Eoin McNamee | Blau ist die Nacht

Eoin McNamee | Blau ist die Nacht

Wo war das Blut gewesen? Siebenunddreißig Messerstiche. Es hätte auch im Wagen sein müssen, auf ihrer Kleidung, aber als Ferguson frühmorgens zum Tatort kam, war nirgends Blut. […]
Die Currans und ihre Taschenspielertricks. Gegenstände und Menschen tauchten auf und verschwanden. Patricias Juliet-Kappe, ihre Mappe und ihre Bücher am Rand der Zufahrt zwischen den Bäumen. Die Liste mit den Telefonverbindungen jener Nacht wie vom Erdboden verschluckt. Patricia tot. Gordon und Doris hinter Schloss und Riegel. Eine Darbietung wie im Varieté. Schwerer Vorhang, Drehbühne und Curran als zylindertragender Conférencier. (Auszug Sete 176-177)

Nordirland 1949: In Belfast beginnt der Prozess gegen den Frauenmörder Robert Taylor. Ankläger ist Generalstaatsanwalt Lancelot Curran, der unbedingt ein Todesurteil erreichen will. Auf der Tribüne sitzt sein Adlatus Harry Ferguson, den allerdings anderes umtreibt, denn eine Verurteilung Taylors könnte die unruhige Lage in Nordirland verschärfen. Ferguson wird zudem abgelenkt von Currans 16jähriger koketter Tochter Patricia, die neben ihm den Prozess verfolgt und dafür die Schule schwänzt.

Drei Jahre später wird Patricia Curran mit 37 Messerstichen ermordet auf der Einfahrt zum elterlichen Landsitz „The Glen“ aufgefunden. Die Ermittlungen verlaufen dubios, als Täter wird Iain Hay Gordon verurteilt, offensichtlich ein Sündenbock. Harry Ferguson lässt der Tod Patricias nicht los und er forscht zehn Jahre später immer noch nach dem wahren Mörder.

Nordirland habe ich mit Adrian McKinty als Setting entdeckt. Autorenkollege Eoin McNamee wurde mir schon mal empfohlen, aber erst jetzt habe ich erst geschafft, ihn mit seiner Neuerscheinung Blau ist die Nacht zu lesen. McNamee stammt aus der kleinen Stadt Kilkeel im äußersten Südosten Nordirlands. Aufmerksamkeit über die britischen Inseln hinaus bekam er erstmals mit seinem Debütroman „Resurrection Man“ (dt. Belfaster Auferstehung) in den 1990ern. Das vorliegende Buch bildet eine Trilogie mit den Romanen „The Blue Tango“ und „Orchid Blue“ (dt. Requiem). Verbindendes Element dieser Romane: Staatsanwalt beziehungsweise Richter Lancelot Curran und seine Rolle in den bedeutendsten nordirischen Kriminalfällen nach dem 2.Weltkrieg bis Anfang der 1960er Jahre, unter anderem der Mord an Currans Tochter Patricia.

Denn eine Gemeinsamkeit haben McKinty und McNamee auf jeden Fall: Sie vermischen Fakten und Fiktion. Während McKinty das auf hartgesottene, aber charmante, popliterarische Weise tut und die Troubles direkt und offensiv einbaut, ist McNamee sehr viel feingliedriger, figurenbezogener und lässt die gesellschaftlichen Probleme mehr im Hintergrund bedrohlich mitschwingen.

„Er kommt ungeschoren davon, oder?“
„Wie kommst du darauf?“
„Wegen der Leute, die hier das Sagen haben. Sie werden nicht zulassen, dass einer der ihren für sowas verurteilt wird.“
„In manchen amerikanischen Bundesstaaten kommt ein Weißer nicht an den Galgen, wenn er einen Schwarzen ermordet hat. In manchen Gegenden gilt so etwas als geringfügiges Vergehen.“
„Die werden es hier genauso halten. Vielleicht sollte ich sagen: Ihr werdet es genauso halten.“
„Bin ich denn einer von denen, Esther?“
„Aber natürlich, Harry.“ (Seite 34)

McNamee verwendet zwei reale Kriminalfälle in seinem Roman: Den Mord an Mary McGowan im April 1949 mit dem folgenden Prozess mit dem Angeklagten Richard Taylor und den Mord an Patricia Curran im November 1952. Die Verbindung zwischen beiden Taten ist der General Attorney Lancelot Curran, ein ehrgeiziger, kühler Mann, Oranier und ein Spieler. Er weiß, dass ein Todesurteil gegen den Protestanten Taylor für den Mord an einer Katholiken der Funken für das Pulverfass Nordirland sein kann, trotzdem legt er es darauf an. Weniger um der Gerechtigkeit, als um des Spiels Willen. Seine rechte Hand Ferguson (der eigentliche Protagonist des Romans) hingegen glaubt, dass ein Freispruch Taylors für die meisten Beteiligten – inklusive sich selbst – das Beste wäre (und da ist er nicht der Einzige). So zieht er an einigen Fäden und besticht unter anderem den Vorsitzenden der Geschworenen, um den Prozess zu seinen Gunsten zu beeinflussen. In diesen Abschnitten ist der Roman ein spannendes Gerichtsdrama, in dem aber immer wieder Verknüpfungen zum zweiten späteren Fall auftauchen.

Die Ermordung von Patricia Curran ist bis heute einer der größten, ungelösten Kriminalfälle Nordirlands. Im Roman verdreht Patricia, die frühreife, unangepasste Tochter des Staatsanwalts, Ferguson den Kopf, so dass dieser noch in den 1960er Jahren nachforscht. Unter anderem bei Doris Curran, die nervlich angeschlagene Mutter der Toten. Aufgewachsen als Tochter des Leiters einer Nervenheilanstalt, steht sie in ihren Wahnphasen heute noch in Kontakt zu Thomas Cutbush, immerhin einer auf der langen „Jack The Ripper“-Verdächtigenliste. Doris wurde kurz nach dem Mord in eine Heilanstalt eingewiesen und hatte ein extrem angespanntes Verhältnis zu ihrer Tochter. Überhaupt waren die Familienverhältnisse der Currans ziemlich heikel. Auch der Vater und der Bruder, der sein Jurastudium für ein Laufbahn als katholischer (!) Priester aufgibt, spielen eine merkwürdige Rolle beim Auffinden der Leiche. Der Autor verwebt beide Geschichten mit zahlreichen Zeitwechseln und -sprüngen, manchmal auch innerhalb eines Abschnitts und taucht immer tiefer in die Abgründe seiner Figuren ein.

Blau ist die Nacht hat mich ungemein fasziniert. McNamee spinnt ein enges Netz zwischen den Figuren, verbindet mühelos zwei reale Fälle zu einer fiktiven, intensiven Geschichte. Es ist oberflächlich ein Whodunnit, die Suche nach dem Mörder von Patricia Curran. Aber gleichzeitig ein hintergründiger Noir über eine korrupte Justiz, gesellschaftliche und familiäre Abgründe und verschiedene Facetten der Psychose. Für mich eines der Highlights in diesem Jahr.

 

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

 

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Blau ist die Nacht | Eerschienen am 24. Juni 2016 bei dtv
ISBN 978-3-
272 Seiten | 16,90 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

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