Flynn Berry | Northern Spy – Die Jagd

Flynn Berry | Northern Spy – Die Jagd

Als ich aus dem Wasser steige, klappern mir die Zähne. Blut rinnt über meinen Fuß und folgt den erhabenen Linien meiner Venen. Ich muss mich an einem Stein im Wasser verletzt haben. Ich bücke mich und spüle das Blut ab.
Ich weiß nicht, warum ich aufschaue. Meine Beine werden plötzlich leichter, als wäre ich an den Rand einer Klippe getreten.
Meine Schwester steht nur ein paar Meter von mir entfernt. Ihr Haar ist blond gebleicht und bis auf die Schultern gekürzt. Sie sieht erschöpft aus, die Sehnen an ihrem Hals stehen hervor. Ihre Haut liegt straff über Stirn und Wangenknochen.
„Was hast du getan?“ (Auszug Kapitel 13)

Tessa lebt vor den Toren Belfasts. Ihr Sohn Finn ist erst wenige Monate alt. Sie genießt die Zeit mit ihm, arbeitet aber bereits wieder als Produzentin für die BBC. Sie und der Kindsvater haben sich bereits wieder getrennt, dennoch hilft Tom ihr mit Finn, genauso wie ihre Mutter und ihre Schwester Marian, eine Rettungssanitäterin. Tessa hat sich ihr Leben also ganz gut eingerichtet, als sie plötzlich eines Tages während der Arbeit ein Video sieht, mit der die Polizei nach IRA-Terroristen sucht, die eine Tankstelle überfallen. Einer der Terroristen ist kurz unmaskiert zu sehen – und Tessa sieht ihre Schwester Marian.

Von jetzt auf gleich ist Tessas Leben auf den Kopf gestellt. Sie wird von der Polizei verhört. Tessa ist schwer enttäuscht von ihrer Schwester, die sie offenbar seit langem belogen hat und sie und Finn in Gefahr gebracht hat. Doch Tessa hatte immer ein sehr enges Verhältnis zu Marian und als die beiden Schwestern sich wieder gegenüberstehn, ist Tessa gezwungen, sich zu entscheiden. Will sie sich aus allem heraushalten und Finn nicht gefährden oder steht sie weiterhin zu ihrer Schwester?

Leider habe ich erst nach dem Lesen erfahren, dass dieses Buch von Reese Witherspoon in ihrem Buchclub empfohlen wurde. Hätte ich das eher gewusst, hätte ich einen weiten Bogen darum gemacht. Das letzte Buch, dass mit einer Empfehlung von Mrs. Witherspoon bei mir ankam, war „Der Gesang der Flußkrebse“ – und das war für mich ein sehr enttäuschender Roman. Und leider fand ich „Northern Spy“ auch enttäuschend.

Den Hauptvorwurf, den man der Autorin machen muss, ist, dass sie das Setting Nordirland benutzt und dann sehr unakkurat hiermit umgeht. Der Roman spielt offensichtlich in der aktuellen Zeit, so erzählt Tessa zu Beginn des Buches, dass sie das Karfreitagsabkommen als Kind erlebt hat. Im Laufe des Plots tut Flynn Berry allerdings mehr oder weniger so, als hätte es das Abkommen nie gegeben. Nein, sie tut so als würden die Troubles immer noch so laufen wie vor 1998, es gibt regelmäßige Bombenattentate, Mordanschläge und Entführungen. Überhaupt behandelt sie den Konflikt erstaunlich unterkomplex, es geht eigentlich nur um die IRA gegen die britischen Sicherheitskräfte. Untergruppierung der IRA, protestantische Loyalisten oder weitere Gruppen werden nicht mit einem Wort erwähnt. Der Background des Konflikts wird auf das Simpelste reduziert. Wird ein Terrorist nach seiner Motivation gefragt, fällt meist nur ein Wort: „Freiheit“. Viel mehr kommt da nicht und das ist insgesamt nicht nur schade, sondern grob fahrlässig. Aber vermutlich reicht das für die amerikanische Zielgruppe.

Des Weiteren vermute ich, dass entweder die Autorin selbst oder jemand aus ihrem Umfeld während der Schreibphase Nachwuchs bekommen hat. Der Umfang, den Tessa mehrere Monate alter Sohn Finn in diesem Roman einnimmt, ist mehr als üppig. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass Finn die am besten beleuchtete Figur des Romans ist. Es mag ja interessant sein, eine junge Mutter in die im Roman beschriebene Situation zu katapultieren, aber muss es gleich ein Erfahrungsbericht „Mein erstes Jahr mit meinem Baby“ werden? Auf Goodreads meinte eine Leserin süffisant: „Over half the book was about babies. It claimed to be about spies“.

Das alles hat mich bei der Lektüre sehr gestört, dass ich auf die ganzen anderen Punkte gar nicht weiter eingehen möchte. Die schleppende Spannung, Logiklücken und so weiter. Sicherlich ist auch nicht alles schlecht. So ist der Grundansatz der Figurenkonstellation mit den zwei Schwestern durchaus reizvoll. Aber insgesamt bleibt „Northern Spy“ eine herbe Enttäuschung für einen Leser, der sich einen gut recherchierten und der komplexen Lage vor Ort angemessenen Thriller versprochen hat.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Northern Spy – Die Jagd | Erschienen am 14.02.2023 im Aufbau Verlag
ISBN 978-3-7466-3988-8
362 Seiten | 13,- €
Originaltitel: Northern Spy | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Wolfgang Thon
Bibliografische Angaben & Leseprobe

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