Lyndsay Faye | Der Teufel von New York

Lyndsay Faye | Der Teufel von New York

New York 1845. Die gerade gegründete Polizei der Stadt ist ein zusammengewürfelter Haufen von Schlägertypen und seltsamen Vögeln. Auch Timothy Wilde gehört dazu – gegen seinen Willen.

Bei einem Brand wurden seine Zukunftspläne zerstört, sodass er jetzt jede Arbeit annehmen muss, die sich bietet. Eines Tages läuft ihm ein völlig verstörtes kleines Mädchen in die Arme, bekleidet mit einem blutdurchtränkten Nachthemd. Sie will oder kann nicht sagen, wer sie ist. Da sie selbst körperlich unverletzt ist, muss das Blut von einer anderen Person stammen.

Kurz darauf findet Tim auf einem entlegenen Gelände neunzehn Kinderleichen. Es kursieren die wildesten Gerüchte, und die politische Situation ist bis zum Zerreißen angespannt …

Das gänzlich unterschiedliche Leben zweier ungleicher Brüder, eine tragische, unerfüllte Liebe, politische Wirren, soziale Konflikte und religiöse Auseinandersetzungen, das alles vor dem Hintergrund einer rasant wuchernden Stadt New York im Jahr des letzten großen Brandes 1845, der den gesamten Süden mit 300 Häusern völlig verwüstet. Die Probleme der unter unsäglichen Bedingungen lebenden Unterschicht werden mit jedem ankommenden Flüchtlingsschiff drängender, es brodelt im Schmelztiegel vieler Nationen, in dem die Landsmannschaften mit allen Mitteln um ihren Platz in der Gemeinschaft kämpfen. Die immer mehr um sich greifende allgegenwärtige Kriminalität , überall aufflammende fremdenfeindliche Ausschreitungen der Nativisten, die allgemeine Unsicherheit, die zur Gründung der Polizeitruppe NYPD führt… Zu viele Themen für ein Buch?

Nein, bei Lindsay Faye fügt sich das alles vollkommen stimmig zum großartigen Gesamteindruck einer Kulisse aus spektakulären Ansichten, vielschichtigen Gerüchen, und einem vielstimmigen Durcheinander von Geräuschen. Man sieht die schäbigen Pensionen und schnell aus dem Boden gestampften Mietskasernen und Wohnbaracken vor sich, die engen, stickigen Hinterhöfe mit den elenden Bretterbehausungen der Tagelöhner. Man spürt die schwüle Hitze des Spätsommers in der stickigen Enge des Ballungsraums, der ständig neue Menschenmassen anzieht auf der Suche nach einer Bleibe und nach Arbeit. Man atmet den Gestank der offenen Latrinen, der Abfälle auf den schlammigen Straßen, in denen frei laufende Schweine wühlen.

Das ist das Umfeld, in dem Timothy Wilde seinen Dienst bei der eben ins Leben gerufenen New Yorker Polizei antritt, einem bunt zusammengewürfelten Haufen aus Schlägern, Säufern, Ganoven und Einwanderern aus aller Herren Länder. Tim gehört dieser Truppe nicht aus freien Stücken an, aber nachdem auch er bei dem verheerenden Brand Wohnung, Arbeit, das gesamte mühsam Ersparte und fast sein Leben verloren hat, muss er froh sein, dass ihn sein Bruder Val, wenn auch halb tot und mit verbranntem Gesicht nicht nur aus den rauchenden Trümmern gezogen hat, sondern ihm auch gleich diesen Job besorgte.

Gleich bei seiner ersten Streife läuft ihm ein kleines irisches Mädchen in die Arme, völlig verstört und nur mit einem blutgetränkten Nachthemd bekleidet. Tim nimmt sich ihrer an und versucht herauszufinden, was Bird, so ihr Name, schreckliches geschehen ist. Die Kleine tischt ihm immer neue Lügengeschichten auf und stellt sich als viel erwachsener heraus, als sie mit ihren zehn Jahren sein sollte. Nach und nach wird klar, dass sie aus einem Bordell entkommen ist, und Tim taucht ab in das Milieu von Kinderprostitution, von Strichjungen und „Straßenläuferinnen“. Es gelingt ihm, weiter Kinder aus einem Hurenhaus zu befreien, aber bald wird ein Massengrab mit neunzehn Kinderleichen entdeckt, und Tim gerät zwischen die Fronten der politischen Lager und rivalisierender Banden und schließlich in Lebensgefahr.

New York steht vor Wahlen, Demokraten und Republikaner bekämpfen sich aufs Äußerste und alle „wahren Amerikaner“ gemeinsam bekämpfen die irischen Einwanderer, die zu tausenden in die Stadt schwemmen, weil in ihrer Heimat die Kartoffelernte ausgefallen ist und eine große Hungersnot herrscht. Diese Einwanderer bringen den abschätzig als „Papismus“ bezeichneten katholischen Glauben mit, der von den protestantischen Einheimischen verteufelt und mit glühendem Eifer bekämpft wird.

Als ein Bekennerschreiben auftaucht, in dem der selbsternannte „Gott von Gotham“ die Verantwortung für die Schändung und Ermordung der Kinder übernimmt, und bald das Gerücht die Runde macht, ein fanatischer irischer Katholik stecke hinter den abscheulichen Verbrechen, explodiert das Pulverfass mit all seinem sozialen Sprengstoff. Es kommt zu Aufständen, Krawallen und Mordanschlägen. Wer tatsächlich dieser teuflische Briefschreiber ist, der die Unruhen schürt und Parteien und Volksgruppen gegeneinander aufhetzt, bleibt bis zuletzt unklar. Es gibt einige Verdächtige und alle möglichen Wendungen, aber die Auflösung ist völlig überraschend, wenn auch im Nachhinein absolut nachvollziehbar.

Unser neuernannter Polizist tut sich verständlicherweise schwer bei seinen Ermittlungen, alle heute selbstverständlichen Methoden und Hilfsmittel stehen ihm noch nicht zur Verfügung, die Bevölkerung begegnet den neuen Ordnungshütern skeptisch bis feindselig und auchsein Bruder Val, selbst Police Captain, verfolgt lieber seine eigenen Ziele, so dass Tim nur von seinem Kollegen Piest, einem Holländer mit feiner Spürnase, Unterstützung erfährt. Deshalb rekrutiert er eine Bande von Zeitungsjungen, die ihre Augen und Ohren überall aufsperren und so wertvolle Hinweise geben können. Dass diese Burschen ihr eigenes Theater gründen und Aufführungen veranstalten, entspricht der historischen Wirklichkeit, tatsächlich befand sich dieses Theater in der Baxter Street.

Diese und viele andere Einzelheiten der hier beschrieben Zustände im Jahre 1845 sind verbürgt und entsprechen genauestens den damaligen Gegebenheiten. Das alles hat die Autorin akribisch recherchiert und detailgenau beschrieben. Und das in einem Erzählstil, der wunderbar elegant und sanft fließend daherkommt, wie aus einer Zeit als man sich noch „gewählt“ ausdrückte. Im Gegensatz dazu bedienen sich einige der Figuren der Gaunersprache Flash, vergleichbar vielleicht mit dem seinerzeit in unseren Landen gesprochenen Rotwelsch, das in einigen Ausdrücken in unserer Alltagssprache überlebt hat. Auch das Hat Lindsay Faye gründlich recherchiert und Begriffserklärungen in einem kleinen Glossar beigefügt. Man muss aber während des Lesens nicht ständig nachschlagen, das Meiste erklärt sich aus dem Zusammenhang oder wird vom Ich-Erzähler Tim übersetzt.

Es wäre auch schade, ein Lesevergnügen zu unterbrechen, das sich mit der ersten Zeile einstellt und bis zum Schlusspunkt unvermindert anhält. Die ganze Geschichte ist absolut rund, der Plot behutsam und sorgfältig entwickelt, alles ist logisch und folgerichtig. Dabei passt sich die Erzählung sehr geschickt in den historischen Rahmen ein, und so packend und aufsehenerregend das Geschehen ist, findet die Autorin genau das richtige Tempo, das gespannt macht auf den Fortgang, aber auch Atempausen gestattet, in denen man einfach die tolle Atmosphäre der fein skizzierten Alltagsszenen genießt oder sich in die äußerst einfühlsame Schilderung der vielen interessanten Charaktere vertieft.

Vor allem das zwiespältige Verhältnis der beiden Wilde-Brüder, die in einer Art Hassliebe miteinander verbunden sind, ist faszinierend beschrieben. Aber auch mit den übrigen Protagonisten hat sich die Autorin große Mühe gegeben, es gibt eigentlich keine „Nebendarsteller“. Dr. Palsgrave, ein seltsamer Kinderarzt und geheimnisvoller Alchimist, Silkie Marsh, eine hinterhältige Bordellwirtin, Reverend Underhill und Pfarrer Sheehy, zwei konkurrierende Geistliche und nicht zuletzt Mercy Underhill, Tims großer Schwarm, all diese Figuren lernt man sehr schnell sehr gut kennen, und sie werden, je mehr man über sie erfährt, nicht unbedingt sympathischer, aber immer menschlicher.

»Der Teufel von New York« ist kein Thriller, aber als historischer Kriminalroman ausgesprochen gut gelungen. Das verdient volle fünf Sterne! Der Nachfolger „Seven for a secret“ ist noch nicht in deutscher Übersetzung erschienen, aber ich freue mich darauf.

 

Rezension von Kurt.

 

Der Teufel von New YorkDer Teufel von New York | Erschienen am 1. März 2014 bei DTV
480 Seiten | 15,90 Euro
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