Inger Madsen | Mord auf Antrag
„Erpressung, gewaltsame Morde, die nach Rache aussahen. Es war etwas in diesem Haus vorgegangen, das fünfundzwanzig Jahre danach noch Nachwirkungen hatte. Aber was? Konnte das ganze Zufall sein? Zwei Fälle, die sich vermischten. Drei vielleicht? Oder gehörten sie überhaupt nicht zusammen?“
Roland (im Privatleben Rolando) Benito, Kriminalkommissar in Aarhus, wohin es den Italiener der Liebe zu seiner dänischen Frau Irene wegen verschlug, grübelt über einen verzwickten Fall nach, auch wenn sein Chef Kurt Olsen ihn für abgeschlossen erklärt hat. Der nämlich hat sein Geständnis, für ihn gibt es nichts mehr zu besprechen, er will den Fall unbedingt zu den Akten legen. Aber Roland spürt, dass etwas faul ist, er weiß, dass längst nicht alles so klar ist, wie es scheint, und ihm dämmert, dass es tatsächlich drei Fälle sind, die allerdings einen gemeinsamen Hintergrund haben, vor dem mehrere Personen miteinander und gegeneinander tief verstrickt sind in Vorfälle, welche sich schließlich als eine einzige, schon lange dauernde und stark verästelte, tragische Geschichte herausstellen.
Eine Geschichte, die mit dem Fund einer Moorleiche beginnt und schon bald weitere Opfer fordert, zunächst einen bekannten Arzt, der brutal erstochen wird, ebenso wie kurz darauf die Kellnerin eines Nachtclubs. Es sieht so aus, als könnte es einen Zusammenhang zwischen diesen Morden geben, denn eine heiße Spur führt in allen Fällen nach Afrika, und es gibt gleich mehrere Beteiligte, die nach längeren Aufenthalten auf diesem Kontinent Verbindungen dorthin hatten oder immer noch haben. Eine dieser Personen könnte der Täter sein, aber welche Verbindung gibt es zwischen den Opfern?
Drab efter begœring, der Originaltitel des Romans ist (fast) wörtlich übersetzt worden, ein Begriff aus der Juristensprache, der „Tötung auf Verlangen“ bedeutet, also aktive Sterbehilfe, ein heikles Thema auch in Dänemark und ein Thema, das in diesem Buch kontrovers diskutiert wird, das mehrfach aus unterschiedlichen Blickwinkeln angesprochen wird und hintergründig immer präsent ist.
Der Blick richtet sich aber auch nach Italien, nach Neapel, der Heimat Rolandos, und auf die katastrophale Situation der Stadt, die von der Camorra beherrscht wird und in der die Clans riesige Gewinne unter anderem durch die Kontrolle der Müllwirtschaft erzielen, von Schutzgelderpressung ganz zu schweigen. Sein Vater ist als Carrabiniere beim Kampf gegen diese Verbrecher ums Leben gekommen, Rolando selbst fühlt sich nicht in der Lage, diesen Kampf fortzuführen und weiß nicht, wie er etwas für seine Familie tun könnte, die ebenfalls bedroht ist und auf seine Hilfe hofft.
Auch Sabrina fühlt sich nicht wirklich wohl in Italien, obwohl sie es in Mailand mit einer vollkommen anderen Situation zu tun hat. Die Altenpflegerin lässt ihren Job in einem Hospiz zur Zeit ruhen, weil sie ihrem Mann Peter gefolgt ist, der in Norditalien an seinem beruflichen Aufstieg arbeitet. Sie ist froh, als sie, wenn auch aus traurigem Anlass, nach Aarhus zurückkehren kann, um den Nachlass ihrer verstorbenen Oma zu regeln. Sie hofft, durch zeitlichen und räumlichen Abstand ihre gestörte Beziehung zu Peter in Ordnung zu bringen und sie will herausfinden, unter welchen Umständen ihre Mutter starb, die sie schon als kleines Kind verloren hat. Ihr Vater hatte damals sehr schnell neu geheiratet, und Sabrina kann sich mit ihrer Stiefmutter überhaupt nicht anfreunden.
Als sie in den Habseligkeiten ihrer Oma alte Briefe findet, die von der Pflegerin ihrer kranken Mutter verfasst wurden, wird sie hellhörig. Bei der Moorleiche, die jetzt, nach fünfundzwanzig Jahren, buchstäblich wieder aufgetaucht ist, handelt es sich um Louise Engtoft, eben jene Pflegerin, die seinerzeit spurlos verschwand, weil sie, wie sich nun herausstellt, erschlagen wurde – mit einem Gegenstand aus einem besonderen afrikanischen Holz. Die Stahlklinge des zweiten Tatwerkzeugs besteht aus einer Legierung, die ebenfalls nur in Afrika hergestellt wird – das legt gewisse Vermutungen nahe.
Die Geschichte, die Inger Madsen hier erzählt, spielt auf mehreren Ebenen, zu unterschiedlichen Zeiten, an verstreuten Orten. Es ist nicht einfach, den Überblick zu behalten über die vertrackten Beziehungen, welche die vielen Beteiligten zueinander haben, berufliche, private, familiäre. Aus dem Blickwinkel der Presseleute von Dagens Nyheder, in der Übersetzung ( großartig besorgt von Kirsten Krause ) trefflich „Tageblatt“ genannt, die auf der Jagd nach einer Sensationsgeschichte eigene Nachforschungen betreiben, andererseits aus der Perspektive des Polizeiapparates, der mit den Journalisten im Wettlauf und in Konkurrenz ermittelt und schließlich in der Schilderung von persönlichen Belangen und Empfindlichkeiten der unterschiedlichsten Protagonisten wird ein Fall aufgerollt, der immer mysteriöser wird.
Dies alles wird sehr genau, sehr wirklichkeitsnah erzählt, wobei sich die präzise und engagierte Arbeit auf beiden Seiten ähnelt, hier ist es akribisches Profiling, routinierte Forensik, es finden Verhöre statt wo das Journalistenteam um die Roland bereits bestens bekannte Anne Larsen neugierige Gespräche führt, gründliche Recherche betreibt und in Familiengeschichten und -tragödien wühlt, und unerwartet viele kranke, gebeutelte, getriebene und geschlagene und gequälte Menschen trifft.
So ist das Buch schon bald nicht mehr nur ein Krimi, sondern vor allem auch ein sehr unterhaltsamer Roman, der die unglücklichen, ja verhängnisvollen und bestürzenden, schicksalhaften Beziehungen jeweils mehrerer Generationen unterschiedlichster Familien beleuchtet. Das gelingt sehr berührend und einfühlsam, gleichzeitig eindrucksvoll und nachhaltig.
Denn auch diese Familienverhältnisse erweisen sich als durchaus kompliziert und sind geprägt von schwierigen, unseligen Verbindungen, gestörten, ja zerrütteten Beziehungen, von Streit und Hass mit zuweilen irrationalen Handlungen und es gibt auch Verwandte, die jeden Kontakt miteinander ablehnen. Schließlich erleben wir auch Überraschungen, ja, Offenbarungen, verschollene Angehörige tauchen auf, unbekannte Onkel treten auf den Plan, vermisste Väter werden gefunden, es ist schon ein bisschen viel. Allerdings werden die Figuren selbst mit ihren Eigenheiten oder Eigenarten durchweg recht gut gegeneinander abgegrenzt, so dass alle Beteiligten zu echten Typen werden, ohne zur bloßen Rolle oder zum Klischee zu verkommen. Viele unterschiedliche Beteiligte an diesem verwirrenden Puzzle sind also involviert, mehr oder weniger, und so geraten auch viele Mitspieler mehr oder weniger stark in Verdacht.
Es entstehen aus dieser Konstellation allerlei Spekulationen, die gewagtesten Theorien werden entwickelt und weit hergeholte Thesen über die Zusammenhänge der sich überschlagenden Ereignisse und mögliche Täter schießen ins Kraut, was bleibt ist Verunsicherung. Es mangelt nicht an Cliffhangern und mysteriösen Andeutungen, es darf also gerätselt werden. Bei den vielen Handlungsebenen und -fäden fällt es nicht ganz leicht, das Knäuel zu entwirren, das die auch für sich recht spannenden Einzelschicksale bilden, die alle gemeinsam ein schließlich doch gut zu erkennendes Muster ergeben. Es gibt aber auch einige lose Fäden, die gar nicht zu dem Garn gehören, mit dem die Geschichte gestrickt ist, und zwar sehr fein und engmaschig. Die Hinweise und Ergebnisse aber, welche von allen Seiten zusammengetragen werden, ergeben irgendwann ein immer klareres Bild der Geschehnisse, sowohl derjenigen der Vergangenheit, die der Leser nach und nach deuten kann, wie auch deren Anknüpfungspunkte mit den gegenwärtigen Verbrechen.
Die Umgebung der Stadt bietet großartige Möglichkeiten, die imposante Natur einzubeziehen, und das geschieht recht geschickt und effektvoll zum Beispiel an den Schauplätzen der Leichenfunde und kulminiert in der äußerst expressionistischen Schilderung eines Orkans und seiner Folgen der, lange angekündigt, schließlich über Aarhus hereinbricht und einige Beteiligte arg beutelt. Gleichzeitig treibt die Geschichte selbst ebenso spektakulär auf ihr bemerkenswertes, dramatisches Ende zu.
Schließlich ist alles geklärt und erklärt und das Buch endet … in Afrika. Versöhnlich? Unversöhnlich? Das muss jeder Leser für sich entscheiden, auf jeden Fall ist der Roman spannend, gut geschrieben, gut zu lesen und verdient vier Sterne. In ihrer Heimat hat Inger Madsen mittlerweile mit großem Erfolg neun Romane um Roland Benito veröffentlicht, hierzulande ist der smarte Ermittler offensichtlich noch ein Geheimtipp. Das könnte sich allerdings bald ändern.
Rezension und Foto von Kurt Schäfer.
Mord auf Antrag | Erschienen am 1. Februar 2016 im Osburg Verlag
ISBN 978-3-95510-107-7
340 Seiten | 12,- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe