A.K. Turner | Wer mit den Toten spricht (Band 2)
Der Thriller „Wer mit den Toten spricht“ von A.K. Turner ist der zweite Teil der Serie um Cassie Raven, die Assistentin in der Londoner Rechtsmedizin ist. Der erste Teil endete mit einer verblüffenden Enthüllung und wer diesen noch nicht gelesen hat und nicht gespoilert werden möchte, sollte nicht weiterlesen.
Tragische Familiengeschichte
Cassie hatte immer geglaubt, ihre Eltern wären bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen. Erst nach einem Schlaganfall enthüllt ihre polnische Großmutter, bei der sie aufgewachsen ist, die schreckliche Wahrheit. Ihr Vater saß jahrelang im Gefängnis, weil er ihre Mutter im betrunkenen Zustand zu Tode geprügelt haben soll. Er hatte die Anschuldigungen immer bestritten und war nach 17 Jahren aus dem Knast entlassen worden. Cassie wird von der Offenbarung ihrer Babica völlig aus der Bahn geworfen. Die wenigen Erinnerungen an ihre Eltern, besonders an ihren Vater sind durchaus liebevoll. Vier Jahre nach seiner Haftentlassung meldet er sich bei Cassie und beteuert weiter seine Unschuld. Mit dem einstigen Bild des starken Mannes hat der gebrochene alte Mann vor ihr keine Ähnlichkeit und Cassie beginnt zu zweifeln. Sie bittet DS Phyllida Flyte, mit der sie bereits bei einem Mordfall zusammen gearbeitet hat, um Unterstützung. Die Polizistin hat Zugang zu der alten Polizeiakte und mit deren Hilfe versucht Cassie die wahre Geschichte ihrer Eltern herauszufinden und den Mord an ihrer Mutter aufzuklären. Zusammen mit DS Phyllida Flyte stellt sie Recherchen zu ihrer tragischen Vergangenheit an und betrachtet die damaligen polizeilichen Untersuchungen mit immer mehr Skepsis.
Dabei taucht der Thriller immer wieder in die 80er Jahre ein und gibt die Atmosphäre und Stimmung der Musikszene mit ihren Rockbands überzeugend und unterhaltsam wieder.
In der Leichenhalle
Bei der Arbeit in der Leichenhalle hat die 25-Jährige es mit dem Strangulationstod eines Jugendlichen zu tun. Cassie kann nicht Recht daran glauben, dass der 15-Jährige Suizid begangen haben soll, doch aufgrund ihrer eigenen persönlichen Probleme scheint sie zumindest anfangs die Fähigkeit eingebüßt zu haben, Zwiesprache mit den Verstorbenen zu halten.
Cassie hoffte inständig, dass Mrs Appleton ihren Sohn gerade mit fünf oder sechs Jahren vor sich sah, lachend auf einem Fahrrad – alles, nur nicht jenes Bild des fünfzehnjährigen Bradley, das ihr für immer bleiben würde: auf seinem Bett liegend, das Kabel seines Laptops fest um den Hals gezurrt, das halb von der Wandleuchte über seinem Kopf herabhing. (Auszug Seite 7)
Insgesamt ist auch der zweite Teil ein kurzweiliger Thriller mit einer stimmigen Geschichte und einer unkonventionellen Protagonistin. Wobei Thriller? Dafür fehlt es vielleicht an durchgehendem Thrill. Anstatt atemberaubendem Nervenkitzel haben wir es eher mit einem geringen Spannungsbogen zu tun. Trotzdem will man immer wissen, wie es weitergeht und wird mit einigen ungewöhnlichen Twists entlohnt. Dazu die leicht mystischen Elemente, wenn Cassie mit ihren „Gästen“ spricht. Die Stärke des Romans sind auf jeden Fall der eingängige Schreibstil und die gut gezeichneten Charaktere.
Zwei Protagonistinnen wie Feuer und Wasser
Die beiden Protagonistinnen könnten unterschiedlicher nicht sein, hier die überkorrekte, fast zwanghafte Polizistin, dort die nach außen toughe aber trotzdem äußerst sensible Sektionsassistentin im krassen Goth-Look, die im Gegensatz zu manchen Kollegen immer respektvoll mit den Leichen, ihren „Gästen“ umgeht. Emotional wird es immer, wenn Cassie auf die traumatisierten Hinterbliebenen trifft, aus Achtung Piercings abnimmt, Undercut und Tattoos versteckt und das als den schwersten Teil ihres Jobs empfindet. Bei den Ermittlungen ergänzen die beiden sich und das Zusammenspiel sorgt für einen großen Lesefluss. Abwechselnd werden die Kapitel aus Sicht von Cassie Raven und Phyllida Flyte erzählt, wobei Cassie einen größeren Anteil hat. Sie ist ja auch wieder, wie im ersten Teil, als plötzlich ihre ehemalige Lehrerin als Leiche vor ihr lag, persönlich involviert. Der Love Interest der beiden wird nur angedeutet und ist auf jeden Fall noch ausbaufähig. Zumindest nennt man sich jetzt beim Vornamen.
Positiv anzumerken ist auch die Liebe zum Detail bei den Beschreibungen von Cassies Arbeit in der Pathologie. Die Fülle anschaulicher Erläuterungen der Forensik und anatomischer Details zeugt von umfassender Recherche der Autorin, werden aber interessant eingearbeitet, ohne zu langweilen.
Das Buch wurde mir von der Verlagsgruppe Droemer Knaur ungefragt zugesandt, worüber ich mich sehr gefreut habe. Überrascht war ich, dass es, im Gegensatz zum Auftaktband nicht als Hardcover erschienen ist. Allerdings ist auch das Paperback wieder wunderschön mit floralen Elementen und Hervorhebungen gestaltet und sticht mit den blau-roten Farbakzenten aus dem üblichen Cover-Einerlei bei Thrillern hervor. Eine gelungene Fortsetzung, die man problemlos ohne Vorkenntnisse des ersten Teils lesen kann.
Foto und Rezension von Andy Ruhr.
Wer mit den Toten spricht | Erschienen am 01.09.2022 bei Droemer
ISBN 978-3-426-28249-6
384 Seiten | 15,99 Euro
Originaltitel: Life Sentence | Übersetzung aus dem Englischen von Marie-Luise Bezzenberger
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Weiterlesen: Andys Besprechung zu Band 1 der Reihe