Tag: 22. Oktober 2018

Lucie Flebbe | Jenseits von Wut

Lucie Flebbe | Jenseits von Wut

Adrian, 13:56 Uhr: Sektion im Essener Institut für Rechtsmedizin 15:30 Uhr. Kriegst du es organisiert, vorbeizukommen?
Ich würde nicht hinfahren. Ich würde nicht mal die Nachricht beantworten. Ich würde morgen auch nicht zur Arbeit gehen. Ich würde meinen Job verlieren und bei Hartz IV landen, genau wie Philipp es vorausgesagt hatte.
Es klingelte an der Tür.
Ich hatte Strom?
Als wäre das noch wichtig.
Ich blieb liegen. (Auszug Seite 153)

Edith, genannt Eddie, Beelitz war viele Jahren raus aus ihrem Beruf als Polizeibeamtin, war stattdessen Hausfrau und Mutter. Als sie dann doch aus ihrer Ehe ausbricht, steht sie im wahrsten Sinne des Wortes mit ihrer kleinen Tochter auf der Straße. Unverhofft bietet sich die Gelegenheit, in den Polizeiberuf zurückzukehren, sogar in die Mordkommission. Ihr erster Fall lässt nicht lange auf sich warten: Vor dem Jobcenter liegt die Leiche einer erschlagenen Frau. Doch Eddie plagen die Zweifel: Ist sie den Anforderungen des Jobs und des selbstbestimmten Lebens gewachsen? Eddie hatte gedacht, im Büro eine ruhige Kugel schieben zu können, muss sich aber nun direkt beweisen. Und das unter ihrem neuen Chef Adrian, den sie aus alten Zeiten nur zu gut kennt. Gleichzeitig ist sie auch von privater Seite stark unter Druck: Ihr Mann will die Trennung nicht hinnehmen und da er das ganze Geld verdient hat, ist Eddie ziemlich blank.

Von Autorin Lucie Flebbe hatte ich bereits einen Roman aus der vorherigen Serie um das Detektiv-Paar Lila Ziegler und Ben Danner gelesen. Insgesamt war meine Wertung damals durchschnittlich, doch mir hatte der Stil von Lucie Flebbe gefallen. Und so schloss meine Besprechung mit dem Satz: „Ich würde durchaus nochmal zu dieser Autorin greifen.“ Dies habe ich nun eingehalten. Jenseits von Wut ist der Auftakt einer Trilogie mit der ungewöhnlichen Mordermittlerin Edith „Eddie“ Beelitz. Der Schauplatz Bochum ist geblieben. Und auch der Stil, den ich damals schon lobte: „Knappe Sätze, manchmal flapsig, intelligent-humorvoll, gute Dialoge und interessante Figuren.“

Dieses Buch lebt nämlich weniger von seinem Krimiplot – der ist solide, aber eher nicht spektakulär, sondern vor allem von den Personen, der Figurenkonstellation und den beschriebenen Milieus. Eddie begibt sich nämlich in die Niederungen der Arbeitssuchenden und Hartz IV-Bezieher. Zum einen beruflich, denn die Tote wurde nicht nur vorm Jobcenter aufgefunden, sondern war dort auch Leistungsbezieherin. Das Opfer hatte offenbar Ärger mit ihrer Sachbearbeiterin und außerdem ein Techtelmechtel mit einem Mitarbeiter. Aber auch die familiären Verhältnisse waren seit langem eher prekär. Zum anderen mietet sich Eddie wegen fehlender finanzieller Reserven in eine nicht ganz so schicke Nachbarschaft ein und kommt dadurch direkt in privaten Kontakt mit den Unterpriviligierten. Die Verhältnisse von Eddies Nachbarinnen (mehrere Kinder von verschiedenen Vätern, Arbeitsunwilligkeit, Schwarzarbeit, Verwahrlosung) schildert die Autorin mit einer klaren Nüchternheit, um kurz darauf hinter die Fassade zu blicken und den Leser für ihre Figuren einzunehmen. Nicht ohne Grund erhält Eddie bei ihren Nachbarn in ihrer Situation mehr Unterstützung als aus ihrem bildungsbürgerlichen Elternhaus.

Ein wenig gefremdelt habe ich mit der zweiten Erzählstimme dieses Romans. Neben Eddie tritt auch noch ein gewisser „Zombie“ als Ich-Erzähler auf. Wie es der Spitzname schon suggeriert, hat dieser Mann ein Aggressionsproblem. Er wird von Beginn an als möglicher Mörder beim Leser ins Spiel gebracht (ob er es auch ist, wird natürlich an dieser Stelle nicht verraten). Was mir an seinen Abschnitten nicht so recht gefallen hat, war die Kürze und die Bruchstücke, die dem Leser vorgeworfen werden. Das aus vielen Krimis bekannte und etwas ausgeleierte Stilmittel, die Perspektive des Bösen einzunehmen, war meiner Vermutung nach nicht die Intention der Autorin, sondern tiefer in die Figur einzudringen, aber dann hätte sie „Zombie“ einen Tick mehr Raum gönnen können.

Im Grunde genommen ist Jenseits von Wut eine Emanzipationsgeschichte im Krimigewand. Eine junge Frau voller Selbstzweifel, die sich in ihrer Ehe von ihrem Mann nach seinen Wünschen hat formen lassen, bricht aus diesem Korsett aus und lebt endlich selbstbestimmt. Das geht natürlich nicht problemlos vonstatten. Lucie Flebbe erzählt dies mit einer angenehmen Mischung aus Lakonie, Humor und der nötigen Ernsthaftigkeit. Daneben bietet dieses Buch auch über seinen Krimiplot Einblick in die Welt der Arbeitslosen und Hilfeempfänger, von der Autorin ohne rosarote Brille, aber dennoch mit Empathie erzählt. Insgesamt ist dieser Krimi ein gelungener Auftakt einer Trilogie, die ich gerne weiterverfolgen werde.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Jenseits von Wut | Erschienen am 20. Juli 2018 im Grafit Verlag
ISBN 978-3-89425-587-9
309 Seiten | 12.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

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