Tag: 3. Oktober 2018

Luis Sellano | Portugiesische Tränen

Luis Sellano | Portugiesische Tränen

Portugiesische Tränen von Luis Sellano, ein Lissabon-Krimi mit viel Action

Der Roman spielt nicht nur und ausschließlich in Lissabon, er handelt auch hauptsächlich von Lissabon, die Stadt am Tejo ist Hauptdarsteller und stets präsent. Auf Schritt und Tritt begleiten wir Henrik Falkner auf seinen Wegen durch die unterschiedlichsten Stadtteile, vorbei an mancher Sehenswürdigkeit und hinein in außergewöhnliche Gebäude. Sellano (das Pseudonym eines deutschen Autors) hat es sich ganz offensichtlich zur Aufgabe gemacht, dem Leser die Schönheiten und Besonderheiten Lissabons näher zu bringen. Und dieser Städtetrip der besonderen Art macht auch wirklich Spaß, selbst wenn die Stationen der Rundgänge etwas übertrieben genau verortet werden. Ich muss nicht unbedingt jede Straße und Gasse, jede Kreuzung und jeden noch so kleinen Platz mit Namen kennenlernen. Das besondere Flair, die Stimmung der Frühlingsabende, die einzigartige Atmosphäre in den historischen Vierteln der Stadt mit ihren alten, kleinen und dunklen Häusern, den engen, steilen und verwinkelten Gassen. Die Alfama, Mouraria und Graça, sozusagen die Altstadt, geben die Kulisse ab für die aufregenden Abenteuer des ehemaligen Polizisten Henrik Falkner.

Sellano liefert einen soliden Krimi ab, gut strukturiert, mit einem schlüssigen Plot, der folgerichtig voranschreitet, mit ordentlichem Tempo, das fast über den gesamten Roman beibehalten wird und sich zum Ende hin wie es sich gehört noch einmal ordentlich steigert, mit jeder Menge Action und durchweg beträchtlichem Nervenkitzel, dazwischen der richtigen Dosis Entspannung und auch unerwartet heiteren oder humorvollen Abschnitten. Dabei schreibt Sellano sehr gefällig, mühelos und mit Genuss kann man seinen schönen Milieustudien der Stadt und ihrer Einwohner folgen, wobei wir seltsamerweise kaum einen Portugiesen kennenlernen, aber das ist vermutlich dem Thema dieses Romans geschuldet.

Es geht nämlich um die Jagd nach einem gestohlenen Koi, nicht irgendeinem Koi, sondern einem Purachinagoi, einem platinfarbenen Koi, der ein vollendetes Ebenbild des Gottfisches darstellt. Einer japanischen Legende zufolge verleiht er seinem Besitzer nicht nur besonderen Mut, sondern letztlich Unsterblichkeit, im übertragenen Sinn. So jedenfalls erklärt es Hitomi Tadokoro, die für eine Versicherungsgesellschaft hinter dem verschwundenen Karpfen herjagt. Henrik hat für derlei Aberglauben nur ein Achselzucken übrig. Er erkennt, dass es vielmehr um Macht und Kontrolle geht, basierend auf Reichtum und Besitz.

Auf die Spur der geheimnisvollen Japanerin hatte ihn eine Telefonnummer geführt, gefunden auf einem schmalen Stück Papier, das eine Flasche mit kostbarem Hibiki versiegelte, einem japanischen Whisky. Die war versteckt in einer verstaubten Kiste in seinem Antiquariat, das ihm sein Onkel Martin vererbt hat, zusammen mit einer Unmenge geheimnisvoller Hinweise auf ungeklärte Verbrechen, die er dokumentiert hat, seit sein Lebensgefährte ums Leben kam, getötet von einem Unbekannten. Martin Falkner hatte eine steile Karriere bei der Staatsanwaltschaft vor sich, zog es aber vor, seiner Liebe João de Castro, einem Künstler, nach Lissabon zu folgen. In Diensten der Bundesregierung im konservativen deutschen Justizapparat hätte er sich wohl kaum zu seiner Homosexualität bekennen können. Bei seiner Suche nach dem Mörder seines Lebenspartners stößt er auf weitere Verbrechen, an deren Aufklärung die Behörden wohl kein Interesse hatten, offenbar auf Druck korrupter Politiker, wichtiger Wirtschaftsbosse und einflussreicher Industrieller, denen seine Recherchen sicher ein Dorn im Auge waren. Als er schließlich einem Herzinfarkt erliegt, bezweifeln einige Freunde und Bekannte die Todesursache, auch Henrik glaubt nicht an diese Version.

Er will die Wahrheit herausfinden, und er geht den versteckten Zeichen seines Onkels auf ungesühnte Gewalttaten nach und führt so dessen Suche nach Gerechtigkeit fort. Damit bringt er sich ebenso in Gefahr, und immer wieder auch Personen in seinem Umfeld. Catia, seine einzige Angestellte, ist vor ein paar Monaten entführt worden. Schließlich kam eine Karte von ihr, auf der sie kurz mitteilte, sie sei bald wieder freigelassen worden und lebe nun bei einer Freundin auf São Miguel und solange Henriks Feinde auch sie im Visier hätten, wünsche sie keinerlei Kontakt. Henrik glaubt die Geschichte nicht recht, ebenso wenig wie sein Freund Renato Fernandez, ein Travestiekünstler und einer aus dem buntgemischten Völkchen seiner meist säumigen Mieter. Er hat schon Henriks Onkel im Antiquariat geholfen und bringt sich mehrfach durch unbedachte und leichtsinnige Aktionen in größte Gefahr und zieht sich gleichzeitig den Ärger von Inspetora Helena Gomes von der Divisão de Investigação Criminal der Lissabonner Polizei zu. Die beiden sind ineinander verliebt und mittlerweile heimlich ein Paar, aber mit seinen gegenwärtigen Aktivitäten auf eigene Faust bringt er seine Freundin gegen sich auf, zumal er für sich behält, was er bei seinen Recherchen herausfindet.

Henrik hat seinen Onkel nie kennengelernt. Die mysteriösen Umstände der beiden Todesfälle, das Verschwinden von Catia und nun der gestohlene, äußerst wertvolle Fisch. Henrik hat eine Menge Arbeit vor sich, da bleibt keine Zeit für das Antiquariat. Die aktuelle Jagd nach dem Koi führt ihn schließlich zu Professor Makoto Udagawa, einem hochrangigen Diplomaten der japanischen Botschaft, dessen Tochter vor einem Jahr verschwunden ist. Er ist es, der zur gleichen Zeit den sagenumwobenen Fisch stehlen ließ, offenbar mit Hilfe von Martin Falkner. Nun ist ihm das Tier seinerseits geraubt worden, und Henrik soll sowohl den Koi als auch das Mädchen finden. Bei seinen Nachforschungen ahnt Henrik, auf was er sich da eingelassen hat. Hitomi Tadokoro ist nicht die erste, die wegen des Wunderfisches gestorben ist, und sie wird nicht die letzte bleiben. Das hindert Henrik nicht daran, sich mit gefährlichen und mächtigen Gegnern anzulegen, selbst als er auf offener Straße von einem alten Gegenspieler bedroht und von einem anderen zusammengeschlagen wird. Unverdrossen rappelt er sich nach allen Rückschlägen und auch nachdem er mehrfach knapp mit dem Leben davongekommen ist wieder auf, büxt sogar schwer verletzt aus dem Krankenhaus aus, um seine Mission zu erfüllen. Immer wieder wagt er sich auf höchst gefährliches Terrain, und Sellano hat sich wahrlich beeindruckende Schauplätze und imposante Kulissen ausgedacht für die turbulenten Aktionen und heiklen Situationen, die sein Held überstehen muss. Das mitzuerleben macht richtig Spaß, denn Sellano schafft es hervorragend, den Akteuren die ganz große Bühne für ihre Auftritte zu bereiten, in vielen Momenten ist die Spannung greifbar, eine knisternde Atmosphäre begleitet die Szenen, in denen es für Henrik um Leben oder Tod geht. Aber auch in den eher ruhigen, gemächlichen Passagen gelingen schöne Dialoge und stimmungsvolle Milieustudien.

Zum einigermaßen glücklichen Ende ist zumindest das Rätsel um den verschwundenen Koi gelöst, andere Fragen bleiben weiter offen, und auch hinter der Beziehung von Henrik und Helena steht ein Fragezeichen. Dass Sellano diese Handlungsfäden im folgenden Roman weiterspinnen will, ist offensichtlich und legitim. Dass er aber nach dem Schlusspunkt noch zwei ganze Kapitel weiterschreibt, deren Inhalt bereits zu diesem nächsten Buch der Reihe gehört, nervt den Leser mit allzu dreisten Cliffhangern. Bedauerlicherweise finden sich im Text außerdem einige auffällige und ärgerliche Fehler. Dass der bekennende Lissabon- und Portugal-Liebhaber Sellano mit der portugiesischen Sprache (noch?) auf Kriegsfuß steht, sei verziehen, aber dass er die Saudade ständig „der Saudade“ nennt, das tut weh! Und warum der Koreanische Arbeiter in einer Fischfabrik einen vietnamesischen Namen hat, bleibt auch sein Geheimnis. Aber einige schludrige Formulierungen hätte Sellano durchaus vermeiden können. „Anziehsachen“ ist ein Ausdruck, den heute leider viele Menschen, und nach meiner Wahrnehmung alle Jugendlichen verwenden, ein Schriftsteller sollte noch die schönen Worte „Kleidung“ oder „Kleider“ kennen. Ein einigermaßen sorgfältiger Lektor hätte auch etliche Grammatikfehler, Patzer in der Wortwahl und auch mehrere Druckfehler entdeckt.

Wenn ich diese vermeidbaren Ausrutscher nicht zu hoch bewerte, verdient Portugiesische Tränen in der Wertung 4.0 von 5.0.

 

Rezension und Foto von Kurt Schäfer.

Portugiesische Tränen | Erschienen am 10. April 2018 bei Heyne
ISBN 978-3-453-41946-9
352 Seiten | 14.99 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe