Edney Silvestre | Der letzte Tag der Unschuld

Edney Silvestre | Der letzte Tag der Unschuld

„Warum reden Sie nie wie alle anderen?“
„Hm?“
„Warum antworten Sie nicht auf Fragen wie andere Leute?“
„Und wie antworten die?“
„Warum sagen Sie nicht einfach ja oder nein wie alle anderen?“
„Nicht jede Frage kann mit ja oder nein beantwortet werden, Paolo.“
„Immer wenn ich was zu Ihnen sage, machen Sie, dass ich an was anderes denke, das weiter vorne liegt.“
„Das ist gut.“
„Wieso ist das gut? Mein Kopf steckt dann bloß voller Fragen.“
„Das ist besser, als wenn er voller Antworten steckt. Gute Nacht, Paolo.“
„Gute Nacht“, entgegnete er und sah dem weißhaarigen Mann nach, wie er mit langsamen Schritten davonging. (Auszug Seite 239)

Brasilien im April 1961: Die beiden zwölfjährigen Jungen Paolo und Eduardo entdecken an einem Badesee die verstümmelte Leiche einer jungen Frau. Die Tat scheint schnell geklärt: Die Polizei verhaftet den älteren Ehemann, den Zahnarzt der Stadt. Dieser gesteht die Tat dann auch. Doch den beiden Jungen geht das zu schnell. Sie zweifeln das Geständnis an und verschaffen sich Zugang zur Wohnung des Zahnarztes, um dort auf Spurensuche zu gehen. Dort sind sie überraschend nicht allein. Der alte Ubiratan hegt ebenfalls Zweifel an der angeblichen Täterschaft. Widerwillig lässt er sich von den Jungen überreden, gemeinsam in dem Fall zu ermitteln.

Der Autor Edney Silvestre ist in Brasilien ein bekannter Journalist und Fernsehmoderator. Dies ist sein erster Roman, der im Original im Jahr 2009 veröffentlicht wurde. Dieser Kriminalroman besticht weniger durch Spannung und Tempo, sondern vielmehr durch die Darstellung der ländlichen brasilianischen gesellschaftlichen Verhältnisse und der Entwicklung der Figuren. Der Krimi ist gleichzeitig eine Coming-Of-Age-Geschichte.

Paolo und Eduardo sind beste Freunde und ergänzen sich auch perfekt. Paolo ist der kräftige, körperliche Typ. Er kommt aus schwierigen Verhältnissen. Die Mutter ist tot, der Vater schlägt ihn. Eduardo hingegen ist der schmächtige, melancholische Streber aus behütetem Hause. Paolo ist das Herz, Eduardo das Hirn. Die Gegensätzlichkeit der beiden wird vom Autor in einer sehr gelungenen Szene betont, als sie eine Kinovorstellung von „La Dolce Vita“ besuchen. Während Eduard die Hintergründigkeit des Films bemerkt und davon irritiert ist, konzentriert sich Paolo eher auf die Reize von Anita Ekberg.

Die Freundschaft ist mit wunderbaren Details beschrieben, beispielsweise schreibt Eduardo für Paolo die Bedeutungen von Fremdwörtern auf kleine Zettel, die dieser wie seinen Augapfel hütet. Doch die Zeiten der Kindheit nähern sich dem Ende, die Pubertät beginnt. Der Leichenfund und die Mordermittlungen katapultieren die beiden Jungen von jetzt auf gleich in die bedrohliche Welt der Erwachsenen.

Ihr Kompagnon Ubiratan ist Bewohner oder vielleicht besser Insasse eines Altersheims. Im Gegensatz zu den übrigen Alten ist er aber noch nicht bereit, teilnahmslos dahinzuvegetieren, sondern er schleicht sich regelmäßig auch nachts aus dem Heim. Er ist Kommunist, wurde während der Militärdiktatur gefoltert und behält auch im hohen Alter seine oppositionelle Haltung. Er lässt sich nur widerwillig darauf ein, die beiden Jungen an seinen Nachforschungen zu beteiligen, aber entwickelt im Laufe der Geschichte zwangsläufig Zuneigung zu ihnen.

Silvestre schildert die gesellschaftlichen Verhältnisse zu einer Zeit, in der die Demokratie in Brasilien erst kurz etabliert war (und wenige Jahre später von der nächsten Militärdiktatur abgelöst wurde). Die alten Gesetzmäßigkeiten gelten nach wie vor. Wenn es einigen Amts- und Würdenträgern passt, wird auch ein Mord schnell zu den Akten gelegt. Wurzel allen Übels ist die extreme Klassengesellschaft Brasiliens. Eine Gesellschaft, in der Frauen zu Sexobjekten und Statussymbolen degradiert werden und in der die arme, insbesondere die dunkelhäutige Bevölkerung benachteiligt oder sogar unterdrückt wird. In der Selbstverständlichkeiten wie eine weitergehende Schulbildung für alle als Gnade und Wohltat einiger Granden verkauft wird. In der Mulatten wie Paolo von der Polizei und sogar vom eigenen Vater als „Kaffer“ beschimpft werden.

Der letzte Tag der Unschuld ist ein ungewöhnlicher, aber wirklich lesenswerter Kriminalroman. Eine Geschichte vom Erwachsenwerden, von Freundschaft, aber auch von ungebrochenen, brutalen Machtstrukturen.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

 

Der letzte Tag der Unschuld1

Der letzte Tag der Unschuld | Erschienen am 20. April 2015 bei Blanvalet
ISBN 978-3809026181
352 Seiten | 9,99 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

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