James Lee Burke | Glut und Asche

James Lee Burke | Glut und Asche

In den folgenden fünfzehn Minuten setzte Danny Boy Lorca alles daran, die Geräusche auszublenden, die aus dem Mund des Mannes mit dem Eisenring am Handgelenk kamen. Er versuchte, in sich zusammenzuschrumpfen, sich in seinem eigenen Körper zu verkriechen und seine Wahrnehmung abzuschotten, sodass kein Licht, kein Ton, kein Sinneseindruck, kein Detail der Außenwelt zu ihm vordringen konnten. […] Vielleicht würde er eines Tages die Angst vergessen, die in jenen fünfzehn Minuten einen anderen Menschen aus ihm gemacht hatte. Vielleicht würde er dann den Mann treffen, dem er nicht geholfen hatte, und vielleicht würde dieser ihm vergeben, auf dass auch er sich selbst vergeben könnte. Vielleicht würde er dann sogar vergessen, zu welchen Gräueltaten seine Mitmenschen fähig waren. (Auszug Seite 15)

Eine Wüstengegend in Südtexas, in der Nähe der Grenze zu Mexiko: Sheriff Hackberry Holland wird zu einem grausamen Mord gerufen. Der Indianer Danny Boy Lorca wurde zufällig Zeuge, wie ein Mexikaner zu Tode gefoltert wurde, um Hinweise auf den Aufenthaltsort eines Flüchtigen zu erhalten. Die Killer und auch der Sheriff verfolgen eine Spur zu „La Magdalena“, einer Asiatin, die illegale Einwanderer versorgt und als Heilige verehrt wird. Der Sheriff wird aber schnell wieder vom FBI zurückgepfiffen. Doch in seinem County lässt Hackberry Holland sich natürlich nichts vorschreiben. Er bleibt im Spiel und muss schnell feststellen, dass noch einige Akteure mehr mitmischen und auch ein alter totgeglaubter Bekannter wieder zurückkehrt.

Ich habe mir versucht vorzustellen, wie es wohl einem Debütautor ergangen wäre, wenn er mit einem Skript dieses Inhalts bei einem Verlag vorstellig geworden wäre. Ich kann mir kaum vorstellen, dass er weit gekommen wäre. Ein Ex-Regierungsmitarbeiter mit Insider-Wissen über eine Predator-Drohne wird entführt und kann in der südwesttexanischen Wüste fliehen. Es jagen ihn: Ein Schlepper und Killer, der die Leichen seiner Kinder in einer Holzkiste mit sich herumschleppt, ein brutaler Mafioso und Pornoproduzent, ein pädophiler Waffenfabrikant und natürlich das FBI. Es mischen ebenfalls mit: Eine Asiatin mit unrühmlicher Geheimdienstvergangenheit, die aktuell aber Flüchtlinge an der Grenze versorgt, ein radikaler Reverend, der an einem Anschlag auf eine Abtreibungsklinik involviert war und Preacher Jack Collins, einen der wohl irrsten Killer überhaupt, ein fanatischer Christ mit ganz eigener und manchmal auch überraschender Agenda. Und in diesem Chaos versucht der auf die 80 zugehende Sheriff Hackberry Holland Recht oder besser Gerechtigkeit zu schaffen. Was für ein Plot!

Aber Burke beherrscht diesen Plot spielend. Großartige, ambivalente Figuren, packende Spannung, bissige Dialoge und eine Landschaftsbeschreibung, die seinesgleichen sucht. Die karge, staubige Wüstenlandschaft taucht förmlich vor den Augen des Lesers auf. Mesas, Arroyos, Mesquitesträucher, Kakteen, Wolkenformationen, Lichtverhältnisse – all das beschreibt der Autor mit der atmosphärischen Dichte eines National Geographic-Bildbands. Zentrales Element des Romans ist die Konfrontation und Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Die wichtigsten Figuren haben allesamt an ihrer Vorgeschichte zu knapsen und gehen auf vielfältige Weise damit um. Sheriff Hackberry Holland holt seine Kriegsgefangenschaft in Korea wieder ein (vielleicht an der einen oder anderen Stelle ein wenig zu häufig). Der vom lasterhaften Leben geläuterte und eigentlich gesettlete Sheriff wird in Laufe des Buches immer mehr zum zornigen alten Mann, der am Ende sogar nicht davor zurückschreckt, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben.

Als die Scheinwerfer des Wagens den jungen Deputy zwischen den blassgrünen Sträuchern und Büschen des Wüstensands erfassten und die Schatten aus seinem jugendlichen Gesicht brannten, erlebte Hackberry einen dieser Momente, die von den Ärzten im Marinekrankenhaus in Houston als die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung bezeichnet wurden. Für Hackberry waren sie allerdings nichts weiter als die natürliche Verflechtung von Geschehnissen und Menschen aus Vergangenheit und Gegenwart – kurzum: Situationen, wie man sie öfter erlebte, wenn man dem Ende seines Lebens näher kam. In dieser Phase verwandelte sich die Gesamtheit der Lebenstage eines Menschen irgendwann in einen Kreis anstatt in eine Summe, und so landete man wieder an dem Punkt, an dem man begonnen hatte. (Seite 347)

James Lee Burke hat wohl momentan so etwas wie einen Lauf in Deutschland. Nachdem gut zehn Jahre lang kein Roman mehr von ihm auf Deutsch erschien, brach der Bann 2014 mit dem Vorgängerband von Glut und Asche, Regengötter, der sogar den Deutschen Krimi Preis gewinnen konnte. In weniger als zwei Jahren sind nun vier neue Bücher des Altmeisters in Deutschland erschienen, zwei mit Hackberry Holland bei Heyne Hardcore, zwei mit Dave Robicheaux bei Pendragon (am 22. Februar 2016 erschien Mississippi Jam). Und beide Verlage haben jeweils ein weiteres Buch angekündigt. Und solange solche Bücher wie dieser Thriller dabei herauskommen, ist das eine verdammt gute Nachricht.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

 

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Glut und Asche | Erschienen am 14. September 2015 bei Heyne Hardcore
ISBN 978-3-453-67680-0
704 Seiten | 17,99 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Vorankündigung Heyne Hardcore James Lee Burke | Fremdes Land

Video James Lee Burke über Glut und Asche

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