Kategorie: Kriminalroman

William Boyle | Eine wahre Freundin

William Boyle | Eine wahre Freundin

Jeder weiß über Vic Bescheid, was er gemacht hat und wie er gestorben ist, aber niemand spricht sie darauf an. Niemand fragt sie, wie es ist, den eigenen Ehemann verbluten zu sehen. Oder wie es ist, mit dem Gartenschlauch getrocknetes Blut von den Stufen zu spritzen, nachdem man gerade den einzigen Mann beerdigt hat, den man je geliebt hat. (Auszug Seite 11)

William Boyle erzählt in seinem Kriminalroman „Eine wahre Freundin“ eine Mafiageschichte und hat dabei, und das ist das Ungewöhnliche, die Frauen in den Mittelpunkt gerückt. Frauen spielen in Geschichten über das organisierte Verbrechen selten eine große Rolle und ihr Leben wird oft als Familienmitglieder oder Geliebte von den Männern an ihrer Seite bestimmt.

Eine dieser Frauenfiguren ist die 60-jährige Rena Ruggiero, Witwe eines Brooklyner Gangsters, der vor neun Jahren vor ihrem Haus erschossen wurde. Der sanfte „Gentle“ Vic hatte für die Mafia sehr erfolgreich Schulden eingetrieben. Aber von dieser schmutzigen Arbeit wollte Rena nie etwas wissen und hatte sich darauf konzentriert, ihrem geliebten Ehemann ein behagliches Heim zu bereiten. Jetzt fühlt sich Rena einsam, denn auch zu ihrer einzigen Tochter hat sie seit einem Streit auf Vics Beerdigung keinen Kontakt mehr. Adrienne, die seit ihrer Teenager-Zeit mit dem Mafiosi Richie Schiavano liiert ist, lebt in der Bronx und hat mir ihrer Mutter gebrochen, selbst die inzwischen 15-jährige Enkelin Lucia hält sie von ihr fern.

Pornoqueen und gewiefte Betrügerin
Renas ruhiges Leben findet ein jähes Ende, als der achtzigjährige Nachbar Enzio ihr an die Wäsche will. Ausgerechnet der schmierige Enzio, der ständig mit blanker Brust in der Einfahrt sein schönes altes Auto wienert und sie beim Vorbeigehen Schätzchen oder Püppchen nennt. Als der alte Lüstling zudringlich wird, zieht sie ihm in ihrer Verzweiflung einen großen Glasaschenbecher über den Kopf. Panisch lässt sie den blutüberströmten Enzio zurück und flüchtet in seinem heißgeliebten schwarzen 62er Chevy Impala. Verzweifelt fährt sie in die Bronx zu ihrer Tochter, in der Hoffnung auf Hilfe in ihrer Not. Doch Adrienne will von Versöhnung nichts wissen und schlägt ihr die Tür vor der Nase zu.

Rena kommt erst mal bei der Nachbarin unter, der locker-lässigen etwa gleichaltrigen Lacey Wolfstein. Der frühere Pornostar hatte nach Karriereende ältere, wohlhabende Männer in Florida ausgenommen, bevor sie sich hier in der Bronx zur Ruhe setzte. Kurz darauf flüchtet auch Lucia hierher. Sie will nicht mit ihrer Mutter und deren Freund Richie nach New York fliehen, weil der seine Mafiakumpel um eine Menge Geld gebracht hat. In Wolfsteins Haus eskaliert die ganze Situation, weil auch noch ein betrogener Lover von Lacey auftaucht und der vermeintlich erschlagene Enzio seinen wertvollen Oldtimer zurück haben will. Nach aberwitzigen Wortgefechten läuft die Situation in Wolfies Haus komplett aus dem Ruder und endet in einem grotesken Blutbad. Rena, Wolfie und Lucia gelingt mit einem Koffer voll Dollar die Flucht in Richies 1982er Cadillac Eldorado, verfolgt von einem hammerschwingendem, irren Mafia-Killer.
Die so unterschiedlichen Frauen kommen sich näher, freunden sich an und halten zusammen. Das erinnert an Thelma und Louise, aber auch auf Mafiafilme a la Scorsese, De Niro und den Sopranos wird oft verwiesen.

Screwball Noir
Screwball Noir nennt der amerikanische Autor seinen Krimi. Dafür sprechen die schrägen Charaktere, die absurden Dialoge, der abgedrehte Plot und das hohe Erzähltempo, die ja typisch für eine Screwball-Komödie sind. Ich mochte den feinen und intelligenten Wortwitz, auch wenn er nicht so philosophisch ist, wie er gerne sein möchte. Unterbrochen wird das ganze immer wieder durch übertriebene Gewaltdarstellungen, die aus chaotischen Situationen entstehen und komödiantisch unterlaufen werden. Die Gewalt ist meistens völlig unangemessen und grenzt oft an sadistische Exzesse. Dadurch bewegt sich der Kriminalroman samt seiner exzentrischen Charaktere oft an der Grenze zur Posse, auch weil die Handlungen der Figuren an einigen Stellen für mich nicht komplett nachvollziehbar waren.
Alles in allem habe ich den harten wie komischen Kriminalroman gerne gelesen und mich gut unterhalten gefühlt und könnte es mir aufgrund der visuellen Situationskomik sehr gut verfilmt vorstellen. Es geht um Familienbande und Freundschaften zwischen Frauen, die über sich hinauswachsen. Männer spielen eine untergeordnete Rolle.

Der Autor
William Boyle ist 1978 im Süden des New Yorker Stadtteils Brooklyn geboren. Man merkt, dass er sich in diesen Vierteln, über die er immer wieder schreibt, gut auskennt. Er wuchs mit der italienischen Seite seiner Familie auf und die Mafiosis haben ihn von klein auf fasziniert und seine Fantasie als Autor beflügelt. Auch in seinem 2018 auf Deutsch erschienenen ersten Roman „Gravesend“ und im Folgeroman „Einsame Zeugin“ spielen diese italienisch-amerikanischen Viertel eine große Rolle. Seit 2012 lehrt er kreatives Schreiben an der University of Mississippi in Oxford, wo er mit Frau und zwei Kindern lebt.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Eine wahre Freundin | Erschienen am 01. Juni 2020 im Polar Verlag
ISBN 987-3-948392-08-6
360 Seiten | 22.- Euro
Originaltitel: A Friend Is A Gift You Give Yourself
Bibliografische Angaben

Jo Nesbø | Ihr Königreich

Jo Nesbø | Ihr Königreich

„Du und ich, wir sind aus demselben Holz geschnitzt, Roy. Wir sind härter als Mama oder Carl. Deshalb müssen wir auf sie aufpassen. Immer. Verstehst du?“ (Auszug Seite 11)

Auf einem abgelegenen Hof im Hochgebirge Norwegens wachsen die Brüder Roy und Carl Opgard auf. Nach dem frühen Unfalltod Ihrer Eltern bleiben die beiden Jugendlichen auf sich allein gestellt in der Abgeschiedenheit zurück. Bis Carl, der jüngere der beiden Brüder zum Studium in die USA zieht. Roy richtet sich auf dem kargen Land ein und führt das zurückgezogene Leben eines Einzelgängers. Sein Geld verdient er erst in der Autowerkstatt seines Onkels und leitet später die Tankstelle des kleinen Ortes Os.

15 Jahre später kehrt Carl zurück, zusammen mit seiner aus der Karibik stammenden Ehefrau Shannon und einem ganz großen Plan: Das Grundstück der Opgards ist nicht viel wert, Landwirtschaft kann man auf diesem Boden nicht betreiben, auch wenn der Vater es immer als Königreich bezeichnet hat. Carl, der als Unternehmer angeblich erfolgreich in Kanada gearbeitet hat, plant oben auf dem Berg ein Luxushotel zu bauen. Als Geldgeber sollen die Einwohner aus dem Dorf fungieren. Carl setzt seinen ganzen Charme und Überredungsgeschick ein, um die Einheimischen zu überzeugen, sich zu beteiligen und damit allen zu Wohlstand zu verhelfen. Aber der Hotelbau, für dessen Entwicklung sich Carls Ehefrau Shannon als Architektin verantwortlich zeigt, geht nicht so wie gewünscht voran. Es kommt zu diversen Problemen, auch weil Carl nicht in allen Belangen die Wahrheit gesagt hat. Roy hilft seinem kleinen Bruder immer wieder aus der Patsche und scheint dabei keine Grenzen zu kennen. Erschwerend kommt hinzu, dass ausgerechnet jetzt alte Gerüchte um den Unfalltod der Eltern und das rätselhafte Verschwinden des Dorfpolizisten die Runde machen.

Sie waren einander Spiegelbild. Obgleich Carl selbst groß und breit, blond und blauäugig war, erkannte ich ihre Seelenverwandtschaft sofort. Das Lebensbejahende. Den Optimismus. Die Bereitschaft, das Beste in jedem Menschen zu sehen, in sich selbst und in anderen. Wobei – ich kannte die Frau eigentlich ja noch gar nicht. (Auszug Seite 15)

Der norwegische Autor lässt den verschlossenen, älteren Bruder aus der Ich-Perspektive erzählen. Der wortkarge Roy hat seinen kleinen Bruder immer schon abgöttisch geliebt und es als seine Pflicht angesehen, ihn zu beschützen. Dabei haben die beiden so gegensätzlichen Geschwister stets zusammen gehalten. Carl war der weichere von Ihnen, ein hübscher Junge, der bei den Mädels gut ankam. Ich empfand ihn in seiner Hilfsbedürftigkeit aber oft als manipulativ. Roy beschreibt die aktuellen Geschehnisse und gibt dabei immer wieder Einblicke in das raue Leben auf dem Hof. In diversen Rückblenden kommt auch das ausgesprochen düstere Schicksal ans Licht, dass die beiden teilen.
Der Einstieg in den Roman überzeugt nicht mit Tempo oder Action, sondern glänzt mit interessanten Charakterstudien. Die Spannung ist eher subtil, man spürt einfach instinktiv, dass hier Unheil aufzieht. Der Kriminalroman ist über weite Teile ein Familiendrama. Auch gibt er einen Einblick in den Mikrokosmos des verschlafenen Örtchens und die Dorfbewohner wirken absolut authentisch und werden durch ihre Geschichten und Nesbøs pointierten Blick sehr lebendig.

Ich bin ein großer Fan des Autors, seiner Harry-Hole-Reihe, aber auch seiner Stand-Alones. Für mich ist er einer der besten Thriller-Autoren, dessen intensiver Schreibstil mich meistens begeistert durch die Seiten fliegen lässt. Und auch hier war ich anfänglich gefesselt und neugierig auf die Geschichte. Doch der Sog stellte sich dann im weiteren Verlauf leider nicht ein, fast widerwillig nahm ich später die Lektüre zur Hand. Natürlich versteht der Autor sein erzählerisches Handwerk und wir werden auf die eine oder andere falsche Fährte gelockt. Im Verlauf der Geschichte kommen nach und nach schockierende Ereignisse ans Tageslicht, einige wirklich überraschend, andere wiederum absolut vorhersehbar, wie zum Beispiel dass Roy sich in die Ehefrau seines Bruders verliebt. Es gelang mir aber nicht, wirklich daran Anteil zu nehmen. Immer weitere Morde und Gewalttaten geschahen und wurden völlig emotionslos und stoisch aus Roys Sicht geschildert. Ich konnte keine Beziehung zu den Figuren, auch nicht zu den Brüdern aufbauen, die zwar ausführlich geschildert, mir aber trotzdem fremd blieben.

Zum Ende waren mir einige Twist zu unglaubwürdig und die Geschichte rutscht fast ins Absurde ab. Ein solider Kriminalroman, aber für mich kein Highlight.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Ihr Königreich | Erschienen am 02. September 2020 im Ullstein Verlag
ISBN 978-3-550-05074-9
592 Seiten | 24,99 Euro
Originaltitel: Kongeriket
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu Büchern von Jo Nesbø von Andy und Gunnar

Natasha Korsakova | Römisches Finale Bd. 2

Natasha Korsakova | Römisches Finale Bd. 2

In Band 2 Ihrer Rom-Krimi-Reihe lässt die Autorin ihren Commissario Di Bernardo erneut in der Musikszene ermitteln: der weltberühmte Pianist Emile Gallois wird nach einer Orchesterprobe zum Zweiten Klavierkonzert von Rachmaninow OP. 18 (spielt in der Handlung immer wieder eine Rolle) erschossen aufgefunden. Der Mörder hat es allerdings nicht bei den Schüssen in Herz und Kopf belassen, die rechte Hand des Pianisten wurde anschließend noch zertrümmert – ein Zeichen oder blanker Hass?

Die Handlung
Auch in diesem Buch spielt – wie im ersten Band – die Vergangenheit eine Rolle. Zu Beginn wird ein Hinweis auf die Mafia eingestreut, doch lässt sich zunächst keine Verbindung zu dem Mord feststellen (der im Übrigen nicht der einzige bleibt).
Gleich zu Anfang der Ermittlungen stellt sich heraus, dass die Ehe von Emile Gallois mit Cristina, die aus einer hochangesehenen und erzkatholischen Familie stammt, nicht das war, was sie nach Außen hin zu sein schien. Bei der Vernehmung von Ephraim Azzaria, der Dirigent des letzten Konzerts von Emile Gallois, erfährt Commissario Di Bernardo, dass Emile schwul war und er nicht nur ein Verhältnis mit Azzaria hatte, sonder sogar eine Hochzeit geplant war. Ein Motiv für Cristina Gallois? Diese behauptet jedoch, schon lange davon gewusst zu haben, aber auch, dass Emile stets versichert hatte, dass er keine Trennung wollte.
Die Ermittlungen gestalten sich für den Commissario immer mehr zum Verwirrspiel; weitere Verdächtige werden bekannt – doch vorläufig führen alle Hinweise in Leere.
Doch dann ergeben sich durch die Erzählungen von Emils ehemaligem Klavierlehrer neue Erkenntnisse.
Obwohl noch weitere Ereignisse aus der Vergangenheit in die Handlung eingestreut sind, die auf das Motiv hinweisen könnten, bleibt man als Leser doch bis zum Schluss im Ungewissen.
Trotz einiger Vermutungen kommt es zum Schluss anders als gedacht (bei mir jedenfalls).

Meine Meinung
Die Autorin hat hier aus verschiedenen, tatsächlichen und vermeintlichen Motiven ein Handlungsgeflecht erdacht, das die Taten der handelnden Personen einerseits menschlich verständlich macht, gleichzeitig aber auch darauf hinweist, in wie weit (falsche) Handlungen in der Vergangenheit die Gegenwart beeinflussen können. Ich finde die Handlung spannend, aber auch raffiniert aufgebaut. Man vermutet zwar, wer der Täter sein könnte, kann sich aber nie ganz sicher sein – was u. a. ja auch den Reiz des Buches ausmacht.
Gefallen haben mir auch die Episoden aus dem Privatleben des Commissarios und seines Assistenten, sie lockern das Ganze auf und man hat fast das Gefühl, die Beiden persönlich zu kennen.

Fazit
Mir hat dieses Buch fast noch besser gefallen als das erste; außer den handelnden Personen lernt man auch Rom und Umgebung kennen und ist bis zum Schluss gespannt, wie sich der Fall wohl auflöst. Bitte weiter so!!

Die Autorin
Natasha Korsakova spielt seit dem 5 Lebensjahr Violine, sie studierte zunächst am Moskauer Konservatorium, später dann auch in Nürnberg und Köln. Bereits in jungen Jahren erhielt sie mehrere Preise, ab 1994 folgten ihre Debüts u.a. an der Berliner und Kölner Philharmonie und dem Leipziger Gewandhausorchester. Auch international wurde sie bekannt, u.a. wurde sie 1998 in Chile als Künstlerin des Jahres ausgezeichnet. Sie lebt im Süden der Schweiz, ist jedoch auch immer wieder in Rom, dem Schauplatz ihrer Kriminalromane.

Foto und Rezension von Monika Röhrig.

Römisches Finale | Erschienen 14.09.2019 im Wilhelm Heyne Verlag
ISBN 987-3-453-42363-3
380 Seiten | 12,99 EUR
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Denise Mina | Klare Sache

Denise Mina | Klare Sache

„Wenn man müde ist und jung und verängstigt und einen die ganze Welt hasst, dann ist es ein Luxus, den Mund zu halten.“ Auszug Seite 8

Anna McDonald ist auf den ersten Blick eine ganz normale Hausfrau, Mutter zweier Mädchen, die sie über alles liebt und mit einem angesehenen Rechtsanwalt verheiratet. Die große Leidenschaft der schottischen Ich-Erzählerin sind True-Crime-Podcasts. Besonders früh morgens, wenn außer ihr noch keiner auf ist, liebt sie es, für kurze Momente aus der Realität zu flüchten.

Der Tod und die Dana
An diesem Morgen beginnt Anna mit einer neuen True-Crime-Geschichte, die sich um den Fall eines gesunkenen Luxusschiffs handelt: Der Tod und die Dana. Ebendiese Dana ist eine Privatyacht, die bei ihrem Untergang vor der französischen Westküste den wohlhabenden Geschäftsmann Leon Parker und seine zwei bereits erwachsenen Kinder mit in den Tod riss. Auf dem Schiff war es auf hoher See aus bisher ungeklärten Umständen zu einer Explosion gekommen, die das Schiff zum Kentern brachte.

Außerdem rankt sich schon seit Jahren ein Fluch um die Dana, denn sie scheint allen Besitzern und ihren Familien nur Pech und Verderben zu bringen. Noch unheimlicher wird die Geschichte dadurch, dass bei einem späteren Tauchgang zu dem Schiffswrack der Taucher ums Leben kam. Das alleine klingt schon schaudernd und spektakulär, doch Anna ist zutiefst aufgewühlt, denn der ertrunkene Leon Parker ist ein Bekannter aus früheren Tagen. Eine dunkle Vergangenheit, die sie vor allen verheimlichen wollte und in der sie noch unter einem anderen Namen ein ganz anderes Leben geführt hatte.

„Der Tag, an dem mir mein Leben um die Ohren flog, fing gut an“ Auszug Seite 9

Noch bevor Anna alles richtig realisieren kann, kommt der nächste Schock: Ihr Ehemann teilt ihr mit, dass er schon seit längerem ein Verhältnis mit ihrer besten Freundin hat. Er will Anna verlassen und, um ihr Zeit zu geben, das Ganze zu verdauen, erst mal mit Estelle in den Urlaub nach Portugal fahren. Die beiden Töchter nimmt er mit. Er lässt eine verzweifelte Anna zurück, deren sorgsam aufgebautes Leben grade völlig aus den Fugen gerät und die erst mal zur Ablenkung und Betäubung in ihren Podcast flieht.

Doch nicht lange, denn dann steht Fin Cohen vor der Tür, Estelles völlig verzweifelter Ehemann. Der magersüchtige, ehemalige Popstar war Frontman einer Band, die nach ihrer Auflösung „nur noch eine Fußnote der Musikgeschichte“ ist. Fin hadert schon lange mit seinem Leben und seinem kurzen Ruhm, der nur noch auf Instagram stattfindet, und dass Estelle ihn abservierte, hat ihm den Boden unter den Füßen weggezogen.

Wilde Odyssee durch halb Europa
Anna kann nicht anders, sie will die Wahrheit über das Schiffsunglück und den Mord an Leon Parker herausfinden. Im Gepäck immer den labilen Fin, den sie zumindest anfänglich versucht loszuwerden. Anna ist ein schwieriger Charakter, wirkt oft sehr schroff, was durch ihre schlimmen Erlebnisse in ihrer Vergangenheit begründet ist, sie hat aber auch eine empathische Seite. Die beiden machen sich überstürzt auf eine rasante Odyssee durch halb Europa, angefangen in Schottland Richtung Ile de Ré, dem Ort des Schiffsunglücks, über Venedig und Lyon wieder nach Glasgow. Dabei lösen sie unzählige, weitere Verwicklungen aus und geben sich mehr als einmal in tödliche Gefahr. Die Geschichte steckt voller Überraschungen und Katastrophen, die mühelos miteinander verwoben werden. Dabei machen sich die beiden oft zu Nutze, dass Fin immer noch prominent, oft erkannt wird und viel öffentliche Aufmerksamkeit genießt.

Meine Meinung
„Klare Sache“ heißt der letztjährige Krimi der schottischen Autorin und bekennenden Feministin (der neueste in deutscher Übersetzung ist gerade erschienen), aber klar ist in diesem Krimi mal gar nichts. Denise Mina ist ja für realistische und düstere schottische Kriminalliteratur bekannt, Tartan Noir eben. „Klare Sache“ ist eine bunte Mischung, wunderbar durchgeknallt, die temporeich und pointiert erzählt wird. Ich würde den Krimi mal unkonventionell nennen. Mina muss einen unbändigen Spaß gehabt haben, diesen sprunghaften Plot zu kreieren. Es sind viele komische Elemente vorhanden, trotzdem werden die Figuren nicht als Witzfiguren dargestellt, sondern sind originell und mit Tiefe ausgestattet. Es passiert immer wieder Unerwartetes, man kommt kaum hinterher und kann nur staunen über dieses Potpourri an launigen Einfällen.
Spannung entsteht auch, weil die Ich-Erzählerin Anna nur scheibchenweise mit allem herausrückt und die Geheimnisse ihrer Vergangenheit so lange wie möglich für sich behält.

Mina packt so viele Themen in den Krimi, es geht um die Opfer von sexueller Gewalt und wie mit ihnen umgegangen wird, es geht um die Macht der Sozialen Medien, es geht um Fußball, um Popkultur und um das Geschichtenerzählen. Es geht auch um die Faszination von True-Crime und wie ein guter Podcast einen Sog entwickeln kann. Dabei ist der Krimi clever und raffiniert, mit bissigem Humor und auch ein bisschen abstrus.

Klare Sache | Erschienen am 12. August 2019 im Argument Verlag mit Ariadne
ISBN 978-3-86754-242-5
352 Seiten | 21,- Euro
Originaltitel: Conviction
Bibliografische Angaben

Jørn Lier Horst | Wisting und der fensterlose Raum Bd. 2

Jørn Lier Horst | Wisting und der fensterlose Raum Bd. 2

Wisting verstärkte den Griff um das Lenkrad. Geld war meistens die Ursache von allem, was nach Korruption, Habgier und Machtmissbrauch roch. Die Ermittlungen würden sich auf einem Niveau abspielen, das Wisting bislang nicht näher kannte. Aber dafür hatte er den besten Ausgangspunkt: Er hatte das Geld. Geld hinterließ immer Spuren. Sie mussten nur bis zum Ursprung zurückverfolgt werden. (Auszug Seite 14/15)

Im zweiten Band der Cold-Cases-Reihe um William Wisting wird der norwegische Kommissar vom Generalstaatsanwalt mit einem brisanten Fall betraut. Der ehemalige Außen- sowie Gesundheitsminister Bernhard Clausen ist im Alter von 68 Jahren einem plötzlichen Herztod erlegen. Nichts deutet auf Fremdeinwirkung hin. Clausen hatte keine direkten Angehörigen mehr. Nach dem Krebstod seiner Frau vor vielen Jahren hatten er und sein Sohn sich voneinander entfernt und das hatte sich bis zum Unfalltod seines Sohnes auch nicht geändert. Dieser hinterließ eine schwangere Freundin und Clausen hatte auch zu ihr und seinem Enkelkind keinerlei Kontakt gehabt.

Millionenfund im Ferienhaus
Im Wochenendhäuschen des pensionierten Spitzenpolitikers findet ein Parteifreund eine große Menge Bargeld. In mehrere Kartons liegen Geldscheine in unterschiedlichen Währungen im Wert von umgerechnet 80 Millionen Kronen. Es ist fast undenkbar, dass der angesehene Politiker Parteigelder unterschlagen hat. Die Ermittlungen nach der Herkunft der Banknoten sollen erst mal vor der Öffentlichkeit geheim gehalten werden. Kommissar Wisting wird verdeckt ermitteln und installiert eine Sonderkommission in seinem Privathaus. Kurz nachdem er zusammen mit Kriminaltechniker Espen Mortensen das Geld aus dem fensterlosen Raum geholt und bei sich im Keller deponiert hat, geht die Holzhütte in Flammen auf. Wisting bittet auch seine Tochter Line, eine freischaffende Journalistin und alleinerziehende Mutter zu dem kleinen Team zu stoßen. Für sie ist es leichter, ohne großes Aufsehen das soziale Umfeld von Bernhard Clausen zu durchleuchten und so bei den Recherchen zu helfen.

Der Flugzeugraub
Es ergeben sich Hinweise darauf, dass das Geld möglichweise aus einem fast 20 Jahre stammenden Flugzeugraub stammen könnte. Bei einem Überfall auf einen Geldtransport am Osloer Flughafen im Jahr 2003 war das dabei erbeutete Geld nie wieder aufgetaucht. Und hier kommt wieder Adrian Stiller ins Spiel. Der Ermittler der Osloer Cold-Case-Unit, den der Leser schon aus Band 1 „Wisting und der Tag der Vermissten“ kennt, befasst sich mit dem ungeklärten Verschwinden von Simon Meier. Der junge Angler war genau an dem Tag des Überfalls 2003 an einem See spurlos verschwunden.

Die Krimis von Jørn Lier Horst sorgen bei mir immer für eine völlige Entspannung. Und das ist gar nicht negativ gemeint, auch wenn sich das für einen Spannungsroman erst mal befremdlich anhört. Als Leser verfolgt man die schrittweisen Ermittlungen. Man ist hautnah dabei, wenn Spuren und Informationen ausgewertet werden und man sich langsam der Auflösung nähert und kann miträtseln und sich fast wie ein Mitglied des Teams fühlen. Auch weil man nie mehr weiß als die Protagonisten. Der norwegische Autor war früher selbst als Hauptkommissar tätig und die geschilderte Polizeiarbeit wirkt realistisch und die Ermittlungen werden nachvollziehbar und schlüssig dargestellt. Insbesondere die Recherchen zum Ursprung der Geldnoten sind ausgesprochen interessant, aber natürlich auch sehr kleinteilig und detailliert beschrieben. Das muss man mögen. Liebhaber von Actionszenen werden nicht auf ihre Kosten kommen.
Zum Schluss steigert sich das Tempo und es kommt zu einer dramatischen Situation, aber da konnte ich nur den Kopf schütteln, denn wirklich jeder Leser bemerkt im Gegensatz zu Wisting, dass Line sich mit Volldampf in eine offensichtlich lebensgefährliche Situation begibt.

Charaktere wie aus dem richtigen Leben
Durch die Möglichkeit einer Sonderkommission im eigenen Haus, gelingt es, die Betreuung der kleinen Enkeltochter besser zu organisieren. So kann auch Line tiefer in die Nachforschungen einsteigen, während sich William Wisting um Amalie kümmert. Das wirkt alles sehr menschlich und sympathisch, war mir aber in der Häufigkeit der beschriebenen Alltagssituationen zu viel. Die Protagonisten wie der bodenständige Kommissar Wisting und seine intelligente Tochter Line wirken lebensecht sowie authentisch und prägen diesen Krimi sehr. Das weitere Figurenpersonal blieb diesmal blass und farblos. Ein wenig enttäuscht war ich von Adrian Stiller und hatte mir hier mehr Entwicklung und Tiefgang erhofft. Im vorherigen Band noch eine undurchsichtige Figur, ehrgeizig und durchtrieben, ist er hier durchweg sympathisch, nett und dadurch total austauschbar und unwichtig.

Fazit
„Wisting und der fensterlose Raum“ ist für mich durchaus ein lesenswerter Krimi, in dem wieder mehrere, lange zurückliegende, ungelöste Kriminalfälle miteinander verknüpft werden und handfeste Polizeiarbeit im Vordergrund steht. Die Begegnung mit den bekannten Figuren hat mir wieder Freude gemacht. Aus den vorgenannten Gründen hat es mich nicht ganz so überzeugt wie Band 1 der norwegischen Krimireihe. Der zweite Band ist nicht ganz so vielschichtig und die Erzählweise noch bedächtiger.

Wisting und der fensterlose Raum | Erschienen am 3. Januar 2020 im Piper Verlag
ISBN 978-3-492-06142-1
432 Seiten | 15,- Euro
Originaltitel: Det innerste rommet
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension von Andy zu Band 1 der Cold-Cases-Reihe um Kommissar Wisting, „Wisting und der Tag der Vermissten“