Kategorie: Aktenzeichen

Adrian McKinty | Alter Hund, neue Tricks (Band 8)

Adrian McKinty | Alter Hund, neue Tricks (Band 8)

„Sie können ruhig schlafen gehen, Sir. Ich bringe das hier zum Abschluss. Alles ziemlich offensichtlich, wie Sie schon sagten, da bin ich mir sicher“, sagte ich.
Da konnte man mal sehen, wie eingerostet ich schon war. So etwas sagte man nicht, wenn die Götter, das böse Omen und das Schicksal zuhörten. Niemals. Was hast du dir dabei gedacht, Duffy? Du Blödmann. (Auszug S.38)

Es ist 1992 und Sean Duffy verbringt eigentlich ein inzwischen beschauliches Leben. Mit Frau (na ja, geheiratet hat er dann doch noch nicht) und inzwischen fünfjähriger Tochter ist er über die Irische See nach Schottland gezogen. Im Polizeidienst ist er nur noch Teilzeitkraft, sechs Tage im Monat, und bis zu den Pensionsansprüchen nach zwanzig Jahren Dienstzeit sind es nur noch zweieinhalb Jahre. So werden er und sein Kumpel John „Crabbie“ McCrabban eher im Innendienst eingesetzt. Doch da der leitende Inspektor Lawson im Teneriffa-Urlaub weilt, soll sich Duffy einen Tötungsfall mal näher anschauen.

Auf den ersten Blick eine klare Sache: Ein Jaguar wurde von einem Landhaus gestohlen. Der Besitzer wollte den Raub verhindern und wurde von dem/den Carjackern erschossen. Doch Duffy fallen spontan ein paar Ungereimtheiten auf, unter anderem ist der Name, mit dem der Tote das Haus gemietet hat, nicht sein richtiger. Der Mann war offenbar Künstler, Landschafts- und Porträtmaler, aber wie konnte er seinen Lebensstil und zwei Radierungen von Picasso im Wohnzimmer finanzieren? In der Telefonliste taucht eine merkwürdige Nummer auf, mit der offenbar sehr regelmäßig telefoniert wurde. Die Nummer gehört zu einer Telefonzelle im irischen Dundalk. In der Nachbarschaft wohnt Brendan O’Roarke, Mitglied des Armeerats der IRA.

Völlig zwecklos, Verstärkung anzufordern. Die würden doch nur alles vermasseln. Die Trottel vom Revier? Vergiss es. Die Schafsköpfe von der Schnellen Eingrifftruppe oder von Special Branch? Amateure. Der Einzige, dem Spiegel-Duffy vertraute, war Crabbie, und den wollte niemand hier reinziehen.
Duffy solo. Wie in alten Zeiten. (Auszug S.216)

Man fürchtete ja schon das Schlimmste, als Adrian McKinty nun dank eines neuen amerikanischen Agenten mit seinem „The Chain“ unter die Bestseller-Autoren gegangen war. Es sei ihm unbedingt gegönnt, aber die einhellige Meinung der Kenner seiner Bücher war, dass „The Chain“ zu sehr dem Mainstream frönte und er damit unter seinen Möglichkeiten blieb. Gefürchtet wurde vor allem um seine Sean-Duffy-Reihe, die er aber zum Glück doch noch (ein bisschen) weitermacht.

Begonnen hatte die Reihe ja 1981 und inzwischen haben in Band 8 die Neunziger erreicht. Alles entwickelt sich weiter, aber Duffy bleibt sich zum Glück treu (auch wenn er die Musik von diesen Typen aus Seattle gar nicht so übel findet). Einen Fall, den er einmal in den Fingern hat, gibt er so einfach nicht ab – auch wenn er von seinen Vorgesetzten dazu aufgefordert wird und es gefährlich werden könnte. Diesmal pfeifen die Spatzen von den Dächern, dass es Bewegung bei den Konfliktparteien der „Troubles“ gibt. Friedensgespräche vielleicht. Doch natürlich gibt es auch die Falken, die auf keinen Fall der anderen Seite entgegenkommen wollen. Und einer dieser Falken ist Brendan O’Roarke.

Mit Sean Duffy bin ich ja nun schon eine Weile unterwegs und werde dieser Reihe nicht müde. Dieser Mischung aus Kriminalfällen voller Finesse und brisanter Action, dem historischen Hintergrund des Nordirland-Konflikts, dem Zeitgeist der 80er und frühen 90er und dem bissig-ironischem Sprachwitz gepaart mit einer lässigen Hauptfigur, kann man sich kaum entziehen. Sehr erfreulich, dass Autor Adrian McKinty und sein Übersetzer Peter Torberg im Laufe der Reihe auch ihre Form nicht verlieren. Somit ist auch „Alter Hund, neue Tricks“ wiederum ein richtig guter Kriminalroman geworden.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Alter Hund, neue Tricks | Erschienen am 29.09.2020 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-47060-2
368 Seiten | 15,95 €
Originaltitel: Hang On St. Christopher
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezensionen von Gunnar zu Band 3 (Die verlorenen Schwestern), Band 4 (Gun Street Girl), Band 5 (Rain Dogs) und Band 6 (Dirty Cops) der Sean-Duffy-Reihe

William Boyle | Eine wahre Freundin

William Boyle | Eine wahre Freundin

Jeder weiß über Vic Bescheid, was er gemacht hat und wie er gestorben ist, aber niemand spricht sie darauf an. Niemand fragt sie, wie es ist, den eigenen Ehemann verbluten zu sehen. Oder wie es ist, mit dem Gartenschlauch getrocknetes Blut von den Stufen zu spritzen, nachdem man gerade den einzigen Mann beerdigt hat, den man je geliebt hat. (Auszug Seite 11)

William Boyle erzählt in seinem Kriminalroman „Eine wahre Freundin“ eine Mafiageschichte und hat dabei, und das ist das Ungewöhnliche, die Frauen in den Mittelpunkt gerückt. Frauen spielen in Geschichten über das organisierte Verbrechen selten eine große Rolle und ihr Leben wird oft als Familienmitglieder oder Geliebte von den Männern an ihrer Seite bestimmt.

Eine dieser Frauenfiguren ist die 60-jährige Rena Ruggiero, Witwe eines Brooklyner Gangsters, der vor neun Jahren vor ihrem Haus erschossen wurde. Der sanfte „Gentle“ Vic hatte für die Mafia sehr erfolgreich Schulden eingetrieben. Aber von dieser schmutzigen Arbeit wollte Rena nie etwas wissen und hatte sich darauf konzentriert, ihrem geliebten Ehemann ein behagliches Heim zu bereiten. Jetzt fühlt sich Rena einsam, denn auch zu ihrer einzigen Tochter hat sie seit einem Streit auf Vics Beerdigung keinen Kontakt mehr. Adrienne, die seit ihrer Teenager-Zeit mit dem Mafiosi Richie Schiavano liiert ist, lebt in der Bronx und hat mir ihrer Mutter gebrochen, selbst die inzwischen 15-jährige Enkelin Lucia hält sie von ihr fern.

Pornoqueen und gewiefte Betrügerin
Renas ruhiges Leben findet ein jähes Ende, als der achtzigjährige Nachbar Enzio ihr an die Wäsche will. Ausgerechnet der schmierige Enzio, der ständig mit blanker Brust in der Einfahrt sein schönes altes Auto wienert und sie beim Vorbeigehen Schätzchen oder Püppchen nennt. Als der alte Lüstling zudringlich wird, zieht sie ihm in ihrer Verzweiflung einen großen Glasaschenbecher über den Kopf. Panisch lässt sie den blutüberströmten Enzio zurück und flüchtet in seinem heißgeliebten schwarzen 62er Chevy Impala. Verzweifelt fährt sie in die Bronx zu ihrer Tochter, in der Hoffnung auf Hilfe in ihrer Not. Doch Adrienne will von Versöhnung nichts wissen und schlägt ihr die Tür vor der Nase zu.

Rena kommt erst mal bei der Nachbarin unter, der locker-lässigen etwa gleichaltrigen Lacey Wolfstein. Der frühere Pornostar hatte nach Karriereende ältere, wohlhabende Männer in Florida ausgenommen, bevor sie sich hier in der Bronx zur Ruhe setzte. Kurz darauf flüchtet auch Lucia hierher. Sie will nicht mit ihrer Mutter und deren Freund Richie nach New York fliehen, weil der seine Mafiakumpel um eine Menge Geld gebracht hat. In Wolfsteins Haus eskaliert die ganze Situation, weil auch noch ein betrogener Lover von Lacey auftaucht und der vermeintlich erschlagene Enzio seinen wertvollen Oldtimer zurück haben will. Nach aberwitzigen Wortgefechten läuft die Situation in Wolfies Haus komplett aus dem Ruder und endet in einem grotesken Blutbad. Rena, Wolfie und Lucia gelingt mit einem Koffer voll Dollar die Flucht in Richies 1982er Cadillac Eldorado, verfolgt von einem hammerschwingendem, irren Mafia-Killer.
Die so unterschiedlichen Frauen kommen sich näher, freunden sich an und halten zusammen. Das erinnert an Thelma und Louise, aber auch auf Mafiafilme a la Scorsese, De Niro und den Sopranos wird oft verwiesen.

Screwball Noir
Screwball Noir nennt der amerikanische Autor seinen Krimi. Dafür sprechen die schrägen Charaktere, die absurden Dialoge, der abgedrehte Plot und das hohe Erzähltempo, die ja typisch für eine Screwball-Komödie sind. Ich mochte den feinen und intelligenten Wortwitz, auch wenn er nicht so philosophisch ist, wie er gerne sein möchte. Unterbrochen wird das ganze immer wieder durch übertriebene Gewaltdarstellungen, die aus chaotischen Situationen entstehen und komödiantisch unterlaufen werden. Die Gewalt ist meistens völlig unangemessen und grenzt oft an sadistische Exzesse. Dadurch bewegt sich der Kriminalroman samt seiner exzentrischen Charaktere oft an der Grenze zur Posse, auch weil die Handlungen der Figuren an einigen Stellen für mich nicht komplett nachvollziehbar waren.
Alles in allem habe ich den harten wie komischen Kriminalroman gerne gelesen und mich gut unterhalten gefühlt und könnte es mir aufgrund der visuellen Situationskomik sehr gut verfilmt vorstellen. Es geht um Familienbande und Freundschaften zwischen Frauen, die über sich hinauswachsen. Männer spielen eine untergeordnete Rolle.

Der Autor
William Boyle ist 1978 im Süden des New Yorker Stadtteils Brooklyn geboren. Man merkt, dass er sich in diesen Vierteln, über die er immer wieder schreibt, gut auskennt. Er wuchs mit der italienischen Seite seiner Familie auf und die Mafiosis haben ihn von klein auf fasziniert und seine Fantasie als Autor beflügelt. Auch in seinem 2018 auf Deutsch erschienenen ersten Roman „Gravesend“ und im Folgeroman „Einsame Zeugin“ spielen diese italienisch-amerikanischen Viertel eine große Rolle. Seit 2012 lehrt er kreatives Schreiben an der University of Mississippi in Oxford, wo er mit Frau und zwei Kindern lebt.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Eine wahre Freundin | Erschienen am 01. Juni 2020 im Polar Verlag
ISBN 987-3-948392-08-6
360 Seiten | 22.- Euro
Originaltitel: A Friend Is A Gift You Give Yourself
Bibliografische Angaben

Eric Berg | Die Mörderinsel (Band 2)

Eric Berg | Die Mörderinsel (Band 2)

„Und genau dort waren binnen eines Jahres sechs Menschen eines gewaltsamen Todes gestorben – zwei hatte man mit durchtrennter Kehle im Wald gefunden, vier waren einem Brandanschlag zum Opfer gefallen. Einige deutsche Medien hatten dem betulichen Usedom daraufhin den Titel „Mörderinsel“ verliehen, was ich ungerecht fand.“ (Auszug Seite 33)

Der Hotelier Holger Simonsmeyer wird wegen Mordes an einer jungen Frau angeklagt, aber freigesprochen. Die Bewohner von Trenthin, dem Dorf auf Usedom, in dem Holger mit seiner Familie lebt, sind aber ganz anderer Meinung als das Gericht, haben Angst und fühlen sich von der Polizei im Stich gelassen. Dann geschieht ein schrecklicher Brand im Haus der Simonsmeyers, der weitere Opfer fordert… Die Journalistin Doro Kagel hat über den Mord und den Prozess geschrieben, die Bitte von Holgers Frau aber abgelehnt, einen weiteren Artikel über die Freilassung zu verfassen. Nun plagen sie nach dem Brand Schuldgefühle und sie beginnt den Fall erneut aufzurollen.

Zweiter Fall für Doro Kagel
„Die Mörderinsel“ von Eric Berg ist der zweite Fall um die Journalistin Doro Kagel. In ihren ersten Ermittlungen in „Das Nebelhaus“ deckt sie ein Geheimnis auf der Ostseeinsel Hiddensee auf, nun verschlägt es die Berlinerin zweitweise nach Usedom. Die Geschichte ist in zwei Zeitebenen aufgebaut. Die erste beginnt nach der Freilassung von Holger Simonsmeyer, es wird die Zeit bis zum Brand aus Sicht einiger Dorfbewohner geschildert. Die zweite Ebene beginnt wenige Tage nach dem Brand, Doro Kagel beschreibt ihre Ermittlungen und Recherchen in Ich-Form.

Keine leichte Aufgabe
Doro Kagel ist Gerichtsreporterin, hat einen Sohn und wohnt mit ihrem Mann Yim, der ein Restaurant leitet, in Berlin Friedenau. Doro hat sich keine leichte Aufgabe gestellt, in dem sie den abgeschlossenen Fall wieder aufnimmt, zumal einige Zeugen zu dem Zeitpunkt nicht mehr leben. Sie entdeckt schnell Ungereimtheiten und setzt alles daran, um diese aufzudecken.

Ungeahntes Ende
Die Handlung liest sich meiner Meinung nach sehr flüssig und spannend. Es werden verhältnismäßig viele Charaktere geschildert, ich kam aber insgesamt gut mit. Der Spannungsbogen ist für mich definitiv vorhanden, auch weil der Autor am Schluss einer Zeitebene oft mit Cliffhangern arbeitet, das Ende hat mich dann aber trotz viel Dramatik nicht so überrascht, wie ich es gehofft hatte. Ich habe mit dieser Auflösung nicht gerechnet, aber irgendwie habe ich etwas Schockierenderes erwartet. Trotzdem bin ich keineswegs enttäuscht. Ich hatte sehr viel Freude beim Miträtseln und Überlegen.

Fazit: Spannender Fall, ehrgeizige Journalistin und wunderschöner Schauplatz. Klare Empfehlung!

Eric Berg zählt seit vielen Jahren zu den erfolgreichsten deutschen Autoren. 2013 verwirklichte er einen lang gehegten schriftstellerischen Traum und veröffentlichte seinen ersten Kriminalroman »Das Nebelhaus«, der 2017 mit Felicitas Woll in der Hauptrolle der Journalistin Doro Kagel verfilmt wurde. Seither begeistert Eric Berg mit jedem seiner Romane Leser und Kritiker aufs Neue und erobert regelmäßig die Bestsellerlisten. (Verlagsinfo)

 

Foto und Rezension von Andrea Köster.

Die Mörderinsel | Erschienen am 16. März 2020 im Limes Verlag
ISBN 978-3-809-02661-7
480 Seiten | 15,00 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Monikas Rezension zu Band 1 der Reihe, „Das Nebelhaus“; außerdem weitere Rezensionen zu Eric Bergs Romanen „So bitter die Rache“, „Die Schattenbucht“ und „Das Küstengrab“

Jürgen Heimbach | Die rote Hand

Jürgen Heimbach | Die rote Hand

Die Arbeit war nicht die, die Streich sich erhofft hatte, und Bommel kein Mensch, für den er Sympathie empfand, doch schon beim Grenzübertritt an einem kalten Aprilmontag im letzten Jahr hatte man ihn deutlich spüren lassen, dass auf einen wie ihn niemand wartete. Trotz Wirtschaftswunder und Wir-sind-wieder-wer war offenbar niemand bereit, ihm ordentliche und anständig bezahlte Arbeit zu geben. Er hatte den Kameraden, die ihm genau das vorausgesagt hatten, nicht geglaubt. Oder nicht glauben wollen. (Auszug, S.10)

Frankfurt 1959: Arnolt Streich ist nach Jahren in der Fremdenlegion nach Deutschland zurückgekehrt. Doch er erhält nur eine Anstellung als Wachmann in einem heruntergekommenen Werkstatt- und Garagenhof. Als ein Mordanschlag auf einen Waffenhändler verübt wird, spekuliert die Stadt über die Hintergründe. Hatte der Tote Waffen an die algerischen Befreiungskämpfer verkauft und war das sein Todesurteil? Streich will sich am liebsten aus allem heraushalten, doch er merkt bald, dass ihn die Vergangenheit einholt.

Streich merkt bald, dass er beobachtet wird – offenbar der französische Geheimdienst. Tatsächlich wird er auch bald kontaktiert: Die Franzosen brauchen Informationen von ihm, setzen ihn mit Details aus der Vergangenheit unter Druck. Streich kooperiert notgedrungen, immer noch im Glauben, sich aus den schmutzigen Details heraushalten zu können. Doch als ein weiterer Anschlag verübt wird, an dem auch eine Unbeteiligte ums Leben kommt und die Franzosen ihn nicht aus den Fängen lassen und ihm nahe stehende Personen bedroht werden, entscheidet sich Streich, die Initiative zu übernehmen.

Dabei tat er völlig unbeteiligt. Routine. So, wie Streich es selbst kannte, aus den Kellern. Als harmloser Beginn dessen, was folgen sollte. Und sie wussten alle, was folgen würde. Die Schreie derer, die vor ihnen in diesem Raum waren, hatten sich in ihre Ohren, in ihr Hirn eingebrannt. In jede Faser ihres Körpers. Deshalb hatten sie diesen Raum für die Verhöre ausgesucht, zwischen den Zellen, in denen man den Schreien nicht entgehen konnte. Tag für Tag. Nacht für Nacht. Für Streich war es eine Notwendigkeit. Im Krieg. Nichts Persönliches. Wie für die meisten. Es gab aber auch die anderen. Die taten es mit Begeisterung. (Auszug, S.153)

Protagonist Arnolt Streich ist einer von vielen deutschen Soldaten, die kurz nach dem Ende des zweiten Weltkriegs von der Fremdenlegion rekrutiert wurden. Für die Franzosen war er in so manchem Konflikt seitdem im Einsatz. Sein Spitzname aus der Legion lautet „Quatre d’un coup“ – „Vier auf einen Streich“ – aus einer blutigen Episode des Indochinakriegs. Überhaupt hat Streich so manche Gräueltat miterlebt oder sogar selbst begangen, zuletzt im Algerienkrieg. Sein ganzes Erwachsenenleben war er mehr oder weniger Soldat im Krieg. Nun, zurück in Deutschland, muss er feststellen, dass man trotz Wirtschaftswunder auf jemanden wie ihn nicht gewartet hat. Sein Wachdienstjob bringt ihm zwar immerhin etwas Geld und ein Dach über den Kopf, unterfordert ihn aber total. Sein Leben scheint perspektivlos, ständig springen ihn Bilder aus der Vergangenheit in den Sinn. Er lebt in den Tag hinein und hört immerfort die gleiche Platte auf dem Plattenspieler: „Mon Légionnaire“ von Edith Piaf. Doch ein paar Lichtblicke gibt es: Streich besucht regelmäßig die Prostituierte Gesine, zu der er ein freundschaftliches Verhältnis aufbaut. Und er beschützt das herumstreunende junge Mädchen Lidia vor einer Jungenbande und knüpft so ein zartes Band mit dem Mädchen.

„Die rote Hand“ erzählt eine fiktive Geschichte mit realem Hintergrund. In den 1950er Jahren verübte die vom französischen Geheimdienst getragene Organisation „La main rouge“ zahlreiche Terroranschläge auf Kader und Unterstützer der algerischen Befreiungsorganisation FLN. Unter anderem wurden auch in Deutschland Anschläge verübt, so etwa der hier zu Beginn des Romans erwähnte Anschlag auf den Waffenhändler Purchert im März 1959 in Frankfurt, bei dem dieser ums Leben kam. Aus Staatsräson gab es damals keine ernsthaften Ermittlungen der deutschen Behörden. Autor Jürgen Heimbach ist so etwas wie ein Spezialist für (noch) unverbrauchte historische Stoffe. Seine Trilogie um Kommissar Koch spielte bereits in den Nachkriegsjahren des zweiten Weltkriegs. Nun ist er noch einige Jahre weiter voran gegangen und erzählt eine heutzutage wenig präsente Nachkriegsepisode.

„Ein Roman, der niemanden unberührt lässt“, „schnörkellos und dennoch poetisch.“ So lautet das Urteil der Glauser-Preis-Jury, die Jürgen Heimbach für „Die rote Hand“ in diesem Jahr den Glauser-Preis für den besten Kriminalroman verlieh. Diese Auszeichnung hatte mich nochmal auf den Roman aufmerksam gemacht und ich habe es keinesfalls bereut. Das Setting ist gelungen, die Spannung steigert sich stetig. Die Stimmung ist eher melancholisch bis rau, genau wie die Hauptfigur des einsamen Legionärs, der sich in der Heimat nicht mehr zurechtfindet. Heimbach bleibt auch eng bei seiner Figur und erzählt über eine personellen Erzähler aus dessen Sicht. Dabei strömen immer wieder unvermittelt Bilder aus der Vergangenheit auf Streich ein und vermischen sich mit der realen Situation, was auch textlich ohne Übergang so vom Autor sehr gekonnt umgesetzt wird und den Leser an der einen oder anderen Stelle überrascht. Ebenfalls prominent wird auch die Musik im Roman eingesetzt, neben der Piaf auch einige Jazztitel der 1950er Jahre. Insgesamt also ein wirklich empfehlenswerter Kriminalroman.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Die rote Hand | Die Taschenbuchausgabe erschien am 29.09.2020 im Unionsverlag
ISBN 978-3-293-20899-5
288 Seiten | 13,95 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Jo Nesbø | Ihr Königreich

Jo Nesbø | Ihr Königreich

„Du und ich, wir sind aus demselben Holz geschnitzt, Roy. Wir sind härter als Mama oder Carl. Deshalb müssen wir auf sie aufpassen. Immer. Verstehst du?“ (Auszug Seite 11)

Auf einem abgelegenen Hof im Hochgebirge Norwegens wachsen die Brüder Roy und Carl Opgard auf. Nach dem frühen Unfalltod Ihrer Eltern bleiben die beiden Jugendlichen auf sich allein gestellt in der Abgeschiedenheit zurück. Bis Carl, der jüngere der beiden Brüder zum Studium in die USA zieht. Roy richtet sich auf dem kargen Land ein und führt das zurückgezogene Leben eines Einzelgängers. Sein Geld verdient er erst in der Autowerkstatt seines Onkels und leitet später die Tankstelle des kleinen Ortes Os.

15 Jahre später kehrt Carl zurück, zusammen mit seiner aus der Karibik stammenden Ehefrau Shannon und einem ganz großen Plan: Das Grundstück der Opgards ist nicht viel wert, Landwirtschaft kann man auf diesem Boden nicht betreiben, auch wenn der Vater es immer als Königreich bezeichnet hat. Carl, der als Unternehmer angeblich erfolgreich in Kanada gearbeitet hat, plant oben auf dem Berg ein Luxushotel zu bauen. Als Geldgeber sollen die Einwohner aus dem Dorf fungieren. Carl setzt seinen ganzen Charme und Überredungsgeschick ein, um die Einheimischen zu überzeugen, sich zu beteiligen und damit allen zu Wohlstand zu verhelfen. Aber der Hotelbau, für dessen Entwicklung sich Carls Ehefrau Shannon als Architektin verantwortlich zeigt, geht nicht so wie gewünscht voran. Es kommt zu diversen Problemen, auch weil Carl nicht in allen Belangen die Wahrheit gesagt hat. Roy hilft seinem kleinen Bruder immer wieder aus der Patsche und scheint dabei keine Grenzen zu kennen. Erschwerend kommt hinzu, dass ausgerechnet jetzt alte Gerüchte um den Unfalltod der Eltern und das rätselhafte Verschwinden des Dorfpolizisten die Runde machen.

Sie waren einander Spiegelbild. Obgleich Carl selbst groß und breit, blond und blauäugig war, erkannte ich ihre Seelenverwandtschaft sofort. Das Lebensbejahende. Den Optimismus. Die Bereitschaft, das Beste in jedem Menschen zu sehen, in sich selbst und in anderen. Wobei – ich kannte die Frau eigentlich ja noch gar nicht. (Auszug Seite 15)

Der norwegische Autor lässt den verschlossenen, älteren Bruder aus der Ich-Perspektive erzählen. Der wortkarge Roy hat seinen kleinen Bruder immer schon abgöttisch geliebt und es als seine Pflicht angesehen, ihn zu beschützen. Dabei haben die beiden so gegensätzlichen Geschwister stets zusammen gehalten. Carl war der weichere von Ihnen, ein hübscher Junge, der bei den Mädels gut ankam. Ich empfand ihn in seiner Hilfsbedürftigkeit aber oft als manipulativ. Roy beschreibt die aktuellen Geschehnisse und gibt dabei immer wieder Einblicke in das raue Leben auf dem Hof. In diversen Rückblenden kommt auch das ausgesprochen düstere Schicksal ans Licht, dass die beiden teilen.
Der Einstieg in den Roman überzeugt nicht mit Tempo oder Action, sondern glänzt mit interessanten Charakterstudien. Die Spannung ist eher subtil, man spürt einfach instinktiv, dass hier Unheil aufzieht. Der Kriminalroman ist über weite Teile ein Familiendrama. Auch gibt er einen Einblick in den Mikrokosmos des verschlafenen Örtchens und die Dorfbewohner wirken absolut authentisch und werden durch ihre Geschichten und Nesbøs pointierten Blick sehr lebendig.

Ich bin ein großer Fan des Autors, seiner Harry-Hole-Reihe, aber auch seiner Stand-Alones. Für mich ist er einer der besten Thriller-Autoren, dessen intensiver Schreibstil mich meistens begeistert durch die Seiten fliegen lässt. Und auch hier war ich anfänglich gefesselt und neugierig auf die Geschichte. Doch der Sog stellte sich dann im weiteren Verlauf leider nicht ein, fast widerwillig nahm ich später die Lektüre zur Hand. Natürlich versteht der Autor sein erzählerisches Handwerk und wir werden auf die eine oder andere falsche Fährte gelockt. Im Verlauf der Geschichte kommen nach und nach schockierende Ereignisse ans Tageslicht, einige wirklich überraschend, andere wiederum absolut vorhersehbar, wie zum Beispiel dass Roy sich in die Ehefrau seines Bruders verliebt. Es gelang mir aber nicht, wirklich daran Anteil zu nehmen. Immer weitere Morde und Gewalttaten geschahen und wurden völlig emotionslos und stoisch aus Roys Sicht geschildert. Ich konnte keine Beziehung zu den Figuren, auch nicht zu den Brüdern aufbauen, die zwar ausführlich geschildert, mir aber trotzdem fremd blieben.

Zum Ende waren mir einige Twist zu unglaubwürdig und die Geschichte rutscht fast ins Absurde ab. Ein solider Kriminalroman, aber für mich kein Highlight.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Ihr Königreich | Erschienen am 02. September 2020 im Ullstein Verlag
ISBN 978-3-550-05074-9
592 Seiten | 24,99 Euro
Originaltitel: Kongeriket
Bibliografische Angaben & Leseprobe

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