Fuminori Nakamura | Der Dieb

Fuminori Nakamura | Der Dieb

Er betreibt sein Metier in den belebten Straßen Tokios und den überfüllten Wagen der U-Bahn. Er stiehlt mit kunstvollen, fließenden Bewegungen. Er nimmt nur von den Reichen, Geld bedeutet ihm nichts. Er hat eine dunkle Vergangenheit, und diese holt ihn wieder ein. Die Beziehung zu einem kleinen Jungen, der ihn sich als Vaterfigur ausgesucht hat, macht ihn dabei verletzlich.

Fuminori Nakamura ist weit über die Landesgrenzen Japans hinaus ein erfolgreicher Autor. Sein im Diogenes Verlag veröffentlichter Roman Der Dieb ist der erste ins Deutsche übersetzte Roman des vielfach ausgezeichneten Autors.

Nakamuras Protagonist – der Dieb – bewegt sich äußerst konzentriert und selbstsicher durch die Straßen Tokios und bestiehlt seine Mitmenschen, jedoch nicht wahllos, eher in einer Art Robin-Hood-Mentalität, denn er sieht den Menschen aufgrund seiner langjährigen Erfahrung an, ob sie viel Geld bei sich tragen oder nicht. Taschendiebstahl ist die Kunst, die er perfektioniert hat; und er greift sich nur die Börsen der Reichen.

Der Autor beschreibt zahlreiche Diebstähle, die sicherlich so zig tausendfach tagtäglich stattfinden, und die doch so ungeheuerlich sind, dass ich gar nicht glauben konnte, dass der Bestohlene nichts bemerkt. Wie der Klappentext schon ankündigt, ist Der Dieb aber nicht nur eine Aneinanderreihung von Taschenendiebstahlsdelikten. Nishimura lebt ein sehr reduziertes unauffälliges Leben in einem eher schäbigen Appartement Tokios. Von seinem erbeuteten Geld könnte er ein weitaus feudaleres Leben führen, doch das ist nicht sein Ziel. Er ist ein Dieb, weil er es kann und weil er sehr gut ist. In diesem Kontext gibt es in der Geschichte Erinnerungsfragmente an seinen Lehrmeister; und an eine große Liebe, die ihm beim Verlust alle Hoffnung nahm und sein Leben noch in der geschichtlichen Gegenwart bestimmt. Naturgemäß hat er sehr wenige Kontakte und keine Freunde; Nishimura lebt in vielerlei Hinsicht ein asketisches Leben.

„Die richtige Art zu leben ist, Freud und Leid gut zu dosieren. Alles, was die Welt uns bietet, ist nur eine Flut von Reizen. Und indem du diese Reize geschickt dosierst, kannst du sie nach Belieben für deine Zwecke nutzen. (…)“ (Seite 145)

In weiteren Gedankenrückblicken erzählt Nakamura von einem großen Coup, zu dem Nishimura von der Yakuza angeheuert wurde und der alles verändern sollte, der teilweise erklärt, wieso der Dieb wurde, was er ist. Einzig die Begegnung mit dem kleinen Jungen, den er beim Lebensmitteldiebstahl im Supermarkt beobachtet, scheint ihn emotional zu erreichen. Er sieht, dass der Junge für seine Mutter stiehlt, dies jedoch sehr ungeschickt anstellt und immer wieder entdeckt wird. Der Junge fasst rasch – und ungewollt – Vertrauen zu Nishimura und hängt sich an seine Fersen, denn sein Zuhause ist für ihn keines. Seine Mutter arbeitet in der Wohnung als Prostituierte, dem Freund der Mutter ist er nur eine Last, was er regelmäßig durch Schläge zu spüren bekommt. Kein Wunder also, dass er auf der Suche nach einer wegweisenden Vaterfigur ist. Und trotz mehrfacher Zurückweisung, weil in Nishimuras Leben kein Platz ist für einen kleinen Jungen, kehrt er immer wieder zurück. Was nicht nur ihm zum Verhängnis wird, denn der für den damaligen Coup verantwortliche Yakuza-Boss ist nach Tokio zurückgekehrt, weil er mit Nishimura noch eine Rechnung zu begleichen hat.

„(…) Druck und Verantwortung können Menschen zu Leistungen anspornen, Fähigkeiten in ihnen wecken, die unter normalen Bedingungen nie möglich wären. Ist der Druck jedoch zu groß, kommt es zu Fehlern. Besonders Leichen sollten vermieden werden. Je mehr Leichen herumliegen, und seien es auch nur eine oder zwei, desto größer ist die Gefahr, dass irgendwelche Dinge ans Licht kommen. (…) Ich töte nur, wenn es wirklich nötig ist.“ (Seite 144)

Erstaunlich leichtfüßig berichtet der Junge von seinem Zuhause, das auch Nishimura kennenlernen wird, ebenso wie die Mutter, die ihn kurzerhand verführt – des Geldes wegen, denn an nichts anderem ist sie interessiert. In dem Roman dreht sich fast alles ums Geld. Das große Geld, das regelmäßige Geld, das gestohlene Geld, das Geld der Reichen, das der Superreichen und das der Armen. Aber es geht auch um Einsamkeit. Die Einsamkeit nach Verlust, eine selbst gewählte Einsamkeit  und die Einsamkeit, in die man gedrängt werden kann.

Insgesamt betrachtet, ist Der Dieb kein Thriller. Es gibt Delikte und die Verwicklung der Yakuza und deren Rachedurst. Der Autor lässt einen erzählerischen Sog entstehen, aber nichtsdestotrotz verorte ich den Roman eher als Spannungsroman, da die Beziehungen Nishimuras im Vordergrund stehen, die Diebstähle nur Ausdruck seiner selbst sind, sein Innenleben eine größere Rolle spielt als der Coup.

 

 

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Der Dieb | Erschienen am 23. September 2015 bei Diogenes
ISBN 978-3-25706-945-7
224 Seiten | 22,- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

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