Donato Carrisi | Die Totenjägerin
Nicht alle Vermissten sind Opfer. Manche verschwinden freiwillig, um fortan im Dunkeln zu operieren. Um Rache zu nehmen. Oder einem perfiden Plan zu folgen, der Tote um Tote fordert. Es gibt nur eine Frau, die den geheimen Plan hinter den Morden erkennt. Eine Polizistin, die ganz allein agiert, fest entschlossen, den Vermissten ihr grausames Geheimnis zu entreißen …
Donato Carrisi schließt mit »Die Totenjägerin«, seinem neuen Thriller, thematisch an seinen großen Erfolg »Der Todesflüsterer« an, und auch inhaltlich gibt es hin und wieder Verweise auf diese „Vorgeschichte“ zum aktuellen Fall, die seine Protagonistin Mila Vasquez vor Jahren traumatisierte und immer noch verfolgt. Sieben Jahre hat sie gebraucht, um mit den damaligen Ereignissen leben zu lernen, die ihr immer noch Albträume bereiten. Sie hat sich deshalb in die Abteilung für vermisste Personen versetzen lassen, den „Limbus“, wie die Abteilung im Keller eines Nebentraktes der Ermittlungsbehörde genannt wird. So heißt in der katholischen Theologie die Vorhölle, in der sich die Seelen aufhalten, die ohne eigenes Verschulden vom Himmel ausgeschlossen sind.
Hier ermittelt Mila gemeinsam mit ihrem Chef Gus „Steph“ Stephanopoulos, ohne zu wissen, ob sie es mit Fällen von Entführung, Mord oder auch freiwilligem Abtauchen zu tun hat. Es geht darum, die Wahrheit ans Licht zu bringen, um die Ungewissheit derjenigen zu beenden, die diese Vermissten gekannt und geliebt hatten und keinen Schlussstrich ziehen konnten, bis sie erfuhren, was mit der Person passiert war. Die Aussicht, einen dieser Fälle zu lösen, ist hingegen gering, und so ermitteln die beiden ohne Erfolgsdruck seitens ihres obersten Vorgesetzten, dem „Richter“. Dennoch wird die Arbeit zur Obsession, sie müssen zuerst einen Fall suchen und dann die vermisste Person, denn die war manchmal tatsächlich ganz allein auf der Welt, oder hatte alle Brücken hinter sich abgebrochen.
Nun aber tauchen plötzlich mehrere dieser Schatten aus der Vergangenheit auf, lange vermisste Personen, die sich nach vielen Jahren wieder zeigen um zu morden. Schnell ist klar, um wen es sich bei den Gesuchten handelt, aber warum sind sie vor langer Zeit verschwunden, wo waren sie in der Zwischenzeit und warum kehren sie nun zurück? Geschehen ihre grausamen Verbrechen aus Rache, und folgen sie einem gemeinsamen Plan?
Das sind die drängenden Fragen, vor die sich Mila und ihr Mitstreiter bei der Aufklärung dieser Rätsel gestellt sehen. Sonderermittler Simon Berish, der sie bei der Tätersuche unterstützt, ist ein „Ausgestoßener“, die Kollegen meiden ihn und lassen ihn ihre Abneigung deutlich spüren. Gerüchte über Dienstverfehlungen machten ihn zu einem Einzelkämpfer, der nur gerufen wird, wenn seine außerordentlichen Fähigkeiten bei der Vernehmung Verdächtiger gefragt sind.
Seine Erfolge verdankt Berish, früher ein knallharter Cop, nicht zuletzt der Anthropologie. Das Studium hat ihm neue Horizonte eröffnet und viele profunde Erkenntnisse über sich selbst und andere verschafft. Ein Schutzwall aus Gewohnheiten lässt ihn seine Einsamkeit und die Verachtung der Kollegen ertragen. Mila hingegen leidet an einem totalem Mangel an Empathie, sie wird von der „dunklen Seite“ angezogen, weil ihr als Kind Dinge geschehen sind, die man sich nicht vorstellen will und kann. Früher hat sie sich geritzt, hat auf diese Weise versucht, den Schmerz durch Schmerz zu lindern, inzwischen hat sie einen anderen Weg gefunden, sie sucht das Risiko, bringt sich in die gefährlichsten Situationen, weil sie Kraft daraus schöpft, nur durch Todesangst Leben spürt. Beide begeben sich nun, jeder auf seine Art, auf die Jagd nach den Tätern – und nach einem möglichen Drahtzieher hinter den Verbrechen, einem bösartigen Prediger, einem Messias, der seine Anhänger manipuliert und beherrscht. Und sie haben nicht viel Zeit, denn das Morden wird vermutlich weitergehen.
Sobald die Ermittler die wirkliche Gefahr erkannt haben, ein klares Ziel vor Augen, geht eine atemlose Hatz los, eine Schnitzeljagd zu spektakulären Schauplätzen, zu unheimlichen, Angst einflößenden Umgebungen und zu Szenerien, die Gänsehaut verursachen. Aber wir erleben auch die ruhigen, aufgeräumten, schmucken Reihenhaus-Siedlungen mit ihren glücklichen Familien, und je nach Blickwinkel, je nach Sujet, nach Stimmung und abhängig von den handelnden Personen findet Carrisi immer den richtigen Ton, er formuliert manchmal federleicht, manchmal elegant, zuweilen auch „altmodisch“, und dann wieder nüchtern, präzise, geradlinig, aber immer absolut stimmig, immer mit den richtigen Worten in einem Umfeld zwischen Horror und heiler Welt.
So nimmt Carrisi die Leser, je weiter die Geschichte voranschreitet, mit auf eine immer rasantere Berg- und Talfahrt, wobei es ein wohl dosiertes Tempo gibt zwischen Beschleunigung und Verzögerung, eine genau berechnete Balance von Aufdeckung und Verschleierung, bei der Polizeiarbeit und Privatleben ineinander greifen, dienstliche wie persönliche Geheimnisse offenbar werden und dennoch immer mehr Rätsel präsentiert gerade dann, wenn die Lösung offensichtlich scheint. Und so ahnt man des öfteren, wie alles enden muss, um dann, bevor man noch zu Ende kombiniert hat, doch wieder eine neue Überraschung zu erleben. Die Handlungsfäden werden immer engmaschiger verknüpft, aber das Muster ist lange Zeit nicht zu erkennen. Bis die schockierende Wahrheit zu Tage tritt, schließlich doch so erwartet und dennoch mit Staunen zur Kenntnis genommen. Ein wohl kalkuliertes Ende einer klug konstruierten und wunderbar erzählten Geschichte.
Aber mit dem sicheren Gefühl, es ist noch nicht alles erzählt.
Ich bin gespannt auf den nächsten Roman mit Mila Vasquez.
Rezension von Kurt.
Die Totenjägerin | Erschienen am 12. Mai 2014 bei Piper
496 Seiten | 9,99 Euro
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