Attica Locke | Pleasantville (Band 2)

Attica Locke | Pleasantville (Band 2)

Attica Lockes Debütroman „Black Water Rising“, erschienen 2009 im Original und 2021 in deutscher Übersetzung im Polar Verlag war der erste Titel mit dem schwarzen Anwalt Jay Porter als Hauptfigur. Der Roman spielte in Houston im Jahr 1981. Mit „Pleasantville“ ist nun der zweite Roman mit Jay Porter in deutscher Übersetzung von Andrea Stumpf erschienen (im Original bereits 2015). Diesmal sind 15 Jahre vergangen, es ist November 1996, gerade wurde Bill Clinton erneut zum Präsidenten gewählt.

Jay Porter hatte im letzten Jahr einen schweren Schicksalsschlag. Seine Frau Bernie ist an Krebs verstorben. Nun ist er allererziehender Vater der 15jährigen Ellie und des 10jährigen Ben. Die Trauer um seine Frau ist noch allzu gegenwärtig, geht aber meist in der Arbeit und im Familientrubel unter. Jay ist inzwischen ein respektierter Anwalt, insbesondere in der schwarzen Community. Er hat wiederholt Sammelklagen gegen große Firmen wegen Umweltverschmutzung und Gesundheitsgefährdung eingereicht und dabei zumindest Vergleiche erwirkt. Allerdings kommt das Geld nicht so rein wie erhofft. Die Firmen halten Jay teilweise hin, die Kläger sind zunehmend besorgt. Seit dem Tod seiner Frau hat Jay in seinem Beruf nur noch das Nötigste unternommen, war in keinem Gerichtssaal mehr. Und irgendjemand versucht, ihm seine Mandanten abspenstig zu machen.

Im trüben Abendlicht liegen die Straßen verlassen da. Die Ledwicke Street, die Jay im Rückspiegel sieht, ist die Nord-Süd-Achse durchs Viertel. Sie führt um das Samuel P. Hathorne Community Center, das Schwimmbad und den Fußballplatz und endet an einer großen, wild überwucherten Brache. Eine der wenigen unbebauten Flächen in einer Stadt, die sich mit ihrer Geringschätzung für eine gute Stadtplanung rühmt und den Glauben an industrielles Wachstum als demokratisches Geburtsrecht begreift, das gleich nach dem Streben nach Glück kommt.“ (Auszug S.53)

Zeitgleich zur Präsidentenwahl findet in Houston auch die Wahl des Bürgermeisters statt. In die kommende Stichwahl kommen der Favorit Axel Hathorne, einst erster schwarzer Polizeichef der Stadt, der nun der erste afroamerikanische Bürgermeister werden könnte, und die Staatsanwältin Sandy Wolcott, die allerdings in den Umfragen gut aufgeholt hat. Besonders seitdem Hathorne in Verbindung zu einem umstrittenen Stadtentwicklungsprojekt gebracht wurde.

Am Abend des ersten Wahlgangs verschwindet im gutbürgerlichen, schwarzen Stadtteil Pleasantville, einer Hochburg Hathornes, das junge Mädchen Alicia Nowell. Es gibt Parallelen zu zwei getöteten Mädchen in früheren Jahren. Doch das Mädchen war Wahlkampfhelferin. Eine Nummer auf ihrem Pager und ein Wahlkampfauftritt bringt den Neal Hathorne, Neffe und Wahlkampfmanager von Axel Hathorne unter Verdacht und unter Anklage. Hathornes Kampagne droht den Bach herunterzugehen. Sam Hathorne, Vater des Kandidaten und heimlicher Herrscher über Pleasantville und viele schwarze Wählerstimmen, verlangt von Jay, das er dessen Verteidigung übernimmt. Jay wagt ein riskantes Manöver: Er will die Stichwahl gerichtlich aufschieben lassen. Ein Manöver, dass Jay sofort mehrere ernstzunehmende Drohungen einbringt. Doch diesmal ist Jay bereit zu kämpfen.

Im Morgengrauen stand er vor dem Badezimmerspiegel, musterte die blutverkrusteten Folgen des gestrigen Abends, suchte die dunkelste Stelle des dunkelsten Blutergusses, bohrte seinen Mittelfinger hinein und spürte nichts, worauf ihn ein Jahr ohne seine Frau nicht ausreichend vorbereitet hätte. Was bedeutete schon ein Kratzer auf der Oberfläche eines Körpers, der innen ausgehöhlt war? (Auszug S.247)

Wie schon der Vorgänger ist „Pleasantville“ ein ungemein komplexer Roman, der verschiedene Ebenen bedient. Zunächst ein tief politischer Roman, der um die afroamerikanische Community kreist und ihre Entwicklung und Erfolge, nimmt aber auch interne Strukturen und Machtmissbrauch in den Fokus. Die schwarze Gemeinschaft ist inzwischen in den 1990ern eine starke Wählergruppe und hat maßgeblich zum Erfolg Clintons beigetragen. Das hat die Gegenseite auch erkannt und versucht nun, in solche demokratischen Wahlkreise einzudringen – mit allen möglichen Mitteln. Eine Entwicklung, die damals ihren Anfang nahm und die maßgeblich zu heutigen Spaltung der US-amerikanischen Gesellschaft beigetragen hat. Trotz der höherrangigen Bedeutung bleibt Locke aber im lokalen Bezug und stellt Houston und Pleasantville als Schauplatz in den Vordergrund. Des Weiteren ist der Roman auch sehr eng an Jay Porter und seiner Familie, seiner Trauer, der Liebe zu seinen Kindern, seine Zweifel als Alleinerziehender. Zuletzt geht es aber auch noch um den Mord an Alicia Nowell, letztlich ist das Buch auch ein Whodunit, wenngleich dies zum Teil ein wenig in den Hintergrund rückt.

Gerade die Mischung aus politisch-gesellschaftlicher Relevanz gepaart mit starken, lebensechten Figuren machen den Reiz von Attica Lockes Romanen aus. Jay Porter ist eine solche starke Figur, die von der Autorin in einen wahren Kraftakt geschickt wird: als Trauernder, als Vater, als Anwalt, als Afroamerikaner. Jetzt ist es ein paar Tage zu spät, aber „Pleasantville“ hätte durchaus noch einen Platz in meinen Jahreshighlights 2022 verdient. Das ist starke Kriminalliteratur.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Pleasantville | Erschienen am 15.11.2022 im Polar Verlag
ISBN 978-3-948392-56-7
456 Seiten | 26,- €
Originaltitel: Pleasantville | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Andrea Stumpf
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Besprechung zu „Black Water Rising

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