Kategorie: Aktenzeichen

Julia Bruns | Ostseeglut (Band 2)

Julia Bruns | Ostseeglut (Band 2)

„Die Seebrücke lag weit hinter ihr, wie sie feststellen musste. Ohne es zu bemerken, war sie fast schon in Baabe angekommen. Sie stopfte ihre geballten Fäuste in die Taschen ihres Parkas und machte sich erleichtert zurück auf den Weg nach Sellin. Das Meer half immer, wenigstens darauf konnte man sich verlassen.“ (Seite 140)

Im Ostseebad Sellin auf der Insel Rügen brennt das Kurhotel und bei den Löscharbeiten wird zufällig eine Leiche gefunden. Bei dem Toten handelt es sich um den Besitzer des Hotels, der seit zwei Wochen vermisst wird. Das Gebäude wurde vor kurzem verkauft und soll abgerissen werden. Hauptkommissarin Anne Berber nimmt die Ermittlungen auf und stößt bei der Suche nach dem Täter auf die DDR-Vergangenheit der Insel und ein schreckliches Geheimnis.

Fall zwei auf Rügen
„Ostseeglut“ von Julia Bruns ist der zweite Fall um Kommissarin Anne Berber und Pensionsbesitzer Sören Hilgert. „Eiskalte Ostsee“, den ersten Teil, habe ich ebenfalls gelesen und war sehr begeistert, dementsprechend habe ich der Fortsetzung entgegengefiebert. Anders als beim ersten Buch kam ich hier etwas schwer in die Geschichte rein, ich empfand den Schreibstil etwas umständlich, mit vielen langen und verschachtelten Sätzen. Außerdem kommen am Anfang recht viele Namen vor, da musste ich ein paar Mal überlegen, wer nochmal wie im Zusammenhang stand. Nach diesen Anfangsschwierigkeiten hat mich der Roman aber gepackt und ich finde das Thema zur DDR-Geschichte sehr spannend.

Zwei Protagonisten
Anne Berber ist Anfang vierzig, frisch von ihrem Mann getrennt und vorübergehend in der Pension von Sören Hilgert untergekommen. Hilgert ist Anfang fünfzig und seit etwa zwei Jahren Pensionsbesitzer in Sellin. Vorher war er jahrelang Kriminalkommissar bei der Mordermittlung in Berlin, da ihm diese Arbeit aber fast einen Burnout beschert hat, hat er drastisch umgesattelt. Auf Grund seiner Erfahrung ist er deshalb der ideale Sparringpartner für Anne Berber, wenn sie in ihren Ermittlungen nicht weiterkommt.

Spannung bis zum Schluss
Der Spannungsbogen hält sich bei diesen Ermittlungen wirklich bis ganz zum Schluss. Die Geschichte konzentriert sich überwiegend auf die Lösung des Falls, nur sehr wenig private Aspekte der beiden Protagonisten fließen ab und zu mit ein, was ich sehr angenehm finde. Außerdem kommt die Kulisse des Ostseebades und des Meeres absolut nicht zu kurz.

Fazit: Nach kleinen Anfangsschwierigkeiten überzeugt mich dieser Krimi durch Spannung, Ostsee-Flair und die jüngere deutsche Geschichte der Insel Rügen. Ich freue mich schon jetzt auf Fall drei.

Julia Bruns, in einem kleinen Dorf mitten in Thüringen geboren, studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Psychologie an der Universität Jena. Nach ihrer Promotion im Fach Politikwissenschaft arbeitete sie viele Jahre als Redenschreiberin und in der Öffentlichkeitsarbeit. Heute schreibt sie als freie Autorin. (Verlagsinfo)

 

Foto und Rezension von Andrea Köster.

Ostseeglut | Erschienen am 18. März 2021 im Emons Verlag
ISBN: 978-3-740-81111-2
272 Seiten | 13,00 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Andreas Rezension zu Band 1 „Eiskalte Ostsee“

Tom Hillenbrand | Montecrypto

Tom Hillenbrand | Montecrypto

Aktien, Anleihen, Währungen – alles ist genauso viel wert, wie die Leute glauben, dass es wert ist. Geld ist kondensierte Hoffnung, ist Glaube – Glaube daran, dass ein Asset weiter steigt; Glaube daran, dass man nicht zu teuer gekauft hat; Glaube daran, dass ein noch größerer Depp um die Ecke kommen und einem Ölfässer, Schweinehälften oder hässliche Münzen mit Schildkrötenlogo für das Doppelte abnehmen wird; Glaube daran, dass die eigene Gier gerechtfertigt ist. (Auszug 2063 E-Book)

Der amerikanische Selfmade-Unternehmer Gregory Hollister war ein Techno-Nerd, wie man ihn sich vorstellt: Schon mit 11 Jahren schrieb er erfolgreich seine ersten Computerprogramme. Später gründete er ein Startup namens Juno und entwickelte eine Kryptowährung sowie eine Bezahlapp. Der Visionär der Krypto-Branche galt als Pionier in Sachen Digitalwährungen. Der Verkauf seiner Firmenanteile machte ihn zu einem schwerreichen Mann. Jetzt ist Sir Holly bei einem tragischen Unglücksfall ums Leben gekommen. Bei einem Flug mit seiner Cessna stürzt er über dem Golf von Mexiko aus ungeklärten Gründen ins Meer. Von seinem Milliarden-Vermögen ist jedoch nur ein Bruchteil auffindbar, denn er hatte den größten Teil seines Privatvermögens in Bitcoins angelegt.

Bitcoins, Shitcoins, Blockchain
Gregs Halbschwester Jackie, eine Aktionskünstlerin beauftragt in Los Angeles den Privatdetektiv Edward Dante das verschwundene Vermögen zu finden. Der britisch-stämmige Dante scheint genau der richtige zu sein, denn er ist auf heikle Finanz- und Vermögensfragen spezialisiert, „Financial Forensics“ steht ja nicht ohne Grund auf seinen Visitenkarten. Der ehemalige Banker hatte bei Gerard Brothers, einer der größten Wall-Street-Banken, gearbeitet und Millionen verdient. Nach der weltweiten Finanzkrise hatte er, mitverantwortlich, der Wall-Street beschämt den Rücken gekehrt und sich im eher schäbigen Viertel Hollywoods als Privatschnüffler selbstständig gemacht.
Der finanziell in der Klemme sitzende Ed Dante nimmt den Auftrag an und beginnt zu ermitteln. Während eines Einbruchs in seiner Wohnung lernt er die technisch versierte und attraktive Bloggerin Mercy Mondego kennen, die sich im Gegensatz zu ihm mit Bitcoins, Shitcoins, Klickfarmen und Computern hervorragend auskennt und ihm fortan in der Krypto-Welt zur Seite steht. Dann tauchen im Internet posthum Videos von Hollister auf, in dem er kryptische Botschaften verkündet und von einem digitalen Schatz namens Montecrypto berichtet, der versteckt wäre und den es zu finden gäbe. Die Internet-Community dreht durch und es beginnt eine Art kollektive Schnitzeljagd. Auch FBI, ausländische Geheimdienste, Mafia und Terroristen begeben sich auf die globale Suche nach dem Vermögen und wollen den Code entschlüsseln.

First Quatermain
Zusammen mit Mondego macht Dante sich zu einer Kryptokonferenz nach Las Vegas auf. Hier in der Mojave-Wüste gerät er mehr zufällig in den Fokus der Öffentlichkeit. Im Netz fallen sofort Vergleiche mit dem literarischen Schatzsucher Allan Quatermain und Dante mit markantem Trilby-Hut auf seiner Glatze. Er wird zum Held und zum Gejagten. Fortan ist er in den Medien nur noch der First Quatermain.

Während weitere Videos vom exzentrischen Startup-Unternehmer viral gehen, bringt Dante Hinweise in Zusammenhang und kommt dem Geheimnis um Montecrypto immer näher. Die wilde Jagd über Kontinente, die jetzt folgt, von Los Angeles über Frankfurt bis nach Zug in die Schweiz und zurück nach New York hat mich irgendwie an Dan Browns Thrillers mit Professor Robert Langdon erinnert. Der Showdown ist dann ein großes Actionspektakel mit einem teilweise voraussehbaren Twist und für mich eine augenzwinkernde Reminiszenz an die Schlussszenen der Bond-Filme ohne hier zu viel verraten zu möchten.

Meine Meinung
Tom Hillenbrand begibt sich mit seinem neuen Thriller in die Welt der Finanzwirtschaft. Bedenken, dass man ohne Vorkenntnisse der Thematik überhaupt folgen kann, sind unnötig. Denn wie von ihm gewohnt, macht er nicht den Fehler, mit seitenlangen Erklärungen zu nerven. Souverän und mit viel Hintergrundwissen werden die Grundlagen der globalen Geldwirtschaft und digitale Kryptowährungen vermittelt und die Bitcoin-Szenerie dargestellt. Das Tempo ist hoch und ich habe immer wieder gerne zum Buch gegriffen. Als moderne Version einer Schatzsuche à la Indiana Jones funktioniert der Thriller bestens und die vielen popkulturellen Verweise haben Spaß gemacht. Ich mag einfach den flüssigen und mitunter flapsigen Schreibstil, Dantes trockenen Humor und die vielen witzigen Einfälle.
Mit Ed Dante hat der Autor eine sympathische Figur erschaffen, auch wenn man sagen muss, dass der Charakter des abgehalfterten, gescheiterten Privatdetektivs mit Alkoholproblemen und leicht sexistischem Frauenbild eher einem Stereotyp entspricht, während die attraktive, schlaue Bloggerin oder der durchgeknallte Krypto-Millionär nur oberflächlich skizziert werden.

Trotz des Titels und der Schatzsuche ist „Montecrypto“ keine moderne Version von „Der Graf von Montechristo“. Tom Hillenbrand hat eine eigenständige Geschichte geschrieben, in der allerdings einige Namen aus dem Klassiker von Alexandre Dumas auftauchen. Montecrypto hat mehr Anteile einer Abenteuergeschichte als eines Thrillers und mich über weite Strecken hervorragend unterhalten.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Montecrypto | Erschienen am 04. März 2021 bei Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-00157-0
448 Seiten | 16,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu Tom Hillenbrands Thriller „Drohnenland„, „Hologrammatica“ und „Qube

S.A. Cosby | Blacktop Wasteland

S.A. Cosby | Blacktop Wasteland

Beauregard umklammerte das Lenkrad, als wäre es ein Rettungsring. Er konnte die Vibrationen des Motors durch das Steuer bis zu den Schultern spüren. Sein Herz aber trommelte nicht. Er vermutete, das es nicht mehr als siebzig Mal pro Minute schlug. Dies war sein Platz. Er war in seinem Element. (Auszug S.134)

Beauregard „Bug“ Montage ist vermutlich der beste Fluchtwagenfahrer südlich der Mason-Dixon-Linie. Allerdings hat sich Bug seit längerem zur Ruhe gesetzt und versucht nun, sein Leben als treusorgender Familienvater und Inhaber einer eigenen Autoreparaturwerkstatt zu bestreiten. Doch spätestens seitdem ein Konkurrent mit Dumpungpreisen die Kunden aus Bugs Werkstatt abzieht, mehren sich die Geldprobleme und Bug gute Vorsätze gehen langsam, aber sicher zum Teufel.

Der Roman beginnt mit einem illegalen Autorennen, an dem Bug mit seinem Cousin Kelvin teilnimmt, um wenigstens die wichtigsten Rechnungen bezahlen zu können. Doch obwohl Bug gewinnt, werden sie von Betrügern abgezogen. Bug kann sich zwar einen Teil des Geldes wiederholen, doch der Abend war letztlich ein Fiasko, hat die erhoffte Trendwende nicht gebracht. Da meldet sich mit Ronnie ein Bekannter von Bug und will ihn bei einem todsicheren Überfall auf einen Juwelier dabei haben. Bug zögert. Zum einen, weil Ronnie und sein Kumpel Quan nicht den Eindruck erwecken, die Sache so glatt durchziehen zu können. Zum anderen aufgrund seines schlechten Gewissens gegenüber seiner Frau Kia und den beiden Söhnen. Doch er braucht das Geld und macht mit. Natürlich geht die Sache alles andere als glatt. Es gibt einen Toten bei Überfall. Und die Diamanten im Safe stammten aus illegalen Geschäften, sodass die Cops nun ihr geringstes Problem sind.

Wenn du fährst, als hättest du Angst, wirst du verlieren. Wenn du fährst, als würdet du befürchten, anschließend die ganze Maschine erneuern zu müssen, wirst du verlieren. Du musst fahren, als würde nichts anderes zählen, als so schnell wie möglich diese Linie zu erreichen. Du musst fahren, als wäre der Teufel hinter dir her. (Auszug S.13)

Die Worte seines Vater klingen Bug immer noch oft im Ohr. Generell handelt der Roman von nicht überwundener Vergangenheit. Schon Bugs Vater war eine Legende im Fluchtwagen, schon er hat seine Familie für manch riskanten Job vernachlässigt. Als es eines Tages zum Äußersten kam, war Bug dabei. Der Vater verschwand daraufhin spurlos, Bus selbst musste ins Jugendgefängnis. Diese Geschichte wird in Rückblenden erzählt. Bug hat dies niemals verdaut oder gar damit abgeschlossen. Er eifert seinem Vateridol immer noch hinterher, im Wissen, dass er seine Familie damit genauso zerstören könnte wie sein Vater damals.

Immer wenn Bug „on the road“ ist, spielt der Roman seine Stärken aus: Tempo, Spannung, Adrenalin. Spektakuläre Verfolgungsjagden funktionieren nicht nur auf der Leinwand. Zudem passt auch das Setting des ländlichen Virginias zwischen tiefen Wäldern, Trailerparks, Schrottplätzen und Hinterwäldlerkaffs. Ein kleiner Wermutstropfen für mich war, dass die anderen Momente, insbesondere die familiären diese Intensität immer wieder brechen. Dieses klassische Motiv des vom Leben nicht gerade begünstigten Underdogs, hin und hergerissen zwischen Bad Boy und Familienglück, wird für meinen Geschmack etwas zu sehr ausgereizt.

Was ich bisher noch gar nicht erwähnt hatte: Bug ist schwarz. Ich finde aber, dass das gar nicht so vordergründig von S.A. Cosby ausgespielt wurde. Natürlich kommt der Alltagsrassismus zur Sprache, kommt es hier und da zum Clinch mit Rednecks (Sehr amüsant, als ein Typ Bug nicht in einen Sexclub lassen will, mit den Worten: „Können wir nicht wenigstens einen Ort haben, an dem ihr nicht eure Visage reinsteckt? Verdammt, ihr habt doch schon das Weiße Haus.“ Auszug S. 285) Aber letztlich hätte Bug auch mit wenigen Strichen „White Trash“ sein können – der Plot hätte trotzdem funktioniert. Da bringt beispielsweise die Autorenkollegin Attica Locke mit ihren Kriminalromanen einen viel tieferen afroamerikanischen Blick ein.

Dennoch ist „Blacktop Wasteland“ keine Enttäuschung, eher im Gegenteil. Der Krimiplot ist straff und zeitweise in High Speed erzählt. Da gibt es nichts zu meckern. Aber ein paar Abzüge in der B-Note muss ich machen, da Cosby zu offensiv auf ein Ende zusteuert, das dem gepflegten Noir-Leser etwas widerstrebt. Nichtsdestotrotz eine gut unterhaltende, stellenweise packende Lektüre.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Blacktop Wasteland | Erschienen am 26.03.2021 im Ars Vivendi Verlag
ISBN 978-3-7472-0220-3
320 Seiten | 22,- €
Originaltitel: Blacktop Wasteland (Übersetzung aus dem Englischen von Jürgen Bürger)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Viveca Sten | Das Grab in den Schären (Band 10)

Viveca Sten | Das Grab in den Schären (Band 10)

“Nora saß unten am Steg, es war erst halb acht. Sie hatte sich mit ihrem Kaffee nach draußen gesetzt, um eine Weile für sich zu sein, bis die Familie wach wurde. Es war ein schöner Morgen. Dünne Wolken streichelten den blauen Himmel, Sonnenglitzer tanzte auf dem Wasser. In der Ferne bei Eknö hielt ein Segelboot schnurgerade Kurs auf Sandhamn.” (Auszug Seite 29)

Auf Telegrafholmen, der Schäreninsel gegenüber von Sandhamn, werden bei Bauarbeiten Teile einer Leiche entdeckt. Die Überreste können kaum zur Identifizierung genutzt werden, aber sie liegen dort schon zehn Jahre. Thomas Andreasson beginnt mit den Ermittlungen und stößt auf zwei Vermisstenanzeigen, die eventuell mit dem Grab in Verbindung gebracht werden können. Nora Linde, eine alte Schulfreundin von Thomas und derzeit krankgeschriebene Staatsanwältin, verbringt den Sommer in ihrem Haus auf Sandhamn. Sie hört von dem Fund und auch von dem einen Vermisstenfall, bei dem es um eine junge Frau geht, die auf Sandhamn verschwunden ist. Es lässt ihr keine Ruhe und sie beginnt trotz ihrer Krankschreibung auf eigene Faust zu recherchieren und begibt sich damit in Lebensgefahr…

“Das Grab in den Schären” von Viveca Sten ist bereits der zehnte Fall um Thomas Andreasson und Nora Linde. Ich bin auf diese Reihe aufgrund der Verfilmungen aufmerksam geworden und habe daraufhin alle Bände gelesen und mich sehr auf diesen neuen Fall gefreut. Aktuell gibt es in der ZDF-Mediathek übrigens vier neue Folgen “Mord im Mittsommer”.

Spannung durch zwei Zeitebenen
Die Geschichte ist in zwei Zeitebenen aufgeteilt, einmal die aktuellen Ermittlungen und dann ab und zu einige Kapitel der zwei Vermissten von vor zehn Jahren, deren Fälle im Rahmen der Mordermittlung neu aufgerollt werden. Das erhöht den Spannungsbogen erheblich, denn als Leser habe ich so ab und zu einen kleinen Vorsprung bekommen. Ansonsten sind es wirklich mühselige Recherchen, die nur ab und zu etwas Neues und oder brauchbares ergeben, aber trotzdem nicht langatmig sind. Das Ende kann dann noch überraschen und wird etwas dramatischer, aber für meinen Geschmack nicht zu übertrieben.

Nora ist psychisch etwas angeschlagen
Das Privatleben der beiden Protagonisten wird in dieser Geschichte nicht ausgeklammert, von Nora gibt es mehr zu lesen, sie ist ja im Grunde auch privat unterwegs, von Thomas werden nur kurze Sequenzen geschildert. Nora finde ich in diesem Buch nicht ganz so sympathisch wie in den vorherigen. Die letzte Ermittlung, in die sie als Staatsanwältin involviert war, Band neun, hat sie psychisch sehr mitgenommen, deshalb auch die Krankschreibung. Sie lässt sich aber natürlich nicht professionell helfen, das wäre ja zu einfach, und frisst ihre ganzen Ängste lieber in sich hinein oder betäubt sie mit Alkohol oder Schlaftabletten. Um sich selbst aus dieser Spirale zu reißen, beginnt sie dann mit ihren eigenen Ermittlungen, obwohl das gegen Dienstvorschriften verstößt.

Meine Lieblingskulisse
Ansonsten übt die Kulisse natürlich den größten Reiz auf mich aus. Insel und Meer sind mein absoluter Favorit und davon gibt es im Stockholmer Schärengarten ja genug. Die Beschreibungen sind auch recht detailliert ohne langatmig zu werden und lassen mich die aktuellen Reisebeschränkungen noch mehr bedauern. Nach den Romanen von Viveca Sten ist Sandhamn in jedem Fall eine Reise wert.

Fazit: Spannende Ermittlungen mit einem Ende, das überraschen kann und einem wundervollen Schauplatz.

Viveca Sten war Chefjuristin bei der dänischen und schwedischen Post, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie wohnt mit Mann und drei Kindern vor den Toren von Stockholm. Seit sie ein kleines Kind war, hat sie die Sommer auf Sandhamn verbracht, wo ihre Familie seit mehreren Generationen ein Haus besitzt. Ihre Sandhamn-Krimireihe feiert weltweit Erfolge und wurde fürs ZDF verfilmt. (Verlagsinfo)

 

Foto & Rezension von Andrea Köster.

Das Grab in den Schären | Erschienen am 4. März 2021 im Verlag Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3-462-05217-6
416 Seiten | 16,00 €
Originaltitel: I hemlighet begravd (Übersetzung aus dem Schwedischen von Dagmar Lendt)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Martin Michaud | Aus dem Schatten des Vergessens (Band 3)

Martin Michaud | Aus dem Schatten des Vergessens (Band 3)

Mit dem Prädikat „Thriller“ wird verschwenderisch umgegangen, auch in diesem Fall verbirgt sich hinter der Ankündigung tatsächlich eher ein klassischer „Police Procedural“, ein Kriminalroman, den man in Franko-Kanadien, wo er entstanden ist „Polar“ nennt, und den man gut vergleichen kann mit einem „Nordic Noir“, einem der bei uns so beliebten Skandinavien-Krimis. Der Schauplatz Montréal war für mich ebenso neu wie der Autor Martin Michaud, und es hat sich gelohnt, beide kennenzulernen.

Der Roman kommt recht düster daher, es ist kurz vor Weihnachten, Zeit der Wintersonnenwende, es ist kalt, es wird früh dunkel und es schneit unaufhörlich in Montréal. Auf die Kollegen und die Kollegin im Dezernat Gewaltverbrechen beim Service de Police municipal de la ville de Montréal (SPVM) kommt eine Menge Arbeit zu, und auf den Leser warten Verbrechen, die ebenso ungewöhnlich wie grausam sind, die explizite Gewalt, die hier hemmungslos ausgeübt und ebenso drastisch geschildert wird, dürfte nicht jedem gefallen.

Gleich drei Tote werden kurz nacheinander aufgefunden: eine emeritierte Professorin, Fachbereich Psychiatrie, erhält eine mysteriöse Nachricht: eine junge Punkerin raunt ihr zu „I didn´t shoot anybody, no Sir!“, den Satz, den der Attentäter nach der Ermordung Präsident John F. Kennedys vor der Untersuchungskommission äußerte. Kurz darauf wird sie entführt und bestialisch hingerichtet. Gleichzeitig erhält ein betagter Anwalt, Teilhaber einer renommierten Kanzlei, eine rätselhafte Warnung und taucht in Panik unter, wobei er eine Akte aus dem Archiv mitnimmt und verschwinden läßt. Aus seinem Autoradio ertönt plötzlich eine Kassette mit der Stimme Lee Harvey Oswalds: „I emphatically deny these charges.“ Dann wird auch er verschleppt und findet einen grässlichen Tod, ebenfalls durch ein mittelalterliches Folterinstrument. Schließlich stürzt sich ein Obdachloser vor den Augen einer Polizistin von einem Hochhaus. Er läßt zwei Brieftaschen zurück, die den beiden Mordopfern gehörten. Bevor er springt, beteuert er: „Ich hätte auch gern Erinnerungen. Die haben mir zu viel am Gehirn rumgemacht. Ich bin nicht mehr richtig im Kopf.“ Es stellt sich heraus, dass er seit langem immer wieder in psychiatrischer Behandlung war, weil er an einer bipolaren Störung erkrankt ist. In seinem Zimmer findet man Papptafeln mit unverständlichen Aufzeichnungen.

Erinnerung ist ein Leitmotiv des Romans, der im Original „Je me souviens“ heißt, Ich erinnere mich. An entscheidenden Stellen der Geschichte wird der Satz mehrfach zitiert. Warum Hoffmann & Campe daraus einen derart sperrigen Titel machte, kann ich nicht nachvollziehen. Rätselhaft auch die Entscheidung des Verlags, mit der Veröffentlichung der bisher fünfteiligen Serie in der Mitte zu beginnen. Die englische Ausgabe, ebenfalls als Thriller beworben, kam unter dem Titel „Never forget“ auf den Markt. Auch in den USA startete die Reihe mit diesem dritten Band. (Allerdings mit einem Vorwort des Autors, in dem er kurz zusammenfasst, „Was bisher geschah“). Auf seiner Website empfiehlt Michaud allerdings, seine Bücher in der Reihenfolge ihrer Entstehung zu lesen, um die Entwicklung seiner Figuren verstehen zu können. In der deutschsprachigen Version fehlen solche Hilfen zum Verständnis, hier bleibt der Leser mit Andeutungen allein, die Michaud hin und wieder ohne Erläuterung in den Text einbaut und die deshalb rätselhaft bleiben. Eine Fernsehserie nach seinen Romanen, für die Michaud die Drehbücher schrieb, wurde mit 10 Episoden der ersten Staffel auch mit „Je me souviens“ begonnen. Dem Vernehmen nach hat das ZDF die Rechte an der Serie gekauft.

In einem fast philosophischen Vorwort klingt das Kernthema bereits an:

„Was was ist wirklich wichtig? Was ich bin oder das Bild, das ich von mir habe? Was in meinem Leben geschieht oder die Vorstellung, die ich mir davon mache? Ich bin nur ein Nichts, eine Abstraktion. Ich bin nichts von dem, was ich geglaubt habe zu sein. Ich bin ohne Identität.“

Die Frage nach der eigenen Identität treibt auch den Hauptdarsteller der Krimireihe um. Das ist Sergent-Détectiv Victor Lessard (in Kanada erscheint die Serie unter dem Titel „Une enquête de Victor Lessard“), ein Polizist, dem der Autor einige schwere Lasten aufgebürdet hat. Er hat früh seine Familie unter entsetzlichen Umständen verloren und lebte als Jugendlicher in verschiedenen Heimen, immer wieder auch auf der Straße, bis ein schwules Paar ihn aufnahm. Nach einer schweren Verletzung bei einem Einsatz verfiel er dem Alkohol, stürzte in eine Depression. Die Ehe zerbrach. Er ist Alkoholiker, seit kurzem trocken aber ständig in Versuchung, wieder zur Flasche zu greifen. Er schafft es auch nicht, mit dem Rauchen aufzuhören. Gerade kommt er aus der Reha, leidet unter PTBS und einigen Phobien, zum Beispiel einer Angststörung und muss deshalb häufig zu Medikamenten greifen. Der ständig gereizte Neurotiker neigt zu Stimmungsschwankungen,zu Schwermut und Wutausbrüchen. Manchmal grübelt er, ob er sich vor dem fürchten sollte, was aus ihm geworden ist.

Der einen Meter neunzig große Mittvierziger achtet auf seine Ernährung, die athletische Figur verdankt er regelmäßigen Besuchen im Fitness-Studio. Victor ist eitel, aber trotz seines schwierigen Charakters bringt man ihm einige Sympathien entgegen, weil er immer wieder an Körper und Seele verletzt wird und sich trotzdem wieder aufrappelt. Gerade hat er die Hoffnung, dass sich alles endlich zum Guten wendet. Er lebt seit ein paar Monaten in einer Beziehung mit einer jungen, höchst attraktiven Kollegin. Seither schwebt er auf Wolke sieben. Aber auch dieses Glück scheint er zu zerstören: Weil er wieder einmal ausrastet, verletzt er seine Geliebte tief, die Beziehung scheint unwiderruflich beendet. Grund ist sein Sohn, der der wieder einmal in Schwierigkeiten steckt. Er war immer schon ein Problemkind, und Victor macht sich Vorwürfe, dass er über seine Fürsorge für ihn die Tochter vernachlässigt hat.

Seine Partnerin Jacinte Taillon, 40, ist seit 20 Jahren mit Ehefrau Lucille verheiratet. Michaud definiert sie praktisch ausschließlich über ihr Äußeres und porträtiert sie sehr unvorteilhaft, ja unattraktiv. Weiche Gesichtszüge, kurze Haare, Fettpolster, allergisch gegen Make-up. Ständig stopft sie irgend etwas in sich hinein, bei jeder Gelegenheit hat sie eine Chips- oder Donuts-Tüte in der Hand. Bis auf solche Klischees erfahren wir wenig über sie, eine Vergangenheit scheint sie überhaupt nicht zu haben, in der Gegenwart erleben wir „die dicke Taillon“ als Zicke. Sie ist zynisch bis boshaft, spöttisch bis verletzend, ihren Partner provoziert sie wo es geht mit diebischem Vergnügen. Sie besitzt kein Einfühlungsvermögen, ist taktlos und ungehobelt und gerne einmal vulgär. Darüber hinaus erweist sie sich als wenig teamfähig. Ständig boykottiert sie den Fortgang der Ermittlungen, indem sie den Theorien ihrer Kollegen widerspricht und deren Erkenntnisse ins Lächerliche zieht, rechthaberisch nur ihre eigenen Theorien gelten lässt.

Immerhin zeigt sie, wenn Victor ernsthaft in Schwierigkeiten steckt oder wieder einmal bei einem Einsatz einstecken muss, menschliche Regungen und scheint sich echt zu sorgen um ihren Partner. Man kann aber nicht behaupten, dass Victor und Jacinthe harmonieren, im Gegenteil. Ständig streiten die beiden, selbst über Kleinigkeiten. Aber auch wenn er wieder einmal bis zur Weißglut gereizt wird, bleibt Victor loyal. Wenn es die Situation erfordert, arbeiten die ungleichen Partner sogar erfolgreich zusammen und in brenzligen Situationen können sie sich aufeinander verlassen. Allerdings sind Jacinthes Methoden nicht immer im Einklang mit den Dienstvorschriften, da wird schon mal ein Zeuge „eingeschüchtert“ oder es geht eine Tür zu Bruch. Im Einsatz kann sie Victor gewöhnlich nicht folgen und schnauft hinter ihm her. Sobald sie aber am Steuer sitzt, ist sie von allen guten Geistern verlassen. Praktisch jede Autofahrt wird zu einem Rennen, Jacinthe drückt das Gaspedal immer bis auf die Bodenplatte durch und rast in unverantwortlicher Weise durch die Stadt.

Victor läßt sich durch das Gebaren seiner Kollegin nicht aus dem Konzept bringen, er bleibt seiner Linie treu und gibt die Richtung vor, in die ermittelt wird. Und er hat dabei meist das richtige Gespür, auch wenn er mitunter in einer Sackgasse landet oder Umwege gehen muss. Schritt für Schritt kommt man der Lösung näher, auch wenn dabei mehrmals der Zufall helfen muss. Nach und nach können die Ermittler die kryptischen Kritzeleien des Obdachlosen entschlüsseln und gewinnen so wichtige Hinweise auf Geschehen in der Vergangenheit, in denen offensichtlich der Ursprung für die gegenwärtigen Verbrechen liegt. Sind sie dem Rachefeldzug eines Opfers von menschenverachtenden Experimenten der CIA auf der Spur? Der tote Obdachlose war, so stellt sich heraus, Teil des so genannten MK ULTRA-Projekts, bei dem CIA und militärische Einrichtungen bis in die siebziger Jahre mittels Versuchen an Menschen Methoden der Bewusstseinsmanipulation erprobten.

Vincent und Jacinthe recherchieren in diese Richtung, verfolgen aber auch andere Spuren, sammeln unermüdlich belastende Hinweise und haben bald mehrere Verdächtige im Visier, einige Theorien, aber keine Beweise. Und dann gibt es weitere Leichen, neue brutale Gewalt. Jacinthe darf sich eine rasante Verfolgungsjagd mitten im Stadtzentrum liefern, mit katastrophalem Ergebnis. Wieder stehen die Ermittler mit leeren Händen da. Vincent geht hartnäckig auch Ansätzen nach, die von den Kollegen als abwegig betrachtet werden. Rückendeckung bekommt er aber von seinem Chef. Der hat selbst einen privaten Schicksalsschlag zu verkraften, führt aber seine Dienstgeschäfte umsichtig und gewissenhaft. Zu seinen Mitarbeitern ist er freundlich, aber streng. Er erwartet Disziplin, stellt sich aber immer hinter seine Leute, wenn es Schwierigkeiten gibt. Auch Victor kann auf ihn zählen, sogar eine Reise nach Dallas wird genehmigt, als er einen Zeugen zu den Umständen der Ermordung Kennedys befragen will. Einige vage Anhaltspunkte lassen eine Verbindung von mehreren ihrer Verdächtigen mit dem Attentat von 1963 möglich erscheinen. Immerhin bekommt Victor mehrere Hinweise, die seine Spekulationen in Bezug auf die aktuelle Mordserie stützen. Dass Michaud hier die alte Verschwörungstheorie aufgreift und in seine Geschichte integriert, nach der es ein Mord-Komplott mit mehreren Tätern gab, ist nicht nur sehr weit hergeholt, sondern für das Funktionieren des Plots auch absolut entbehrlich.

Montréal, Michauds Heimatstadt, spielt in seinen Romanen um Sergent-Détectiv Lessard eine eigene, wichtige Rolle. Die Topographie der Metropole am Fleuve Saint-Laurant, die mit viel Liebe zum Detail beschrieben wird, trägt wesentlich zur Stimmung bei, natürlich auch durch die besondere Atmosphäre der winterlichen Tristesse. Michaud hat sich zudem einige höchst eindrucksvolle Schauplätze ausgedacht, die er effektiv in Szene setzt. Aber Lessard ist auch auf den Straßen, Plätzen und Boulevards in unterschiedlichen Vierteln unterwegs und zeigt uns, in welche Läden man geht und welche Kneipen angesagt sind. Michaud erwähnt einige Male Sänger und Sängerinnen und gibt Zeilen aus ihren Liedern wieder, er berichtet, welche Hockeymannschaften unterstützt werden und für welche Baseball-Teams man schwärmt, er zitiert einen angesagten Dichter und sein einflussreiches Werk sowie dessen Schlüsselrolle in einem richtungsweisenden Film. Kurzum, wer will, erfährt aus erster Hand eine Menge Interessantes über das Alltagsleben in der Provinz Quebec. Es lohnt sich, ein wenig Geduld aufzubringen und sich auf diese Randbemerkungen einzulassen, auch wenn sie das Tempo aus der ansonsten flott vorgetragenen Mördersuche nehmen und kurzfristig ablenken.

Mehrfach bettet Michaud unvermittelt und scheinbar willkürlich Rückblicke auf politische Ereignisse der jüngeren Geschichte Québécs ein, die nur sehr lockere Berührungspunkte mit dem Kriminalfall haben. Es geht dabei um die Bemühungen der Québécois um Unabhängigkeit von anglophoner Dominanz, um die Sehnsucht nach eigener Identität, um das Verlangen, das politische und kulturelle Leben mitzugestalten. Michaud thematisiert einige Eckpunkte, ohne sie zu kommentieren oder zu bewerten. Das deutsche Publikum darf getrost über diese Details hinweglesen, für die Krimihandlung sind sie nicht relevant. Es lohnt sich natürlich dennoch, den einen oder anderen Fakt nachzuschlagen und sich mit Kultur und Geschichte der Frankokanadier zu beschäftigen. Dann erfährt man, dass das Motto „Je me souviens“ auch das Wappen der Provinz Québéc ziert, es wurde zudem beim Bau des Parlaments über dem Eingang eingemeißelt. Und schließlich prangt der Slogan auf jedem Kfz-Kennzeichen.

Die dicke Schwarte von 640 Seiten erfordert viel Kondition um, bei der Stange zu bleiben, und erst recht Konzentration und ein gutes Gedächtnis, um im Wirrwarr der Handlungsfäden den Überblick zu behalten und die schier unendliche Zahl der Handelnden Personen über einen langen Zeitraum und auf verschiedenen Ebenen richtig zuordnen zu können, die noch dazu mal mit ihrem Vornamen, mal mit Nachnamen, dann wieder mit einem Spitznamen oder auch nur ihrer Funktion angesprochen werden. Manche tauchen auf und gleich wieder ab, manche spielen nur eine kleine Rolle oder gar keine, aber alle werden detailliert, lebendig und anschaulich beschrieben, wenn auch oft hauptsächlich über ihr Äußeres.

Der Plot folgt einem sorgfältig geplanten Aufbau: Fünf größere Abschnitte, 95 kurze Kapitel, zum Teil scheinbar willkürlich eingeteilt, vertrackt verschachtelt und raffiniert miteinander verbunden. Die Kapitel lassen sich zeitlich sehr gut einordnen, Datumsangaben erleichtern den Überblick im sprunghaften hin und her und vor und zurück. Es dauert, bis die unterschiedlichen Erzählstränge etabliert sind, und dann braucht es lange, bis das unübersichtliche Gestrüpp all der Handlungsfäden entwirrt ist und neu verknüpft zu einer stimmigen Geschichte, die mit einer sehr gelungenen Auflösung der verschiedenen Rätsel endet.

Dabei bewegt sich die Erzählung meist auf sprachlich hohem Niveau. Der Stil ist nüchtern, präzise, mit stimmigen, einfallsreichen, manchmal poetischen Bildern. Aber dann landet man plötzlich bei grauenhaften Plattitüden, sich wiederholende Allgemeinplätzen, einem hölzernen, holprigen, unbeholfenen Schreibstil, der irritiert und das Lesevermögen einschränkt. Geschuldet ist dies einer für mich unverständlichen Entscheidung des Verlages, zwei Übersetzer zu beschäftigen. Während das Unterfangen in einem Teil des Romans offenkundig trefflich gelungen ist, scheiterte die Arbeit im anderen mehr oder weniger kläglich, zudem ärgern etliche Fehler.

Victor und Jacinthe tun sich schwer mit ihren Ermittlungen im Gestrüpp der undurchsichtigen Verbindungen. Immer wieder gibt es unvorhergesehene Volten und damit neue Mutmaßungen, die bald wieder verworfen werden. Entscheidende Erkenntnisse bringt schließlich die Akte, die Lawson verschwinden ließ. Als sich eine weitere Entführung ereignet, läuft Victor und Jacinthe die Zeit weg. Bis sie endlich das Versteck der Geisel ausmachen können, ist es schon fast zu spät.

Die angekündigte „Sensation“ ist der Roman nicht, aber grundsolide, gut geschriebene Krimiunterhaltung, an der ich nicht viel zu kritisieren habe. Vier Sterne für diesen Band der Lessard-Reihe. Zwei weitere Folgen sind noch für dieses Jahr angekündigt, aber ich werde erst dann wieder zu Michaud greifen, wenn seine ersten beiden Krimis auf Deutsch erscheinen.

 

Foto & Rezension von Kurt Schäfer.

Aus dem Schatten des Vergessens | Erschienen am 05. November 2020 im Verlag Hoffmann & Campe
ISBN 978-3-455-01007-7
640 Seiten | 16,90 €
Originaltitel: Je me souviens (Übersetzung aus dem kanadischen Französisch von Anabelle Assaf und Reiner Pfleiderer)
Bibliografische Angaben