weibliche Superheldin erschaffen. Sie spricht 6 Sprachen, läuft täglich Marathonstrecken und ist jedem ihrer meist männlichen Verfolgern an Fitness überlegen. Ihr Weg von der Schreibtischtäterin und Lyrikliebhaberin zur Top-Agentin des BND wirkt lebendig und vielschichtig. Wie bei jedem Spionageroman darf man nicht in seiner Konzentration nachlassen, denn schnell kann man sich dabei in dem dichten Personen- und Handlungsgeflecht aus BND-Mitarbeitern, Agenten, Psychopathen und Killern, historischen Figuren und normalen Bürgern verirren. Meine Erwartungen waren sehr hoch, aber Andreas Pflüger weiß einfach, wie Thriller geht. Ganz großes Kino!

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Wie Sterben geht | Erschienen am 09.10.2023 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-43150-4
448 Seiten | 25,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen I: Alf Mayer im Gespräch mit Andreas Pflüger im Crimemag

Weiterlesen II: Weitere Rezensionen zu Romanen von Andreas Pflüger

Ellen Dunne | Unfollow Stella (Band 4)

Ellen Dunne | Unfollow Stella (Band 4)

Die Münchner Kommissarin Patsy Logan scheint endgültig in ihrer zweiten Heimat Dublin gestrandet. Nach diversen Problemen sowohl auf ihrer Dienststelle bei der Kripo als auch mit ihrem Mann war Patsy zu ihrer Cousine nach Dublin gefahren, um dort den Kopf frei zu bekommen. Und um dort gleich mal in Ermittlungen verwickelt zu werden (siehe Band 3 „Boomtown Blues“). Nun hat sich die Pandemie auch in Irland breit gemacht und die Probleme scheinen sich nicht aufzulösen, vielmehr ist die Ehe am Ende und eine Rückkehr zur Münchner Kripo scheint von ihrem ehemaligen kollegialen Freund Stani, der nun die Dienststelle leitet, nicht mehr gewünscht.

Somit spricht für Patsy nichts dagegen, erneut vom österreichischen Attaché Sam Feurstein bei einer unangehnehmen Angelegenheit hineingezoge zu werden. Die junge Österreicherin Stella Schatz lebt seit einiger Zeit in Dublin und wird von ihrer Familie seit kurzem vermisst. Stella war vor allem mit ihrem Bruder, der in Singapur lebt, in regelmäßigem Austausch und auch sonst in Social Media relativ aktiv. Doch seit einiger Zeit herrscht totale Funkstille. Feurstein möchte das Verschwinden gerne lösen, ohne offiziell die irische Polizei um Mithilfe bitten zu müssen.

Stellas Spur führt zu ihrem letzten Arbeitgeber, einer Firma, die für einige großen Social Media-Player den Content nach anstößigem Material durchforstet und solches dann entfernt. Ein Knochenjob, den Stella jedoch offenbar zur Zufriedenheit aller erledigt hat. Der Arbeitgeber tut auch relativ harmlos, behauptet, Stella hätte Urlaub genommen und würde schon wieder auftauchen. Doch Patsy spürt, das da etwas nicht stimmt, verbeißt sich in den Fall und ist sich sicher, dass Stellas Verschwinden irgendetwas mit ihrer Arbeit in den dunklen Sümpfen des Netzes zu tun hat.

Sie quietschte wehleidig beim Öffnen. Elektrische Zahnbürste, Stückseifen, ein Kulturbeutel voll veganer Schminksachen, Gesichtscreme für die Haut ab 30. Ausnahmslos Marken aus deutschen Drogeriemarktketten. Ich ertappte mich bei einem Lächeln. Ja, die vermisste ich auch.
Apropos. Nirgendwo in diesem Zimmer schien etwas zu fehlen. Alle Schubladen quollen über mit Sachen. Unter dem Bett sammelte ein großer Koffer Staub, daneben noch ein kleiner.
Als hätte sich Stella Schatz in Luft aufgelöst. (Auszug S.60)

Mit dem dritten Band „Bowntown Blues“ hatte die österreichische Autorin Ellen Dunne, die seit langem in Irland lebt, der Reihe um Patsy Logan nochmal einen richtigen Schub verpasst, der auch prompt mit den „Glauser“ 2023 für den besten Roman belohnt wurde. Und Ellen Dunne kann durchaus daran anknüpfen, stellt ihre von einer Art Midlife-Crisis gebeutelte Kommissarin als Ich-Erzählerin in den Mittelpunkt, die allerdings lakonisch-ironisch-schlagfertig ihren und den Zustand ihrer Umgebung kommentiert. Außerdem traut die Autorin sich, der ungeschriebenen Krimiregel zu trotzen, dem Leser möglichst schnell eine Leiche zu präsentieren. Allzu lange bleibt der Leser im Ungewissen, ob Stella Schatz wirklich verschwunden ist und ob überhaupt hier irgendwo ein Verbrechen vorliegt.

Doch dass hier etwas im Argen liegt, wird durchaus klar gemacht. Zentrales Thema ist der ungebremste Content-Overkill in diversen sozialen Netzwerken und der rettungslos verzweifelte Versuch, pornografisches, gewalttätiges, volksverhetzendes oder allgemein für die Werbekunden anstößiges Material von den Seiten zu entfernen. Hierzu hat sich ein gar nicht mehr so kleines und lukratives Gewerbe etabliert, dass allerdings relativ präkere Arbeitsbedingungen geschaffen hat und die Mitarbeiter permanent mehr als verstörendem Content aussetzt. Was das mit den Personen macht, die natürlich keine oder nur unzureichende psychologische Betreuung erfahren, das ist eine Erkenntnis aus diesem Krimi. Somit bleibt auch „Unfollow Stella“ dem guten Weg der Reihe treu und sei allen Lesern empfohlen, die neben einer interessanten Hauptfigur mit allerlei Blessuren im Gepäck auch von gesellschaftlich relevanten Themen in ihrem Krimi lesen wollen.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Unfollow Stella | Erschienen am 30.09.2023 im Haymon Verlag
ISBN 978-3-7009-7965-5
312 Seiten | 13,95 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu den Romanen von Ellen Dunne

Rebecca Makkai | Ich hätte da ein paar Fragen an Sie

Rebecca Makkai | Ich hätte da ein paar Fragen an Sie

Und dann die Art, wie Thalia starb – wie ihr Körper misshandelt worden war – und ins Wasser geworfen – jedes Mädchen bloß ein Körper, den man benutzen und entsorgen konnte – einen Körper zu haben schon genug, um von ihnen begrapscht zu werden – einen Körper zu haben schon genug, um von ihnen vernichtet zu werden – (Auszug Pos. 5064)

Vor über zwanzig Jahren wurde in einem Internat in New Hampshire die Schülerin Thalia Keith ermordet, der mutmaßliche Täter sitzt seitdem in Haft. Bodie Kane, die die Tragödie hautnah miterlebte, ist mittlerweile eine erfolgreiche Medienwissenschaftlerin. Zusammen mit einem Co-Moderator betreibt sie einen bekannten Podcast, in dem sie sich mit Frauen im Filmgeschäft beschäftigt, die einem Verbrechen zum Opfer gefallen sind. Als sie eingeladen wird, an ihrem ehemaligen College als Gastdozentin zwei Wochen lang einen Kurs übers Podcasten zu geben, tut sie das mit gemischten Gefühlen. Anfang der 90er Jahre war sie 4 Jahre in dem elitären Internat Granby. Diese Zeit war von schrecklichen Ereignissen überschattet. Da sie nicht zur Upperclass der US-Gesellschaft oder zu den wohlhabenden Auslandsstudenten gehörte, hatte sie es als Außenseiterin mit DocMartens und schwarz umrandeten Augen nicht leicht und wurde von einigen Jungs gemoppt. Trotzdem war das tief in den Wäldern gelegene Internat auch eine Heimat in Zeiten schwerer privater Krisen. Erinnerungen kommen hoch an den Mord an ihrer Zimmergenossin Thalia Keith, als eine ihrer Schülerinnen sich genau diesen Mord als Thema ihres Podcasts aussucht.

Unschuldig im Gefängnis?
Trotz dünner Beweislage wurde damals der schwarze Sporttrainer Omar Evans festgenommen. Sein Geständnis, scheinbar erzwungen, nahm er nach einigen Tagen zurück, doch da war es schon zu spät. Er wurde verurteilt und sitzt seit 20 Jahren hinter Gittern. Die Ereignisse werden auch durch ein Video wieder aufgewühlt, das Thalia Keith während einer Schulaufführung des Musicals Camelot zeigt. Es ist das letzte Mal, dass die beliebte Schönheit lebend zu sehen sein wird, denn kurz darauf wird sie ermordet im Schwimmbad aufgefunden. Bodie gerät zunehmend in einen Sog, der sie über die vergangenen Ereignisse nachdenken lässt. Sie vermutet, dass bei der Aufklärung nicht alle Details geklärt wurden. Sie hinterfragt auch ihre eigene Rolle bei den Befragungen im Umfeld des Opfers nach der Tat, denn eventuell hat sie durch ihre Aussage die Ermittlungen in eine falsche Richtung gelenkt. Zweifel werden geweckt, ob der richtige Täter verurteilt wurde und ihre Schüler*innen wollen das Verbrechen in dem Podcast neu aufrollen und beweisen, dass der Inhaftierte unschuldig einsitzt. Bodie ermutigt ihre Schüler*innen dabei und wird wieder mit ihrer Schulzeit konfrontiert, die sie als scharfe Beobachterin verbracht hat.

True-Crime-Podcasts
Die Geschichte wird allein aus Bodies Blickwinkel erzählt. Wir erfahren nur, was Bodie weiß oder uns wissen lässt. Das macht die Geschichte zu einer sehr persönlichen Angelegenheit, denn sie rechnet erbarmungslos mit ihrer Zeit im College ab. In unregelmäßigen Abständen spricht sie einen ihrer ehemaligen Lehrer in direkter Rede an. Dieser Dennis Bloch war ein bei allen beliebter Musiklehrer, doch in der Rückschau bekommt sein Verhalten für die erwachsene Bodie eine andere Bedeutung und sie findet sein Verhalten im Nachhinein teilweise verdächtig. Bloch ist der Angesprochene im Titel, den Bodie immer wieder in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit rückt. Da ich das oft sehr spät erkannte, wurde ich immer wieder durch diese Anrede aus dem Lesefluss gerissen. Ein interessantes Stilmittel, das für mich leider nicht ganz funktionierte. Auch wenn sie spekulative Szenarien durchspielt, die jeden möglichen Verdächtigen, inklusive ihrer selbst, als Mörder dastehen lassen, bedeutete das für mich hohe Konzentration. Alte Fotos, zeitliche Abläufe und Einträge in Planers werden betrachtet und neu bewertet und wechseln sich ab mit Szenen aus dem Gefängnis und Einblicke, wie Omars Familie seinen Verlust erlebt und für seine Rehabilitation kämpft.

Ich habe eine Meinung zu ihrem Tod, eine Meinung, die mir nicht zusteht. Gleichzeitig ist mir etwas mulmig dabei zumute, dass die Frauen zum Gemeingut geworden sind, der kollektiven Fantasie ausgeliefert. Dass die Frauen, mit deren Tod ich mich beschäftige, zumeist schön und reich waren. Dass die meisten jung waren, wie uns Opferlämmer am liebsten sind. Dass ich mit dieser Fixierung nicht alleine bin. (Auszug Pos. 370)

Von der Autorin Rebecca Makkai hatte ich vor einiger Zeit „Die Optimisten“ gelesen. Der für den Pulitzer Preis und den National Book Award nominierte Roman war für mich ein Lebenshighlight. Umso gespannter war ich auf den vorliegenden Roman. „Ich hätte da ein paar Fragen an Sie“ befasst sich nur vordergründig mit einem Cold Case in einem verschneiten amerikanischen Campussetting. Vielmehr thematisiert die Autorin aktuelle sozialkritische Themen, die von sexueller Belästigung, Misogynie über Rassismus bis hin zum längst veralteten amerikanischen Klassensystem reichen. Dabei kritisiert sie auch die Ausbeutung echter Menschen zur reißerischen Unterhaltung und dass Opfer zu öffentlichem Eigentum werden.

Ich habe Makkais literarischen Schreibstil bis zum überraschenden Ende sehr genossen, auch wenn die vielen Themen den Spannungsroman grade im Mittelteil etwas überfrachten. Kein Werk, das man schnell weg lesen kann.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Ich hätte da ein paar Fragen an Sie | Erschienen am 28. September 2023 im Eisele Verlag
ISBN 978-3-9616-1173-7
560 Seiten | 28.- Euro
Originaltitel: I Have Some Questions For You | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Arbabanell
Bibliografische Angaben & Leseprobe