Kategorie: Thriller

Deon Meyer | Die Stunde des Löwen (Band 9)

Deon Meyer | Die Stunde des Löwen (Band 9)

„Wem gehört das Geld?“ „Das ist ja das Interessante daran! Wir schaden niemandem. Es ist ein Teil des Geldes, dass die Chandas dem Staat gestohlen haben. Sie konnten es nicht außer Landes bringen.“ Natürlich wusste Christina über die drei indischen Geschäftsleute Bescheid, Brüder, die angeblich dabei geholfen hatten, ihr Heimatland Hand in Hand mit dem ehemaligen Präsidenten gewissenlos auszuplündern. (Auszug E-Book Pos. 310 von 8292)

Im 9. Band der Reihe um die Kapstädter Polizisten Bennie Griessel und Vaughn Cupido ist von beiden Protagonisten erst mal nicht die Rede. Stattdessen verfolgen wir Christina „Chrissie“ Jaeger, die im Okavango-Delta seit einigen Jahren als Safari-Guide wohlhabende Touristen betreut. Als Igen Rousseau ihr einen gut bezahlten Job in Pretoria anbietet, kann sie aufgrund ihrer Verbundenheit zu dem ehemaligen Militärkameraden ihres verstorbenen Vaters nicht absagen.

Die Honigfalle und der Zwanzig-Millionen-Dollar-Raub
Geplant ist ein Überfall auf ein Lagerhaus, in dem rund 20 Millionen Dollar deponiert sind. Chrissie soll als sogenannte Honigfalle mit kühlem Kopf die Wärter ablenken und ihre Kontakte am Kap aktivieren, um nachher die Dollar zu wechseln. Auf den nächsten Seiten lesen wir detailliert, aber auch rasant und packend, wie der Raubzug geplant und vorbereitet wird. Es handelt sich dabei um Geld und Gold, welches vom ehemaligen Präsidenten Südafrikas und seinen engsten Vertrauten widerrechtlich beiseitegeschafft wurde. Und als Leser bangt man mit Chrissie und den anderen Vier, die den Coup durchziehen. Doch was so todsicher geplant war, endet in einer regelrechten Katastrophe.

In einem weiteren Handlungsstrang leiden Griessel und Cupido immer noch unter der Strafversetzung aus der Sondereinheit Valke nach Stellenbosch, besonders weil sie hier nur mit routinemäßiger Polizeiarbeit beschäftigt werden. Während Vince Cupido alles dransetzt, sich zu rehabilitieren, um sowohl den alten Rang wie auch den alten Arbeitsplatz zurückzuerobern, hat Bennie Griessel die Arbeit in Stellenbosch zu schätzen gelernt. Weniger Stress, geregelte Arbeitszeiten und geringere Gewaltverbrechen. Am meisten stresst ihn momentan die bevorstehende Heirat mit seiner großen Liebe Alexa. Die geplante Hochzeit erlebt er eher als Kette lästiger Termine, die er im Stress der Ermittlungen nur mühsam einhalten kann.

Als eine junge Mountainbikerin tot neben ihrem Fahrrad aufgefunden wird, ist wieder ganz altmodisch Laufarbeit angesagt. Die Spuren deuten darauf hin, dass sie von Hunden angefallen wurde und dabei unglücklich stürzte. Ein in der Nähe wohnender Hundebesitzer, der als Täter in Frage käme, streitet vehement alles ab. Noch bevor ihm nachgewiesen werden kann, dass seine Rottweiler die Schuld am Tod der Studentin tragen, wird Basie Small grausam ermordet in seinem Haus aufgefunden. Die Tiere wurden erschossen und bei Small deuten Folterspuren darauf hin, dass man ein Zeichen setzen wollte. Im Haus finden die Ermittler auch eine große Sammlung von Sturmgewehren. Sie wundern sich auch über den üppigen Lebensstil, den der ehemalige Elitesoldat und Ausbilder im Ruhestand pflegte.

„Die Katze ist aus dem Sack, Colonel. Vielleicht weiß jemand da draußen etwas. Über das, was Small getrieben hat. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit kann also nicht schaden.“ „Ein Elitesoldat weiß, wie man Spuren verwischt“, bemerkte Griessel. „Allerdings“, sagte Cupido. „Das wird einen Shitstorm geben“, unkte Jansen. „Ein Elitesoldat. Der Leibrandt-Fall, die Hunde, der Bauschaum. Ich darf gar nicht daran denken!“ (Auszug E-Book Pos. 2794 von 8292)

Auf den Mord an Small folgt ein weiterer ziemlich ähnlich gelagerter Todesfall. Mit den Ermittlungen zu den möglicherweise zusammenhängenden Morden haben Griessel und Cupido offensichtlich höchste Stellen aufgeschreckt, denn sie werden von den Ermittlungen abgezogen. Obwohl ihnen die Fälle entzogen wurden, sorgt Mbali Kaleni, ihre frühere, integre Chefin bei der Valke für eine Versetzung der beiden an die neugegründete NPA (National Prosecuting Authority), um unter dem Radar weiter nachzuforschen. Auch wenn sie es noch nicht ahnen können, haben unsere beiden Helden gewissermaßen unbemerkt in ein Wespennest gestochen.

Südafrikas Realität
Deon Meyer schreibt nicht nur fiktive Thriller, sondern nutzt seine Romane auch dafür, den Zustand seiner Heimat Südafrika offenzulegen. Dabei inspirierten ihn die Gerüchte über den früheren libyschen Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi, der angeblich riesige Geld- und Goldmengen bei seinem Präsidentenfreund in Südafrika verstecken ließ. Der Thriller ist eine ungeschminkte Kritik an den Zuständen in Südafrika und dennoch spürt man zwischen den Zeilen, wie sehr der Autor seine Heimat liebt und die Plünderung des Landes einschließlich der Korruption bis in die höchsten Kreise verabscheut.

„Die Stunde des Löwen“ beinhaltet wieder alles, was ich an der Reihe so liebe. Den Dialogwitz zwischen dem melancholischen Griessel und seinem Partner. Filmreife Action-Szenen, wie zum Beispiel im rasanten Showdown unter dem Einsatz von Flugzeugen, Motorrädern und einem rasendem Bennie, der pünktlich zu seiner Hochzeit erscheinen muss. Ein komplexer Plot, bei dem die beiden Erzählstränge fast bis zum Schluss nebeneinander herlaufen und man keine Ahnung hat, wie sie zusammenhängen. Und natürlich die Spannung von der ersten Seite an, wenn die Durchführung des abenteuerlichen Raubzuges geplant wird und ich den stimmungsvollen Thriller nicht aus der Hand legen konnte.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Die Stunde des Löwen | Erschienen am 17. September 2024 bei Rütten & Loening
ISBN 978-3-352-01006-4
605 Seiten | 22,00 Euro
Originaltitel: Leo | Übersetzung aus dem Afrikaans von Stefanie Schäfer
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Alle Rezensionen zu Romanen von Deon Meyer auf Kaliber.17

Tom Hillenbrand | Lieferdienst

Tom Hillenbrand | Lieferdienst

Auf der Terrasse befindet sich eine rot umrandete, oktagonale Fläche – ein Retourenpad. Man stellt sein Paket hinein, die nächste freie Lieferdrohne erkennt es von oben und nimmt es mit. Normalerweise befinden sich solche Pads an öffentlichen Plätzen. Dass jemand sein eigenes, privates Oktagon besitzt, ist ungewöhnlich. (Auszug Pos. 399 von 2071)

Viele Menschen beschweren sich heutzutage über die Konsum-Gesellschaft, in der nichts mehr repariert, sondern alles sofort ausgetauscht wird. In ‚Lieferdienst‘ wird das von Tom Hillenbrand auf die Spitze getrieben.

Der Maker macht’s, der Bringer bringt’s
In Neu-Berlin der nahen Zukunft leben die Menschen in riesigen Wohnblöcken, arbeiten im Homeoffice und kaufen fast alles online. Bestellte Produkte werden auf 3-D-Druckern, sogenannten Makern, hergestellt und alle Lieferdienste befinden sich zeitgleich im Kampf um denselben Auftrag. Wer die Ware zuerst zustellt, hat gewonnen, wobei die überflüssige Ware der Konkurrenten dann als Produktionsüberschuss in Kauf genommen wird. Hier wird mit allen Mitteln gekämpft, um die Konkurrenz auszuschalten und es herrscht ein erbitterter Kampf um die Vorherrschaft am Liefermarkt. Die Bestellungen werden teils per Drohnen, überwiegend aber durch Kuriere auf Hoverboards, sogenannte Bringer an den Kunden ausgeliefert. Solch ein Bringer ist der Protagonist Arkadi Schneider, der für Rio, einen der größten Lieferdienste der Welt arbeitet und für seinen Job alles gibt und dabei immer die Zustellquote im Blick behält. Wenn nötig lässt er sich das Mittagessen auch mal per Drohne ans Brett liefern. Wir fliegen mit ihm über Neu-Berlin, als ein verletzter Kollege ihn bittet, eine seiner Lieferungen zu übernehmen. Für Arkadi eine Ehre, denn es handelt sich um Airbox, eine Legende in der Lieferdienst-Szene. Umso bestürzter ist er, als er kurz darauf mitansehen muss, wie Airbox ermordet wird und er, als er dessen Paket ausliefern will, plötzlich um sein Leben fürchten und sich in wilden Verfolgungsjagden behaupten muss. Airbox schien in mysteriöse Machenschaften verwickelt zu sein und Arkadi gerät zum ersten Mal ins Grübeln.

Aberwitzige Retourenquote
In Tom Hillenbrands Zukunftsvision hat der Konsum absurde Ausmaße angenommen. Es gibt Flatrates für Schuhe, Anprobierandroiden kümmern sich um das lästige Auspacken, Anprobieren sowie Zurücksenden, und jederzeit und überall kann Essen per Drohne geordert werden. Menschen wie Arkadis Vater, der noch vom alten Schlag ist, den sogenannten Fortschritt kritisch sieht und sich für Zahnpasta noch in den Spaldi bemüht, werden als rückständig angesehen.

Der Kunde muss nur jede Tube bezahlen, die ihm als erste zugestellt wird. Der Rest sind Autoretouren. Bei einem maßgeschneiderten Jackett mag das ein Problem sein, bei Zahnpasta nicht. Die werden die Lieferdienste schon irgendwie los. Ich erkläre es ihm. Aber Dad schüttelt nur den Kopf und murmelt etwas von „Endstufe des Kapitalismus“. (Auszug Pos. 165 von 2071)

Ich bewundere immer wieder Tom Hillenbrands Fähigkeit, eine komplexe Zukunftswelt fiktiv zu erschaffen. Fast ohne unnötige Erklärungen, dafür aber detailreich und mit kreativen Wortneuschöpfungen, die sich leicht erschließen. Und mit einem Füllhorn an kreativen Einfällen. Berlin ist im Krieg komplett zerstört worden und man hat daneben Neu-Berlin, von den Bewohnern liebevoll BeeZwee genannt, errichtet. Die MegaCity besteht aus riesigen Sozialbauten und Ausfallstraßen, die Namen aktueller Prominenz wie Glööckler-Allee oder Robert-Habeck-Ausfallstraße besitzen. Während sich auf den Straßen die Bikes und Rikscha-SUVs stauen, ist der Himmel mit Delivery-Drohnen verstopft. Manche Bewohner, sogenannte Mobilniks, die sich die Miete in den Hochhäusern nicht mehr leisten können, hausen in ihren Autos, welche mit Autopilot unendlich auf dem Stadtring fahren. Das Szenario erscheint gar nicht so abwegig, sondern wie eine radikale Weiterentwicklung unserer heutigen Konsumgesellschaft.

Wir bleiben die ganze Zeit dicht bei Arkadi, dem Ich-Erzähler und seinen Erlebnissen. Die Geschichte wird in einem hohen Tempo mit kurzen Kapiteln erzählt, wirkt dadurch fast gehetzt und rastlos, passend zur hektischen Welt der Lieferdienste. Man fliegt atemlos durch die Seiten und dann ist es auch schon vorbei. Denn das ist das Einzige, was ich zu meckern hätte. Mit knapp 190 Seiten viel zu kurz. Ich hätte gerne noch mehr über diese dystopische Welt und die Lebensbedingungen erfahren. Das Ende, das zwar mit einem mitreißenden Showdown glänzt und einige Überraschungen parat hält, wirkt etwas zu schnell abgearbeitet. Und man hätte auch noch mehr in die Fütterung der Charaktere stecken können.

Trotzdem ist Lieferdienst eine gelungene Dystopie, originelle Zukunftsvision mit coolen Ideen, die mir sehr viel Spaß gemacht hat und die eine Reflexion unserer Konsumgesellschaft darstellt. Dabei spricht der Autor einige aktuelle Themen, wie Ressourcen-Verschwendung und Turbo-Kapitalismus an und das auf unterhaltsame Weise und mit dem ihm eigenen Humor.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.
Lieferdienst | Erschienen am 15. August 2024 bei Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-00621-6
192 Seiten | 20.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu Romanen von Tom Hillenbrand auf Kaliber.17

Don Winslow | City In Ruins (Band 3)

Don Winslow | City In Ruins (Band 3)

Danny wird von Paranoia gepackt, er stellt sich ein Fadenkreuz auf seinem Hinterkopf vor, auf seiner Stirn. Angst steigt in ihm auf – oder ist es Instinkt, sein gutes Gespür? Er rutscht tiefer in seinen Sitz, öffnet das Handschuhfach und nimmt seine Sig Sauer 380 heraus. Vielleicht hatte Jimmy recht. Vielleicht hatten sie alle recht. Das ist eine Falle. (Auszug E-Book Pos. 3486)

Im dritten und finalen Band lebt Danny Ryan bereits über 10 Jahre in Las Vegas, hat sich als seriöser Geschäftsmann etabliert, kümmert sich um seinen Sohn Ian und hat seit einiger Zeit eine bisher noch heimliche Liebesbeziehung zu einer Professorin. Beruflich sehr erfolgreich hat er sich ein Casino- und Hotelimperium aufgebaut. Aufgrund seiner früheren Verbindungen zur Mafia, tritt er offiziell nur als Geschäftsführer der Tara-Group auf, die zwei Bauunternehmern aus Missouri gehört. Dabei hat er im Hintergrund die Fäden gezogen und mit seinen Visionen eine neue Ära in Las Vegas eingeläutet. Statt auf das billige Glücksspiel und Automatenzocker setzt Danny zukunftsorientiert auf luxuriösen Hotelbetrieb und sein Hotel „Shores“ wurde ein großer Erfolg.

Mondänes Hotel-Imperium
Ehrgeizig will Danny weiter expandieren, wobei ein altes sanierungsbedürftiges Hotel „Lavinia“ sein Interesse weckt. Sein größter Konkurrent Vern Winegard hat sich bereits mit dem Besitzer Georg Stavros geeinigt. Danny will unbedingt sein Traumhotel „Il Sogno“ bauen, trifft sich mit Stavros, um ihm ein besseres Angebot zu unterbreiten und geht mit der Tara Group an die Börse, um die benötigten Gelder aufzubringen. Diese feindliche Übernahme zerstört die friedliche Koexistenz der Konkurrenten am Strip und setzt eine Spirale der Gewalt los. Alle Versuche, den Konflikt nicht weiter eskalieren zu lassen, scheitern. Danny sieht sich plötzlich wieder mit seiner Vergangenheit konfrontiert, auch weil die FBI-Agentin Reggie Moneta die Tötung ihres Liebhabers, des korrupten FBI-Agenten Philip Jardine noch nicht verwunden hat und einen Rachefeldzug startet. Danny schart seine alten Freunde Jimmy MacNeese sowie die als Messdiener bekannten Sean South und Kevin Coombs um sich und muss wieder um sein Leben und das seiner Familie kämpfen.

Vom blutigen Kampf der Mobster zu Glücksspiel und Politik
Mit „City in Ruins“ beendet Don Winslow nicht nur seine mit „City on Fire“ und „City of Dreams“ begonnene Trilogie sondern auch seine schriftstellerische Karriere, um seine ganze Energie demnächst in den politischen Kampf zu stellen. Wie auch in seinen anderen Romanen hat er sich eine komplexe Handlung mit einem großen Figurentableau ausgedacht. Seine Sprache ist wie immer schnörkellos, knapp und mit dem ihm eigenen Rhythmus. Aufgrund von kurzen Kapiteln, häufigen Schauplatzwechseln sowie szenischem Erzählen fliegt man nur so durch die Seiten und mag das Buch nicht aus der Hand legen. Eindrucksvolle Bilder ziehen die Leserinnen und Leser mitten ins Geschehen. Die Dialoge sind authentisch und oft von einer intensiven Emotionalität geprägt, die die Spannung zusätzlich verstärkt.

Dabei werden auch die in den beiden früheren Bänden begonnenen Geschichten zu Ende gebracht und bringen ein Wiedersehen mit alten Bekannten. Wir erfahren, wie es mit Chris Palumbo weiter ging, der 1988, nachdem er einige mächtige Mafiosi um ihr Geld brachte, untertauchen musste. Oder Peter Moretti Jr., der nach dem Mord an Vinnie Calfo und seiner eigenen Mutter Celia Moretti festgenommen und vor Gericht gestellt wird. Diese beiden Nebenhandlungsstränge wirken allerdings wie losgelöst von dem Hauptplot. Auch einige neue Figuren tauchen auf und verschwinden wieder arg schnell in der Versenkung. Obwohl Winslow dem Leser mit erläuternden Rückblenden hilft, würde ich vor der Lektüre die beiden vorherigen Bände empfehlen.

Der Kreis schließt sich im Epilog, der wieder 2023 in Rhode Island endet, wo alles begann. Ein rundum gelungener, großartiger, letzter Roman eines Ausnahmeschriftstellers, dessen letzte Seiten ich mit einem Tränchen im Auge gelesen habe. Aus Gründen!

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

City in Ruins | Erschienen am 21.05.2024 bei HarperCollins
ISBN 978-3-36500-566-8
448 Seiten | 24,- €
Originaltitel: City in Ruins | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Conny Lösch
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Andys Rezensionen zu Band 1 und Band 2 der Trilogie

Lavie Tidhar | Maror

Lavie Tidhar | Maror

Das jüdische Passah-Fest erinnert an den Auszug der Juden aus Ägypten. Das zweite Buch Mose erzählt vom Auszug und die Anweisung des Herrn an die jüdische Gemeinde, sie sollen ein Lamm schlachten und „mit bitteren Kräutern sollen sie es essen“ (Exodus 12:8). Diese bitteren Kräuter als Symbol der Sklaverei in Ägypten werden im Hebräischen als „Maror“ bezeichnet. Mit „Maror“ betitelt Lavie Tidhar auch seinen aktuellen Roman, ein Roman über mehr als dreißig Jahre israelischer Geschichte, allerdings aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel. Und wenn man nach über 600 Seiten diesen Roman zugeklappt hat, dann versteht man auch die Symbolik des Titels mit den bitteren Kräutern.

Sie stand auf, und für einen kurzen Moment war Avi allein. Er hörte Eis im Glas klappern und vergrub sein Gesicht in den Händen.
„Ich hasse dieses Land“, sagte er und weinte. (Auszug S. 85)

Der Roman beginnt zunächst im Jahr 2003. Eine Autobombe in Tel Aviv vor einer Wechselstube. Schnell stellt sich heraus: Es ist wohl keine politischer Anschlag, sondern das Ziel war Rubinstein, eine Unterweltgröße. Der kam allerdings unverletzt davon, stattdessen gab es Toten unter Passanten, unter anderem Schulkinder. Der leitende Polizist Cohen beauftragt den jungen Polizisten Avi, sich der Sache anzunehmen und gibt ihm freie Hand. Und Avi nimmt sich der Sache an, die in der Residenz eines weiteren Unterweltbosses in einem Blutbad enden wird.

Danach springt das Buch zurück ins Jahr 1974 und geht von nun an chronologisch vor. Cohen und Eddie sind zwei junge Polizisten, die zum Fundort einer Frauenleiche am Mittelmeerstrand zwischen Tel Aviv und Haifa gerufen werden. Die beiden dürfen hinterher an den Mordermittlungen teilnehmen. Der Druck ist hoch, die Ermittlungen laufen zäh. Da kommt es der Polizei gelegen, dass ein Zeuge sich wunderbar als Verdächtiger eignet. Die Indizien sind aber zu wenig, es braucht ein Geständnis. Cohen und Eddie begreifen schnell, wie sie sich da einbringen können.

Tidhar erzählt nun episodenhaft. Springt manchmal ein paar Monate, manchmal ein paar Jahre in der Zeit nach vorne. Er führt den Leser von 1974 bis 2008 durch mehr als dreißig Jahre israelischer Geschichte und erzählt diese als Geschichte von Verbrechen, Skandalen, Korruption und Staatsaffären. Als Figur im Hintergrund, die aber dennoch alle Fäden in der Hand hält und diese Episoden zusammenhält, fungiert Cohen. 1974 noch ein Streifenpolizist, aber schon mit allen Wassern gewaschen, hält er in der Folge gute Kontakte zu allen Seiten, Polizei, Politik, Unterwelt, Geheimdienste, steigt nicht allzu hoch in der Hierarchie auf, aber wird der Strippenzieher, der alles in Reine bringt und ausputzt, so schmutzig es auch wird. Ein Patriot, der alles tut, um den Staat Israel zu beschützen und dafür alle Grenzen überschreitet.

Jetzt blickte Rubinstein auf. „Ich werde nicht schlau aus dir“, sagte er. „Was bist du, Polizist oder Gangster?“
Man kann auch beides sein, dachte Benny, sagte es aber nicht laut.
„Ich bin kein Gangster“, erklärte Cohen.
„Was dann?“
„Ich wahre die Ordnung“, sagte Cohen. (Auszug S.226)

Die Geschichte Israels als eine Geschichte der Korruption und des organisierten Verbrechens zu erzählen, ist ein starkes Stück. Aber Tidhar fiktionalisiert nicht nur, sondern verarbeitet reale Ereignisse zu einem Epos über Realpolitik und den berühmten Zweck, der die Mittel heiligt. Er zitiert Staatsgründer Ben Gurion: „Erst wenn wir unseren eigenen hebräischen Dieb, unsere eigene hebräische Hure und unseren eigenen hebräischen Mörder haben, haben wir wahrhaftig einen Staat.“

Manipulierte Polizeiermittlungen, Mord, Raub, skandalöse Grundstücksgeschäfte im besetzten Gebieten, eine Eskalation des Drogenhandels durch Israels Eingreifen in den libanesischen Bürgerkrieg, Iran-Contra-Affäre, Waffenhandel mit (süd-)amerikanischen Drogenbossen und Ausbildung von privaten Söldnern durch israelische Reservisten. Alles tatsächlich passiert. Der Sumpf, den Tidhar hier beschreibt, ist mehr als knöcheltief und dem Leser schwirrt förmlich der Kopf ob der angedeuteten staatlichen Verstrickungen in all diese zwielichtigen Dinge unter dem Deckmantel einer Realpolitik in einem bedrohten Land. Und mittendrin dieser Cohen, der Bibelzitate um sich wirft, was zunehmend als Zynismus durchgeht.

„Ich weiß, es ist nicht leicht gewesen“, sagte Cohen. Er schien zwiegespalten. Als wollte er Nir etwas anvertrauen. „Du findest unsere Arbeit abstoßend. Ich auch. Aber Habgier treibt mich nicht an, Nir, sondern das Bedürfnis nach Stabilität. <Der Habgierige erregt Streit, / wer auf den Herrn vertraut, wird reichlich gelabt<. Buch der Sprüche 28. Manches lässt sich unmöglich verhindern. Krieg. Drogen. Aber man kann sie verwalten. Und das machen wir. Wir halten die Stellung. Wir wahren den Frieden. Verstehst du das?“ (Auszug S.419).

Lavie Tidhar ist eigentlich vor allem als Science Fiction und Fantasy-Autor bekannt. Mit „Maror“ wagt er einen historischen Parforceritt durch die dunklen Seiten Israels. Und dieser gelingt fulminant. In seiner Heimat scheint die Zeit übrigens noch nicht reif für diesen Roman zu sein, eine Übersetzung ins Hebräische gibt es noch nicht.

Neben Cohen als rotem Faden tauchen zahlreiche Figuren ab und wieder auf, ehe sie dann oftmals entsorgt werden. Tidhars Schreibstil ist rasant, eindrücklich, immer wieder dringt er tief in die Personen ein, aus deren Blickwinkel die jeweilige Episode erzählt wird (nur Cohen bleibt der Mann im Hintergrund, auch bei den Erzählern). Das Ganze verdichtet er zu einem epischen Thriller, bei dem nicht nur mir ein Vergleich zu Don Winslows „Tage der Toten“ in den Sinn kam. Dabei lässt der Autor auch eine bemerkenswerte Akribie erkennen, was Schauplätze und Historizität betrifft. Zudem ist das Buch eine popkulturelle Quelle, insbesondere zur israelischen Musikszene. Alles in allem kommt man nicht umhin zu sagen: „Maror“ ist ein echtes Meisterwerk.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Maror | Erschienen am 15.04.2024 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-47397-9
640 Seiten | 22,- €
Originaltitel: Maror | Übersetzung aus dem Englischen von Conny Lösch
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension zu „Maror“ beim Kaffeehaussitzer

Joe Thomas | Brazilian Psycho

Joe Thomas | Brazilian Psycho

„Wenn die Armen die Rechten wählen“, sagt Franginho, „dann geht alles den Bach runter.“ (Auszug S. 599)

Diese pointierte politische Analyse legt Autor Joe Thomas einem kleinen Favela-Gangster in den Mund und fasst damit die Situation Brasiliens zu Beginn der Präsidentschaft Jair Bolsonaros treffend zusammen, bringt aber auch eine allgemeine Aussage, die auch auf andere Länder durchaus zutreffend ist. Doch zurück zu Brasilien. Ein wirtschaftlich aufstrebendes Land und Teil der BRICS-Staaten, die inzwischen ein ernstzunehmendes Gegengewicht zu den etablierten G7-Staaten bilden. Allerdings auch ein Land mit großem Wohlstandsgefälle, in dem nur langsam Erfolge gegen die immer noch krasse Armut gefeiert werden und diese Erfolge von erheblicher Korruption, Bereicherung und Kriminalität überschattet werden.

Hiervon erzählt der britische Autor Joe Thomas am Beispiel der südbrasilianischen Metropole São Paulo, in der er zehn Jahre gelebt hat. „Brazilian Psycho“ ist dabei nur der vierte Teil eines São Paulo-Quartetts, von denen die anderen Teile noch nicht in deutscher Übersetzung erschienen sind. Er überspannt mit seinem Roman dabei einen Zeitraum von 16 Jahren, beginnend mit der 1. Amtszeit Lula da Silvas Anfang 2003 und der Amtszeit Dilma Rousseffs ab 2011 (beide aus der Arbeiterpartei) bis hin zur Amtsübernahme der ultrarechten Jair Bolsonaro im Januar 2018.

Joe Thomas wählt eine multiperspektivische Erzählweise und begleitet verschiedene Personen durch die Zeit. Es beginnt mit einem Mordfall, der in gewisser Weise die Klammer der Geschichte bildet. Der englische Direktor einer Privatschule wird ermordet in seinem Haus aufgefunden. Die Kommissare Mario Leme und Ricardo Lisboa übernehmen den Fall und werden von ihrem Chef direkt unter Druck gesetzt, schnell einen Täter zu präsentieren. Mehr oder weniger gegen den Willen der Kommissare wird über die Hausangestellte eine Verbindung zum Favela Paraisópolis gezogen und ein Täter festgenommen, der die Tat auf sich nimmt und verurteilt wird. Dieser Mann ist der Vater von Rafa, eines jungen Heranwachsenden, der für die kriminellen Bosse in der Favela erste Aufträge übernimmt und über die Jahre in der Organisation aufsteigt, sich allerdings mehr um die mehr oder weniger legalen Geschäftszweige kümmert. Ebenfalls im Personenregister: Renata, eine Anwältin, die in der Favela ein Rechtshilfebüro eröffnet oder Carlos, ein Militärpolizist mit Verbindungen in die Favela oder Ray Marx, Berater und politischer Drahtzieher einer einflussreichen Finanzfirma und viele mehr.

Paulo Maluf: ein ehemaliger Bürgermeister São Paulos. Sie haben einen Ausdruck für den alten Maluf geprägt: Roba mais faz.
Er wirtschaftet in die eigene Tasche, aber er bringt Dinge voran.
Leute dieses Schlags hat São Paulo schon immer gewählt.
Es ist viel wichtiger, dass die Stadt funktioniert – der Müll abgeholt wird, die U-Bahn fährt, die Straßen repariert werden -, als sich über Schmiergeldzahlungen und Erpressungen im Rathaus aufzuregen. (Auszug S.34-35)

So gibt es ein umfangreiches Personal und viele Perspektivwechsel und auch Zeitsprünge, doch es geht im Grunde um einen Fokus auf das (Nicht-)Funktionieren des brasilianischen Staates und der Gesellschaft. Der wirtschaftliche Aufschwung lässt in der Bevölkerung Hoffnung keimen und tatsächlich lässt sich ein wenig Aufbruchsstimmung nicht leugnen. Doch letztlich wollen viele profitieren, neben der politischen und unternehmerischen Oberschicht auch die kriminellen Banden der Favelas. So gibt es unheilvolle Absprachen zwischen Politik, Polizei und organisierter Kriminalität, Korruption, Veruntreuung von staatlichen Mitteln, Abschöpfung von Mitteln aus Sozial- und Wohnungsbauprogrammen – und das alles während der Amtszeiten der linken Regierungen von Lula und Dilma Rousseff. Und zum Ende hin tauchen dann plötzlich die ganz dunklen Mächte um einen Jair Bolsonaro auf, der das Ganze noch mit einer Politik des Hasses, des Rassismus und der Gewalt krönt, vor allem im Hinblick auf Frauen und die queere Community.

Autor Joe Thomas hat sich einiges vorgenommen mit diesem Roman und er kann für mich auch einiges einlösen. Das Panorama als lokale Perspektive São Paulos ist interessant gewählt, die Personen sind nicht zu plakativ schwarz und weiß. Es wird nicht zu viel doziert, sondern der Leser muss sich in den Feinheiten brasilianischer Politik und Korruption auch etwas selbst zurechtfinden, was teilweise auch etwas mühsam ist. Auch eine gewisse Redundanz der Ereignisse zum Ende hin gab es für meinen Geschmack, sodass es sich doch etwas zog. So erreicht Joe Thomas letztlich nicht ganz das Niveau seiner auf dem Buchumschlag erwähnten berühmten Kollegen Ellroy und Winslow, die der Autor ganz sicher gut gelesen hat. Dennoch legt Thomas einen über weite Strecken fesselnden und spannenden Wälzer vor, der einen besonderen Fokus auf die brasilianische Politik und Geselllschaft der letzten zwanzig Jahre legt.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Brazilian Psycho | Erschienen am 14.02.2024 im btb Verlag
ISBN 978-3-442-77386-2
638 Seiten | 18,- €
Originaltitel: Brazilian Psycho | Übersetzung aus dem Englischen von Alexander Wagner
Bibliografische Angaben & Leseprobe