Tom Callaghan | Blutiger Winter
Ein klirrender Wintermorgen in Bischkek. Leblos im Schnee eine junge Frau, in deren aufgeschlitztem Leib Inspektor Borubaew eine grauenvolle Entdeckung macht. Das Werk eines Perversen? Borubaews Ermittlungen führen ihn durch die unglaublichen Landschaften Kirgisistans und in Kreise, deren einzige Sprache die Gewalt ist.
In Blutiger Winter nimmt uns der desillusionierte verwitwete Inspektor Borubaew mit durch die Straßen von Bischkek, der Hauptstadt Kirgisistans, die gleichzeitig der politische, wirtschaftliche und kulturelle Mittelpunkt des Landes ist. Direkt mitten ins Geschehen gestellt, wird der Leser mit dem ersten von – soviel darf wohl verraten sein – mehreren perversen Gewaltverbrechen konfrontiert. Dieses ist der Ausgangspunkt der Ermittlungen des Inspektors, denn bei der toten Frau handelt es sich um die Tochter des Ministers für Staatssicherheit – ein Affront gegen sein Amt und gegen das Land Kirgisistan. Um seine Macht nicht aufs Spiel zu setzen, wird nicht der Sicherheitsapparat des Landes in Gang gesetzt, sondern Inspektor Borubaew wird mit den Ermittlungen beauftragt.
Das Leben im Binnenland Kirgisistan, das an Kasachstan, China, Tadschikistan und Usbekistan grenzt (-stan-Länder), ist geprägt durch Armut, Fremdenhass und Überlebenskampf. Am anschaulichsten verdeutlicht es der Autor an den drogenabhängigen Prostituierten in Bischkek, welchen Borubaew unerschrocken und selbstsicher gegenübertritt. Ebenso ihren Zuhältern und anderen Subjekten der Unterwelt. Dabei sind die Situationen, in denen er gefahrenlos ermittelt deutlich in der Unterzahl. Er manövriert sich von einer lebensgefährlichen Situation in die nächste.
Durchgängiges Thema neben Prostitution, Mord und Gewalt ist die Droge Krokodil, eigentlich Desomorphin, ein starkes Opioid, welches die Abhängigen in unterschiedlichsten Zusammensetzungen in den heimischen Küchen zusammenbrauen. Es heißt, ist man auf Krokodil, hat man maximal sechs bis zwölf Monate Lebenszeit vor sich. Für mich war es sehr hilfreich, bereits vorher etwas über diese Droge gelesen zu haben, da das Thema in Blutiger Winter immer wieder aufkommt.
Bei Injektion führen diese Nebenprodukte zu schweren Gewebeschäden, Venenentzündungen und Nekrose bis zur Gangrän oder Organversagen. […] Die Droge wird in Russland Krokodil genannt, da an der Injektionsstelle oft eine grünliche Verfärbung der Haut auftritt, die an eine Krokodilhaut erinnert. (Quelle: de.wikipedia.org/wiki/Desomorphin).
Zwischen den unterschiedlichsten Gewalteskalationen erfährt der Leser etwas über Inspektor Borubaew, insbesondere über seine Beziehung zu seiner an Krebs verstorbene Ehefrau. Man vermutet keine Poesie in einem solch rohen Roman, doch sie kommt an vielen Stellen zum Vorschein. Auch durch die Liebe zu seinem Land und den Menschen. Trotz all des Abschaums kann er noch Gutes sehen. Und wenn es in seinen Erinnerungen liegt.
Tom Callaghan hat einen sehr eigenen Erzählstil. In kurzen, prägnanten Sätzen haucht er seinen Figuren Leben ein. Dazu adaptiert er die Sprache der vermeintlich Bösen wunderbar bis an die Grenzen des guten Sprachgeschmacks, sofern man diesen definieren möchte. Um ehrlich zu sein, bis auf wenige Ausnahmen scheinen alle in dieser Geschichte keine guten Absichten zu haben.
Mit Blutiger Winter hat mir Tom Callaghan nicht nur neue Geschmacksgrenzen gezeigt sondern mich auch bestens unterhalten – dazu auf eine Weise, die ich wahrscheinlich im Vorhinein als nicht unterhaltsam eingestuft hätte. Sein rauer Stil trägt maßgeblich zur Spannung und Authentizität der Figuren bei. Er schafft es, dass wir 332 Seiten lang in Kirgisistan sind, es uns fasziniert und doch kein Traumziel wird.
Ein herausragendes Leseerlebnis! Bitte mehr davon, Tom Callaghan.
Blutiger Winter | Erschienen am 19. Januar 2015 bei Atlantik, Hoffmann und Campe Verlag
ISBN 978-3-455-65019-8
336 Seiten | 14,99 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe
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